Lovecraft und der Rassismus

  • Das ist er definitiv. Ich glaube, niemand zweifelt an der Tatsache, dass Lovecraft massiv ressentimentgetrieben war und sich maximal selektiv aus dem Fundus der damaligen Wissenschaften bediente. Für Rassisten übrigens ein regelrecht charakteristisches Verhalten, folgt man der entsprechenden Sozialforschung Albert Memmis. Es ging mir aber auch nicht darum, Lovecrafts Äußerungen dahingehend abzuklopfen, sondern die theoretische Grundlage allgemein daraufhin zu prüfen.


    Das scheint mir eine ertragreiche Vorgehensweise zu sein, auch wenn man natürlich nur spekulieren kann. Seine teils geradezu obsessive Ablehnung von Menschen anderer Herkunft könnte auch teil einer aus jugendlicher Unsicherheit resultierender Psychose gewesen sein. Diagnostische Ideen für Lovecrafts Zustände finde sich sicherlich viele.

    Wo siehst Du denn da eine Psychose?

  • Wo siehst Du denn da eine Psychose?

    Weiß ich nicht mehr, wie ich vor Jahren auf die Idee kam, diesen Begriff zu gebrauchen. Ich vermute, ich dachte an Stellen in Briefen und Schilderungen von Sonja, die mich an wahnhaften Realitätsverlust denken ließen. Bloße Spekulation meinerseits.

  • Reine Neugier meinerseits, da ich seit einiger Zeit nebenher ein Fernstudium in Psychologie mache.

    Letztlich ist es natürlich möglich, aus den Indizien eine Psychose herzuleiten. Aber eine Diagnose aufgrund von Briefen und Erinnerungen dritter, die womöglich unzuverlässig sind, ist eher schwer. Gerade wenn man bedenkt, dass Sonia als Jüdin Antisemitismus u. U. auch persönlich genommen hat (was verständlich ist), muss man auch die Möglichkeit einbeziehen, dass sie die Äußerungen schlimmer wahrgenommen hat, als sie eigentlich waren. Nicht, dass ich das in Lovecrafts speziellen Fall zwangsläufig glaube. Aber das ist so ein Fallstrick, der eine Diagnose erschwert.

    Ich glaube, dass man der Sache von der entwicklungspsychologischen Warte tatsächlich näher kommt. Weiter oben hat das ja bereits jemand erwähnt. Hier wäre dann z. B. interessant, welche politischen Ansichten Lovecrafts Mutter und seine Tanten vertraten.

  • Darüber diskutieren kann man sicherlich. Man sollte - muss - dann halt klarstellen, dass man spekuliert und eine möglichst fundierte Begründung liefern. Zumindest als Psychologe. Bei einem Laien muss es natürlich nicht so fundiert sein. Aber auch dann muss man klarstellen, dass man nur vermutet und spekuliert.

    Die entwicklungspsychologische Perspektive hat es da leichter, da es nicht um eine Diagnose geht. Oder zumindest nicht gehen muss. Hier steht die Erklärung eines Verhaltens im Vordergrund. Die stützt sich dann auf die Informationen, die man z. B. aus Lovecrafts Briefen herauslesen kann. Da gibt es dann verschiedene Ansätze (z. B. tiefenpsychologisch, behavioristisch etc.). Zusätzliche Informationen zu seiner Mutter und den Tanten wären dabei wiederum hilfreich. Allen voran welche politischen Auffassungen sie vertraten. Dann kommt man der Sache u. U. schon mit der sozial-kognitiven Lerntheorie nahe. Allerdings wird man eingedenk des ambivalenten Verhaltens der Mutter wohl nicht um eine tiefenpsychologische Betrachtung herumkommen. Aber es spricht natürlich auch nichts dagegen, mehrere Ansätze auszuarbeiten.

  • Dabei sollte man auch nicht den Kontext seiner Zeit vergessen, der wahrscheinlich doch in diesem Zusammenhang der prägendste Einfluss ist? In den Werken vieler anderen zeitgenössischen Autoren (wohlgemerkt des Mainstreams) entdecke ich jedenfalls oft offenere Hinweise auf rassistische Einstellungen als bei Lovevraft. Zumindest was das fiktionale Werk angeht...

  • Dabei sollte man auch nicht den Kontext seiner Zeit vergessen, der wahrscheinlich doch in diesem Zusammenhang der prägendste Einfluss ist? I

    Natürlich. Das gehört dann zu den Sozialisationsbedingungen. Am prägendsten ist jedoch das direkte Umfeld. Man kann also durchaus davon ausgehen, dass Mama Lovecraft und die Tanten im besten Fall konservativ waren. Wäre er in einem eher liberalen Haushalt aufgewachsen, hätte er viele dieser Ansichten sehr wahrscheinlich nicht gehabt.

    • Offizieller Beitrag

    Hallo zusammen,

    ich bin gerade hierüber gestolpert, kann aber den Quellengehalt noch nicht einschätzen. Das ist die Abschrift von HPLs letzten Briefen, in denen er u. a. auch über seine Ansichten reflektieren soll.

    https://github.com/punchmonster/L…rine-L-Moore.md

    Zitat

    Well—I can better understand the inert blindness & defiant ignorance of the reactionaries from having been one of them. I know how smugly ignorant I was ...

    I managed to get through, after about 10 closely typed pages of egotistical reminiscences & showings-off & expressions of opinion about mankind & the universe. I did not faint—but I looked around for a 1924 photograph of myself to burn, spit on, or stick pins in! Holy Hades—was I that much of a dub at 33 ... only 13 years ago? There was no getting out of it—I really had thrown all that haughty, complacent, snonbish, self-centered, intolerant bull, & at a mature age when anybody but a perfect damned fool would have known better! That earlier illness had kept me in seclusion, limited my knowledge of the world, & given me something of the fatuous effusiveness of a belated adolescent when I finally was able to get out more around 1920, is hardly much of an excuse.

  • Danke für den Hinweis, ich hatte diesen Brief nicht auf dem Schirm, von daher: kein kalter Kaffee. :) Wobei ich auch an einer Quellenangabe interessiert wäre.

    Wäre sicherlich einer öffentlichen Vorstellung und Einschätzung wert; entweder im LC online oder auch gerne einmal in einer Printausgabe.

  • Mittlerweile müsste der Brief in diesem Band enthalten sein:

    H. P. Lovecraft. Letters to C. L. Moore and others, Hippocampus Press (2017)

    Jedenfalls scheint der Schrieb denjenigen, die leidenschaftlich gegen Lovecrafts Borniertheit wettern, nicht bekannt zu sein. Das kann man sich sparen – er hat es ja in den letzten Wochen seines Lebens selbst getan …

    In diesem Blog-Post schreibt Bobby Derie etwas zum gegenseitigen Briefwechsel:

    Her Letters to Lovecraft: Catherine Lucille Moore

  • Wäre sicherlich einer öffentlichen Vorstellung und Einschätzung wert; entweder im LC online oder auch gerne einmal in einer Printausgabe.

    ...also, ich bin jetzt kein echter "Profi" in HPLs Biographie (beileibe nicht), aber wenn sich tatsächlich so selbstläuternde Worte in seinem späten Briefverkehr wiederfinden (und das plausibel belegbar ist), dann dürfen wir das ruhig einmal sagen - und dann in meinen Augen auch auf beiden Kanälen. Denn das wäre dann ja tatsächlich ein sehr wenig beachteter Aspekt HPLs des Menschen.

  • Hallo,

    nun hab ich es endlich mal geschafft, mir den ganzen Brief und den Kontext anzusehen.

    Dieser Brief taucht natürlich auch in H. P. Lovecraft: Letters to C. L. Moore and Others. Hippocampus 2017 auf Seite 205 bis 224 auf.

    Der Brief ist natürlich relevant. Es kommt aber auf den genauen Bezug an. Hier gibt Lovecraft vor allem an, dass er von seinen früheren Ansichten abgerückt ist. Jedoch spricht er hier vor allem über sein allgemeines Politikverständnis. Er spricht davon, dass er nun kein Vertreter der Laissez-faire-Politik mehr ist und sich eher demokratisch verortet. Hier kommt eine gewisse Kapitalismuskritik zum tragen.

    Interessanter ist hier für mich dieses Zitat:

    Zitat

    The only way the handful of defeated greed-worshippers could ever regain power would be through a shrewdly organised fascist movement based on primitive emotional appeals of the religio-hysteric type(waving the flag, rousing nominal Christians against "Jewish intellectualism", exciting native-Americans against "Catholic-Irish-Jewish [or whatever foreign element predominates in any particular section] democracy", exciting Catholics against "materialistic communism", exciting provincial pride against "decadent European innovations" &c. &c.), or through an armed revolt with foreign backing like that of Gen. Franco in Spain. Granting the scant probability of a Franco-like revolt of the Hoovers & Mellons & polite bankers, & conceding that—despite Coughlinism, the Black Legion, the Silver Shirts, & the K.K.K.—the Soil of America is hardly very fertile for any variant of Nazism, it seems likely that the day of free & easy plutocracy in the United States is over. It has taken the people generations to discover how they have been fooled;

    Anschließend äußert er seine Sicht auf den Konflikt der Zukunft:

    Zitat

    The real issues of tomorrow lie betwixt the adherents of a controlled capitalism (Roosevelt; La Follette) which may or may not [it probably will, though present liberals deny it] evolve into rational socialism, & the adherents of a sudden violent move towards some form of orthodox Marxian communism. A tremendous amount of the best thought of the younger generation is on the side of a communist move since sociologists of a certain type believe that the abstractionist element of the dying order will always form a fatal barrier to permanent progress unless violently deprived of mischief-making opportunities. I, however, do not agree with this position; for I believe that a slow, peaceful revolution in thought & perspective is already under way amongst the majority, so that the obstructive reactionaries will never gain more than the horse-laugh which they gained last November. They will be a nuisance & drag, but hardly a danger—& meanwhile it is the part of wisdom to choose a peaceful & gradual evolution instead of a culturally destructive upheaval.

    Dennoch würde ich in zwei Punkten vorsichtig sein.

    Zum einen darf man meiner Meinung nach nicht zu viel in Lovecraft hineininterpretieren. Durch diese Zitate wird Lovecraft noch kein "Sozialdemokrat des 21. Jahrhunderts". Natürlich ist da ein gewaltiger Sprung von "The Crime of the Century" [1915] oder "On the Creation of N[...]" [1912] zu diesem New Dealer, aber wir sollten immernoch in historischen Begriffen und Dimensionen sprechen.

    Zum anderen adressiert er hier seinen früheren Rassismus nicht direkt. Ja, er verurteilt Gruppen wie den K.K.K. oder die Silver Shirts, aber wie wir wissen, war Lovecrafts Rassismus nie aktionistisch. Er hat nie dazu aufgerufen Gewalt zu verüben, demnach glaube ich, dass Gruppen wie der K.K.K. oder die Silver Shirts ihm auch zuvor in ihrem Aktionismus zuwieder waren.

    Also denke ich, dass dieser Brief viel über Lovecrafts Wandel sagt, aber er ist eben kein Allheilmittel in der Diskussion um Lovecrafts Rassismus. Sonst hätte ja Joshi nur diesen Brief zitieren müssen und der World Fantasy Award würde heute noch Lovecrafts Konterfei tragen.

    “I couldn’t live a week without a private library – indeed, I’d part with all my furniture and squat and sleep on the floor before I’d let go of the 1500 or so books I possess.”
    H.P. Lovecraft in einem Brief vom 25. Februar/1. März 1929 an Woodburn Harris

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