Verbotene Texte

Eine Stellungnahme zu Lovecrafts problematischer Weltanschauung und ihres Einflusses auf das Werk

Autor: René Porschen et al., Korrektorin: Liane Kaiser, Lektorin: Rahel Sixta Schmitz, 2022


Zitat von S.T. Joshi, A Subtler Magick

Es ist definitiv nicht der Fall, dass die Lovecraft-Studien jemals einen Zustand der Vollständigkeit erreichen werden, oder sollten, und selbstverständlich kann man darauf hoffen, dass sein Leben, sein Werk und Denken beständiger Gegenstand der Reinterpretation bleiben.


Howard P. Lovecraft as depicted by Gahan Wilson (CC BY-NC-ND 2.0); Quelle: Flickr


Zitat von Der Ruf des Cthulhu, H. P. Lovecraft (1926)

Ich glaube, die größte Barmherzigkeit dieser Welt ist die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, alles sinnvoll zueinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer friedlichen Insel der Ahnungslosigkeit inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es war nicht vorgesehen, dass wir diese Gewässer weit befahren sollen. Die Wissenschaften steuern alle in völlig verschiedene Richtungen und sie haben uns bislang nur wenig Schaden zugefügt, doch eines Tages wird uns das Aneinanderfügen einzelner Erkenntnisse so erschreckende Perspektiven der Wirklichkeit und unserer furchtbaren Aufgabe darin eröffnen, dass diese Offenbarung uns entweder in den Wahnsinn treibt oder uns aus der tödlichen Erkenntnis in den Frieden und den Schutz eines neuen dunklen Zeitalters flüchten lässt.

Diese Worte zu lesen ist, als würde man Zeuge der Geburtsstunde der modernen Horrorliteratur werden: H. P. Lovecrafts Der Ruf des Cthulhu (orig.: Call of Cthulhu, 1926/28) ist zweifelsohne eine der faszinierendsten Erzählungen des 20. Jahrhunderts; wenn nicht eine der faszinierendsten Horrorgeschichten überhaupt. Insbesondere in der englischsprachigen Literatur gehört er – neben Edgar Allan Poe und Stephen King – zu den berühmt-berüchtigten Namen.

In der heutigen Gesellschaft scheint es, als könnte man eine neutrale Meinung weder zu den Werken Lovecrafts noch zu seiner Person haben. Man kann sein literarisches Erbe, das das Genre der ‚weird fiction‘ maßgeblich popularisiert hat, lieben. Man kann es aber auch verachten, ob der zahlreichen rassistischen Ressentiments, die Lovecrafts Denken in weiten Teilen bestimmten und die er deutlich in seine Texte eingewoben hat.

Man kann aber auch eine dritte Position wahrnehmen: eine kritische Position, die weder das Werk verdammt, noch die Person überhöht. Man kann sich an der komplexen Struktur und Dynamik des ‚Mythos‘ nicht nur berauschen, man kann sie auch produktiv reflektieren und dabei einen gänzlich neuen, frischen Blick auf das Werk erhalten. Der Zwiespalt zwischen literarischer Bewunderung und rassismuskritischer Reflektion wird auch in der Deutschen Lovecraft Gesellschaft stark diskutiert und bildet an dieser Stelle die Grundlage einer kritischen Stellungnahme zu Lovecrafts eigenen Einstellungen und ihrer Repräsentation im Werk.

Gentleman. Konservativer. Rassist.

Auch dieser Text stammt von Lovecraft. On the Creation of N* ist ungefähr fünfzehn Jahre älter als Der Ruf des Cthulhu; der ‚Visionär des kosmischen Horrors‘ war bei der Veröffentlichung gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. Und so drängt sich den Lesenden vielleicht der Gedanke auf, dass diese furchtbar rassistische Wortspielerei ein ekelhafter Extremfall politischer und moralischer Verwirrung sein könnte. Eine, die im Gesamtwerk keine wirkliche Relevanz besitzt und die der Autor Jahre später gerne als aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt sehen würde. Doch dem ist nicht so. Von Das Grauen von Red Hook (1927) bis Kühle Luft (1927); von Der Ruf des Cthulhu (1926) bis Die Ratten im Gemäuer (1923); sowohl literarische Fiktion als auch persönliche Korrespondenzen tragen deutliche Zeichen von Lovecrafts rassistischen Ansichten, sodass es beinahe unmöglich scheint, diese von Werk und Wirken zu trennen.

Die diesem Text vorliegende Fassung des Schmähgedichtes ist zensiert. Wenn es um rassistische Äußerungen gegenüber People of Color geht, können sich wohl alle ausmalen, mit welcher Formulierung der Autor sein Schmähgedicht hat schließen wollen und es gibt – außer der rassismuskritischen Beschäftigung – keinen wirklichen Grund, diesen Text unredigiert zu belassen. Literatur ist nicht heilig. Sie ist symptomatisch.

Howard Phillips Lovecraft war Rassist, Antisemit und homophob.

Viele seiner problematischen Ansichten kommen in Lovecrafts Briefen ungefiltert zum Vorschein. In einem Brief an August Derleth aus dem Jahre 1933 stellt er Homosexualität mit Pädophilie gleich und betont, dass dieser „abnorme Verkehr“ für den Großteil der Menschheit ekelerregend sei; zugleich fand er in den homosexuellen Männern Robert H. Barlow, Hart Crane und Samuel Loveman gute Freunde. An Clark Ashton Smith schreibt Lovecraft 1934 gönnerhaft, dass er die wachsende Emanzipation der Frau nicht unbedingt schlecht fände und dass ihre gesellschaftliche Unterordnung ein künstliches Konstrukt sei; im gleichen Zug betont er: „The feminine mind does not cover the same territory as the masculine, but is probably little if any inferior in total quality.“ Zu Deutsch: “Der weibliche Geist deckt nicht die gleichen Bereiche ab wie der männliche, doch ist er in seiner Qualität diesem höchstwahrscheinlich kaum oder gar nicht unterlegen.“ Dann wäre da natürlich noch die Tatsache, dass Lovecraft sich immer wieder antisemitisch äußerte – und die einzige Frau, mit der er je verheiratet war, Jüdin war.

All diese Beispiele zeigen: Lovecraft war und ist polarisierend und paradox. Seine Ansichten sind noch lange nach seinem Ableben provozierend. Sein Utopia, so betonte er selbst in einem seiner zahlreichen Briefe, war das eines „sozialistischen Faschismus“ und selbst die rassistischen Wahnvorstellungen der Nazis ließen ihn nicht von seinem Hass absehen, den manche Expert*innen als demagogisch beschreiben. Lovecrafts Rassismus hat den Charakter eines Tabus. Der Umstand, dass er eigentlich nicht gerne besprochen, nicht gerne als elementarer Teil seines Lebens, Denkens und Schreibens identifiziert wird, und manche Lovecraft-Fans dieses Thema mit einem entnervten Augenrollen wegblinzeln, macht dieses Tabu umso offensichtlicher und aufdringlicher. Es ist dieses historische Erbe, das die Deutsche Lovecraft Gesellschaft mit einer besonderen Verantwortung ausstattet, wenn es darum geht, sich zu fragen, welchen Stellenwert verletzende Sprache und marginalisierende Figurenkonstruktionen in der Literatur haben und wie wir damit umgehen können.

Wir lesen On the Creation of N* ein erstes Mal und wenden uns gleich angewidert ab. Man kann das, was hier auf das Papier geworfen wurde, kaum als Belletristik – schöne Wortkunst – bezeichnen. Wir lesen es ein zweites Mal und können diesen Text vielleicht in seinen biografischen Kontext setzen. Das entschuldigt oder rechtfertigt ihn keinesfalls, kann aber nachvollziehbare Erklärungen liefern für den giftigen Chauvinismus eines oft vereinsamten, oft verängstigten, oft frustrierten, ohnmächtigen und zornigen Mannes, den Houellebecq wohl als einen ‚am Leben Gescheiterten’ bezeichnen würde. Und der dann, wie viele Menschen heutzutage, eine Projektionsplattform für seinen Hass und seine Ängste gesucht hat, an der er sich auch literarisch abarbeiten konnte.

„Das war damals halt so!“ - Kontext und Bagatelle.

Dass die (post)koloniale Geschichte eine ist, die mit rassistischer Ausbeutung und deren Aufarbeitung in Zusammenhang zu bringen ist; dass amerikanische Geschichten nicht ohne amerikanische Geschichte gedacht werden können, ist nicht zu verleugnen. Doch haben wir es hier weder mit einem exklusiv amerikanischen, noch mit einem exklusiv historischen Problem zu tun. Denn auch wenn Lovecraft Anfang des 20. Jahrhunderts in Providence lebte und schrieb, gelesen wird er heute überall auf der Welt.

Auch wenn bezweifelt werden kann, dass eine Person durch die Lektüre unheimlicher Literatur rassistisches Denken bewusst adaptiert, so neigt die unreflektierte Wiederholung sprachlicher Muster, Formulierungen und sinnhafter Konstruktionen (wie wir sie in der Literatur auffinden) dazu, gewisse Denk- und Ordnungsmuster zu normalisieren, fortzuschreiben und schließlich zu fixieren.

Der russische Philologe Jurij M. Lotmann schreibt hierzu: „Durch ihre Struktur übt [die Sprache] eine gewaltige Wirkung aus auf die Psychik des Menschen und auf viele Bereiche des sozialen Lebens“ (Lotmann 1989, 23). Diese Bereiche des sozialen Lebens lassen sich nicht historisch oder räumlich isolieren. Über Lovecrafts Schreiben haben diejenigen Ressentiments ihren Weg zu uns und in hunderte andere Kultur- und Sprachkreise gefunden, die angeblich in den konservativen Vorstädten Amerikas um die Jahrhundertwende einst als ‚normal‘ galten.

Dass derartige Xenophobie tatsächlich ‚normal‘ war, ist im Übrigen stark zu bezweifeln, denn hätten dem alle Menschen zugestimmt, hätte sich seitdem kaum etwas geändert. Auch musste Lovecraft sich bereits zu seinen Lebzeiten mehrfach für seine extremen Ansichten verteidigen. Xenophobie mag zu Lovecrafts Lebzeiten salonfähiger gewesen sein; normal war sie keineswegs.

Wir müssen uns fragen, ob wir solche Verklärungen oder Tabuisierungen – Aussagen wie: „Das war eben damals die Zeit. Das gehörte zum guten Ton.“ – wirklich als Rekurs auf eine konservative Kleinstadtpathologie identifizieren wollen. Denn Rassismus marginalisiert, verletzt und tötet. Damals wie heute.

Fiktionales Werk. Reale Konsequenzen.

Zitat von Nnedi Okorafor, 14. Dezember 2014

Das war nicht die Art von Rassismus, die ihre hässliche Fratze metaphorisch oder abstrakt durch irgendein fiktionales Werk streckt; das war spezifisch und fokussiert.

Bis 2016 war Lovecrafts Konterfei die Büste des jährlich verliehenen World Fantasy Awards (WFA). Die nigerianisch-amerikanische Science Fiction-Autorin Nnedi Okorafor hatte den ‚Howard‘, wie man die Büste bis dahin liebevoll nannte, für ihren Roman Wer fürchtet den Tod? (2017; orig. Who fears death? 2011) gewonnen. Nachdem ein Freund sie auf das Gedicht Lovecrafts aufmerksam gemacht hatte, konnte sie sich aus offensichtlichen Gründen hierüber nicht mehr freuen. Die tiefe Verletzung, die sie beim Lesen dieser Zeilen empfand, führten schließlich zu einer öffentlichen Diskussion, die nicht nur die Gestaltung des Preises nachhaltig beeinflusste, sondern auch für eine neue Sichtbarkeit marginalisierter, d.h. unterdrückter Ethnien und Identitäten im Betrieb der phantastischen Literaturen im Allgemeinen sorgte.

Was nun On the Creation of N* betrifft, scheint es, als ließe sich die Position einer eindeutigen Trennung zwischen Autor und Text, wie sie einst an den Universitäten gefordert wurde, hier gerade nicht so kompromisslos durchhalten. Die Ähnlichkeiten zu dem, was er in seinen Briefen äußerte, sind zu frappant.

Dieses Gedicht soll verletzen, es soll verunglimpfen. Es emanzipiert sich nicht von den persönlichen Fehlern des Autors und fixiert andere Menschen auf selbige. Es stimmt eins zu eins mit den inakzeptablen Rassismen eines Menschen zusammen, dessen literarisches Erbe zu den reichweitenstärksten und damit sozial wirksamsten überhaupt gehört – insofern ist die kritische Beschäftigung mit der Person Lovecrafts, seinen Ansichten, Vorurteilen und vor allem der Sprache seiner viel gelesenen Werke keine Frage der biografischen oder literaturhistorischen Forschung, sondern eine Frage der sozialen Verantwortung gegenüber Mensch und Mythos.

Es kann nicht darum gehen zu fragen, ob Meisterwerke wie Der Ruf des Cthulhu rassistisch sind, weil Lovecraft es war, sondern wie wir kritisch mit bestimmten Äußerungen in Literatur umgehen.

Kritisches Lesen. Reflektiertes Lesen.

Etwas zu kritisieren, bedeutet nicht, etwas zu verwerfen, sondern vielmehr nach bestimmten Maßstäben zu beurteilen, die die Basis eines weitgehend objektivierbaren Entscheidungsprozesses bilden. Kritik und kritisches Lesen erweitert unseren Horizont. Bis heute ist Lovecrafts gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bereits einer Vielzahl kritischer Leseprozesse unterworfen worden.

So verarbeitete der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt (1914 – 1979) in seinem letzten, unvollendet gebliebenem Werk Julia, oder die Gemälde (1983) eigene, psychoanalytische Spekulationen über einen möglichen Zusammenhang zwischen Lovecrafts Misogynie und der Gestaltung seiner bekanntesten Schöpfung Cthulhu. Der Science-Fiction-Autor Lyon Spraque De Camp (1907 – 2000) schrieb mit Lovecraft: Eine Biografie (2002; orig. Lovecraft: A Biography 1975) ein Werk, das sich ausgiebig mit Lovecrafts Rassismus beschäftigte und auch der französische Gegenwartsautor Michel Houellebecq betont in seiner essayististischen Widmung Gegen die Welt, gegen das Leben. H. P. Lovecraft (2003; orig. Contre le monde, contre la vie 1991), dass Lovecrafts Lebenswerk wohl nicht ohne die Ängste und den Hass, die sich während seiner New Yorker Zeit intensivierten, hätte entstehen können.

Ein Text, viele Bedeutungen. Ein Werk, viele Gedanken.

Zitat von Die Berge des Wahnsinns, H. P. Lovecraft (1931)

Nur in fantastischen Albträumen könnten menschliche Geschöpfe außer Danforth und mir sich solche optischen Effekte ausmalen. Zwischen uns und den brodelnden Nebeln des Westens lag jenes ungeheuerliche Wirrwarr dunkler Steintürme, deren bizarre und unglaubliche Formen uns aus jedem Blickwinkel von Neuem den Atem raubten. Es war eine Fata Morgana aus massivem Stein, und besäßen wir nicht die Fotografien, ich würde bis heute daran zweifeln, dass so etwas überhaupt möglich ist. Der Aufbau der Mauern entsprach der des Bollwerks, das wir untersucht hatten; doch die abenteuerlichen Formen, zu denen sich dieses Mauerwerk in der Stadt selbst fügte, entzogen sich jeder Beschreibung. Selbst die Fotos geben kaum die unendliche Vielfalt dieser Stadt wieder, ihre sonderbare Grandiosität und unsagbar groteske Fremdartigkeit. Da gab es geometrische Formen, für die selbst ein Euklid kaum einen Namen gefunden hätte – Kegel in allen Stadien der Unregelmäßigkeit und Abflachung, fehlproportionierte Terrassen manigfachster Art, Rundtürme mit knollenartigen Ausbeulungen, Gruppen zerbrochener Säulen und fünfzackige oder fünfhöckrige Gebilde von wahnwitziger Absurdität.

Die Berge des Wahnsinns (orig. At the Mountains of Madness, 1931), zweifelsohne eine der komplexesten und umfassendsten Erzählungen Lovecrafts, veranschaulicht eindrucksvoll, dass die Erkenntnis der Begrenztheit menschlichen Fassungsvermögens keinesfalls im Gegensatz zur Liebe an präziser Sprache und bildhafter Genauigkeit stehen muss.

Die Älteren Wesen, die die fremdartige Stadt vor Äonen bewohnt hatten, ereilte bereits vor Millionen von Jahren ein grausames Schicksal. Das lässt sich deutlich den kunstvollen Fresken entnehmen, auf die der Protagonist während seiner Irrfahrt durch die ausgestorbenen Labyrinthe immer wieder stößt. Sie sprechen von einem Aufstand einer amöbenartigen Sklavenspezies gegen ihre überlegenen Herren, die sich am Anbeginn der Zeit ein exotisches Utopia errichtet hatten. Das ihnen im Laufe der Jahrmillionen jedoch zunehmend entglitt.

Wie der Protagonist versucht, die Geschicke und Unglücke der ‚Älteren Rasse‘ zu rekonstruieren, deren konservierte Kadaver seine Kollegen dem ewigen Eis entnommen haben, richtet sich vor dem geistigen Auge der Lesenden ein ganzes Bestiarium jener extraterrestrischen Entitäten auf, die den Kosmos Lovecrafts bewohnen. Doch nicht nur dies: Die Erzählung enthält auch ein komplexes Geflecht an Sinn und Gegensinn, verborgene und konkurrierende Bedeutungsdimensionen, die überraschen, schockieren können. Und bei denen wir uns, einmal entlarvt, fragen müssen, wie wir die Erzählung jemals ohne sie haben lesen können.

Lesen wir den Text noch einmal – etwas offener gegenüber rassismuskritischen Fragestellungen – so spiegelt er genau das wieder, was Nneri Okorafor als hässliche Fratze des Rassismus bezeichnet hat; jene Fratze, die sich in erster Linie durch subtile Figurationen, Metaphern und Charakterisierungen in den Text eingeschrieben findet.

Dem allumfassenden Mitleid, das der Protagonist gegenüber den ausgestorbenen Demiurgen empfindet, stellt sich die Charakterisierung ihrer Sklavenkreaturen als gesichtslose, unzivilisierte, schwarze Masse, die sich von einem Herrenvolk ausbeuten lässt, frappant gegenüber. Damit schreiben sich jene Strukturen sozialer Ungleichheit und entmenschlichender Ausbeutung in den Text ein, unter denen Millionen afroamerikanische Deportierte für Generationen gelitten hatten.

Es lässt sich kaum bestreiten, dass die zunehmende Idealisierung der Älteren Wesen im Verlauf der Erzählung koloniale Gesellschaftsordnungen verherrlicht – ebenso, wie auch Lovecraft selbst solche Gesellschaften verherrlicht hat. Dieser Umstand verstärkt den Eindruck einer ‚Naturalisierung’ jener rassistisch motivierten Ausbeutung und Entmenschlichung, die bis zur Abschaffung der Sklaverei 1865 insbesondere den Süden der USA geprägt hatte – und die wir als Leitmotiv auch in On the Creation of N* wiederfinden.

Niemand sagt, dass es nun genau das war, was Lovecraft durch den Kopf ging, als er sich diese faszinierende prähistorische Gesellschaft ausmalte und eigentlich ist es auch überhaupt nicht wichtig, ob er das tat. Wichtig ist nur, dass der Text dies nicht weniger ausdrückt als seine Faszination am Wandel der Jahrmillionen.

Wir sind Innsmouth! Das Furchtbare in uns.

Ein letztes Beispiel: Den geneigten Lesenden der Erzählung Schatten über Innsmouth (orig. Shadow over Innsmouth, 1931) kann es nicht verwundern, dass dieses Werk von extraordinärer Atmosphäre (vgl. Joshi 2016, 86) zu den am häufigsten adaptierten gehört. Auch im 21. Jahrhundert hat Innsmouth keinesfalls an Polarisierungsvermögen verloren.

Die Erzählung wird von Joshi als größtes von Lovecrafts Werken beschrieben, das sich dem bereits viele Jahre zuvor etablierten Thema der Degeneration verschrieben hatte (vgl. Joshi 2016, 88) – und gerade das scheint das Problem zu sein: Es lässt sich nicht verneinen, dass die schweren rassistischen Vorurteile, die Lovecraft zeitlebens hegte, sich auch im Topos degenerativer Vermischungen aufs Hinterhältigste fortschreiben, indem er in der Skizzierung der Tiefen Wesen, monströser Frosch-Fisch-Humanoiden, noch einmal das Leitmotiv der ‚halbmenschlichen Bestie’ bemüht.

Bei seiner Reise durch die heruntergekommene und auf keiner Karte verzeichneten Küstenstadt Innsmouth vermag Robert Olmstead, Hauptfigur in Erzählerfunktion, nur knapp einer verschworenen Horde hybrider Humanoiden zu entkommen, die periodisch aus den Tiefen der Meere auftauchen, um sich mit unglücklichen Menschenfrauen zu paaren. So erhalten sie ihre Art. Die Transformation vom Mensch zum ‚Monster‘ ist dabei keine plötzliche und so sind die Einwohner der Stadt von grotesken Missbildungen – dem Innsmouth Look – geprägt, der sie zu Ausgestoßenen macht.

Hierin scheint sich einerseits widerzuspiegeln, was für Lovecraft selbst das Phantasma vom ‚Untergang des Abendlandes’ darstellte. Die Gefahr, der sich die angelsächsische Kultur seines Erachtens nach gegenübersah, bestand darin, dass sie von externen Elementen, Zuwanderung, Heterogenität ‚verfremdet‘ würden, bis dass die eigene kulturelle Identität sich eines Tages der völligen Auflösung gegenübersteht.

Olmstead muss diesem Schrecken selbst gegenübertreten, als er begreift, dass die seltsamen, unausgesprochenen Familienbande, die er bis nach Innmouth zurückverfolgen kann, auch seine Identität grundlegend verändern. Er ist einer von ihnen. Den Menschen der Küstenstadt gerade einmal entkommen, kann er doch vor dem nicht fliehen, was er niemals als Teil seiner Identität akzeptieren wollte. Und das doch da ist.

Er ist Teil des Anderen, vor dem er sich so sehr fürchtet, dass ihn erst die gnadenvolle Ohnmacht vor ihrem Anblick bewahrt. Und genau hier offenbart sich eine Lesart von Schatten über Innsmouth, die ganz elementar für die Motivation ist, sich mit Lovecrafts Rassismus zu beschäftigen.

Wir sind Innsmouth! Fazit und Ausblick.

Wir können uns den trügerischen Luxus der Ohnmacht nicht erlauben. Wir müssen sehen, was da Teil unserer Welt ist, was da uns und andere verletzt, unterdrückt, tötet. Wir müssen damit in Kontakt treten. Wir müssen sehen, akzeptieren und deutlich benennen, was auch Teil unserer eigenen Identität ist.

Das adressiert nicht nur weiße, heteronormative, sich für gebildet haltende und doch irgendwie von den Veränderungen in der Gesellschaft verängstigte Männer in den Dreißigern. Das betrifft alle, die in sich etwas anwesend spüren, das sie am liebsten wegschließen, von dem sie sich am liebsten so weit wie möglich distanzieren oder sogar auf die schwierige und hoch belastete Figur eines Anderen oder Unmenschlichen schieben möchten.

Dieses Andere begegnet uns nur in den seltensten und simpelsten Fällen ganz konkret, und lässt sich auch dann nicht einmal fixieren. Es wird uns höchstwahrscheinlich auch nicht in Form übermächtiger Ungeheuer gegenübertreten. Vielmehr begegnet es uns in der täglichen Auseinandersetzung, die wir mit uns selbst erfahren. In Gedanken und Gefühlen, die wir eigentlich nicht haben wollen. In Äußerungen, die wir bereuen; Ängsten, die uns dazu bringen, genau das Falsche zu tun oder zu wollen; in einer Vergangenheit, die wir nicht reflektiert haben. Es begegnet uns in dem Wissen, dass es weniger die Träume des großen Cthulhu sein werden, die uns in einen schrecklichen Zustand geist- und herzloser Zerstörung treiben könnten, sondern unsere eigenen.

Die kritische Auseinandersetzung mit den Texten Lovecrafts ist daher eine kritische Auseinandersetzung mit den sprachlichen und erzählerischen Mustern, Figuren und Strukturen, die auch unser Denken, unsere Ängste und unsere eigenen Ressentiments bestimmen; die unsere Welt bestimmen und die unsere Welt bestimmt. Aber sie ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Wissen, diese Welt selbst bestimmen zu können.

Insofern ist die kritische Beschäftigung mit Lovecrafts Werken, seiner Person, seiner rassistischen und menschenverachtenden Ressentiments und der Frage, wie sich diese im Werk niedergeschlagen haben, keinesfalls mit einer Delegitimation des Werkes gleichzusetzen. Widmung und Widerspruch können zugleich existieren. Das ist das Wesen der literarischen Kritik, die es somit ermöglicht, über die Seiten literarischer Fiktion zu sprechen, die wenigstens ‚schwierig‘ sind, Missfallen erregen oder Schaden zufügen können. Fiktionen wie Lovecraft Country verdeutlichen nicht nur den Mehrwert einer solchen kritischen Diskussion. Sie sind es auch, die das Werk und den Mythos am Leben erhalten, für weitere Kreise öffnen und das tatsächlich Wirklichkeitsrelevante der Literatur zeigen.