Lovecrafter Online – Rezension: Der Holmgang

Cosmin muss den Aufstieg schaffen. Um sich und seinen Vater aus der Prekarität zu retten, wird ihm viel zu spät klar, dass er die Matura schaffen muss. Leider ist es zum Lernen zu spät, so dass andere Wege her müssen. Da kommt das Gerücht nur allzu gelegen, dass man dem Wissen in Tablettenform nachhelfen kann. Das führt ihn noch einmal zurück zu seinem Freund Stefan und dem Schöpfwerk - der Hochhaussiedlung, in der er und seine Freunde (zu) viel Zeit verbracht haben. Was sich über die etwa 70 Seiten entspannt, spielt fast ausschließlich in diesem Komplex und dreht sich ganz und gar um Cosmin, Stefan und dessen handysüchtigen Bekannten Radu. Nicht nur Raum und Charaktere sind beschränkt, auch die Handlung ist vergleichsweise knapp und unspektakulär gehalten. Dafür setzt Autor Erik R. Andara dieses beschränkte Material in einer einzigartigen Intensität um. Die Szenerie und Charaktere werden zum Greifen nahe geschildert und sorgen dafür, dass mich der Hunger wie wenige andere Bücher so in seinen Bann gezogen hat, dass ich die Geschichte kaum aus der Hand legen konnte. Die fokussierte Erzählung hat mich wie ein nie stoppen wollender Aufzug unerbittlich zu seinem Ende gezogen.
„Das Universum schuldet dir keinerlei Sinn“
Es sind wahrhaft “weirde“ Dinge, die unseren Protagonisten widerfahren. Teilweise so weird, dass sie eigentlich albern wirken müssten. Dass sie das nicht tun, ist die große Kunst Andaras. Der noch so absurde Schrecken ist bei ihm fest situiert in einer realistisch gezeichneten Wirklichkeit. Es sind ganz normale, fast erschreckend banale Charaktere und Probleme, die die Geschichte vorantreiben und in einen unbarmherzigen Sog ziehen. Cosmin muss die Matura bestehen, Stefan ist eben der Kumpel von früher, der auf der etwas schieferen Bahn hängengeblieben ist und Radu der Typ, den er unter seine Fittiche genommen hat.
„Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“
Genau das macht für mich die Geschichten Andaras aus: ein enorm unaufgeregter und bodenständiger magischer Realismus, der auch noch die groteskesten Erfahrungen mit Glaubwürdigkeit versieht.
Das gelingt auch deshalb, weil Andara Geschichten der Gegenwart schreibt. So werden ganz selbstverständlich aktuelle Themen und Technologien integriert. Im Hunger ist das einmal die ohne moralischen Zeigefinger dargestellte Erfahrung von Ausgrenzung. Rassismus und Armutserfahrung werden ganz selbstverständlich aufgezeigt und nicht theoretisch erzählt. Was häufig Gefahr läuft, moralische Ermahnung zu sein, ist hier ein vollwertiges und zwanglos eingefügtes Element der Geschichte. Die Darstellung von Ausgrenzungserfahrung sorgt bei Andara gleichzeitig für eine Sensibilisierung und Verdichtung der Geschichte.
Deutlich zentraler sind die sozialen Medien. Instagram, TikTok & Co sind in der Novelle nicht nur selbstverständliche Kommunikationsmittel der drei Freunde, sondern eine Smartphone App ist sogar entscheidend für die Kontaktaufnahme mit einem ominösen Dealer. Auch das sogenannte Doomscrolling wird thematisiert und entfaltet den für mich spannendsten Aspekt des Buches. Ohne zuviel vorwegzunehmen, darf man sagen, dass der Doom hier sehr wörtlich genommen wird. Obwohl oder gerade weil die Details hier etwas vage bleiben, löst diese Idee bei mir Kopfkino und Inspiration für einige Rollenspielrunden aus. Ich hoffe, dass wir in der Hinsicht noch mehr vom Autor lesen dürfen, weil es aktuelle Technologie auf eine substantielle Weise mit einem kosmischen Schrecken verbindet.
Providence, AUT?
Es wäre weder Lovecraftfans noch Andara gegenüber fair, die Novelle als cthuloid zu bezeichnen. Allerdings finden sich deutliche thematische Nähen zum Horror lovecraftscher Provenienz. Sowohl das kosmische Element als auch der terror nihil, die Angst vor dem nicht endenden Nichts sind hier stark ausgeprägt. Bei allen Unterschieden haben wir es hier mit einem kosmischen Ungetüm zu tun, dass man in die Nähe der großen Alten rücken kann. Und ähnlich wie bei Lovecraft ist die Drohung weniger durch Bösartigkeit als eine existenzielle Differenz zu erklären. Da lauert etwas, das über unsere Sinne und Rationalität hinausgeht und buchstäblich vernichten will. Mehr darüber zu sagen würde Spoilern und wäre auch insofern falsch, als Andara selber mehr Deutungsansätze als Erklärungen liefert. Der Hunger wirkt in uns fort, indem wir über ihn nachdenken und das Buch weiter verdauen müssen. Nur so viel: wer kosmischen Horror sucht, wird hier zwar fündig, jedoch kein cthuloides Pantheon vorfinden.
Zu beziehen ist das im Nighttrain erschienene Buch über Amazon.
Andere Werke des Autors sind exklusiv über seine Homepage erhältlich: https://cityofandara.wordpress.com
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