Lovecrafter Online – 062 – Chroniken des Grauens 4: Die Musik des Erich Zann


Sinfonie in M-Fur
Vorgedanken: Literatur hat einen Nachteil und einen Vorteil gegenüber Theater und Film. Der Nachteil besteht darin, alles umständlich beschreiben zu müssen, was eine Kulisse oder eine Kamera durch einfaches Öffnen des Vorhangs oder des Objektivs unmittelbar der Betrachtung preisgibt, sei es ein Tatort oder eine Landschaft.
Der Vorteil greift nur, wenn es sich um utopische oder fantastische Szenen handelt. Die Durchbildung eines Aliens oder eines fremdartigen Planeten kann die Literatur im Vagen lassen, während Bühne und Leinwand gezwungen sind, Konkretes zu zeigen. Selbst wenn sich ein Regisseur mit waberndem Nebel begnügt, muss er dem Zuschauer eine Vorstellung liefern, was sich hinter dem Geheimnisvollen verbirgt, damit dieser der weiteren Handlung zu folgen in die Lage versetzt wird.
Das gleiche gilt für Musik oder Farben, die unbeschreiblich sind. Bei Farben ist das Unbeschreibliche eingeschränkt, weil es die menschlichen Augenzapfen sind, die dem Gehirn die Farben übermitteln. Solche außerhalb des sichtbaren Spektrums bleiben dem Menschen verborgen, während ein Wesen, das Ultraviolett oder Röntgenstrahlen zu sehen fähig ist, vermutlich völlig andere Farbempfindungen entwickelt hat, als wir sie gewohnt sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist H. P. Lovecrafts Erzählung Die Farbe aus dem All nicht realistisch, ungeachtet dessen, dass er sie zu seinem Favoriten erkoren hatte. Auch Huan Vu wusste sich in seiner Verfilmung Die Farbe nicht anders zu helfen, als den sonst in Schwarzweiß gehaltenen Streifen in eine ungewöhnliche Purpur-rosa-lila-Mischung zu tauchen, wenn die Farbe als Hauptakteur ins Spiel kommt, die mithin und abweichend zu Lovecrafts Intentionen aus einer eindeutig bestimmbaren chemischen Zusammensetzung besteht.
Bei Tönen sieht das anders aus. Das menschliche Gehör findet bei Schwingungsfrequenzen unter 80 Hz und über 20.000 Hz seine Grenze, wobei höhere als unangenehmer denn tiefere wahrgenommen werden. Das Quietschen von Styropor auf Styropor grenzt an Folter und Summen führt zu einem zwiespältigen Urteil. Summt eine Mutter ihr Kind in den Schlaf, wirkt das beruhigend, während uns das Summen einer Schmeißfliege schier in den Wahnsinn treibt.
An dieser Stelle haben wir bei Lovecrafts Erzählung Die Musik des Erich Zann angedockt. Der unbenannte Ich-Erzähler empfindet zu Beginn das Üben des über ihm wohnenden Erich Zann, dessen „Harmonien in keinerlei Beziehung zu irgendeiner mir bekannten Musik“ stehen, zweifellos als ansprechend, sonst beseelte ihn nicht der Wunsch, den Mann kennenzulernen und ihm zuzuhören. Im Lauf des Geschehens kippt die Empfindung allerdings, denn das „Kreischen und Wimmern jener verzweifelten Viola“ in der Schlussszene deutet auf nichts weniger als eine dem menschlichen Gehör unerträgliche, dämonische Kakophonie.
Soweit die Literatur, die es bei diesen Andeutungen belassen darf. Wie soll indes eine Vertonung oder Verfilmung mit dieser Vorgabe umgehen? Ein Orchester beim Stimmen seiner Instrumente aufnehmen? Die folgende Geschichte versucht aufzuzeigen, was wäre, gelänge es jemandem (einem Menschen?), diese unerträglichen Klänge wirklich zu entschlüsseln. Sie ist naturgemäß weder verton- noch verfilmbar.
Erster Teil: Metamorphose
Ich bin immer noch altmodischer Zeitungsleser, denn ich liebe Informationen, in die ich mich vertiefen kann, ohne dass ständig Werbespots links und rechts um den aufgerufenen Artikel flackern und direkt eingreifen, wenn ein Algorithmus der sogenannten künstlichen Intelligenz, den seiner Bezeichnung zum Trotz ein gut bezahlter Spezialist programmiert hat, herausgefunden haben will, dass mein Objekt der Aufmerksamkeit von einem käuflichen Artikel unterfüttert werden könnte, und mir diesen in schmackhafter Aufmachung präsentiert.
Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Werbung hätte. Ich blättere gern in Kleinanzeigen, um amüsiert festzustellen, was die Leute an- und verkaufen würden, aber auch, welche gesellschaftlichen Aktivitäten in meiner Umgebung in nächster Zukunft anstehen. Partys reizen mich weniger, aber für Kinobesuche habe ich durchaus einiges übrig. Bevorzugt analysiere ich, wie eine Regisseurin oder ein Regisseur einen klassischen literarischen Stoff umgesetzt hat.
Mir ist klar, dass Film ein anderes Medium als Gedrucktes ist und endlose Selbstreflexionen eines Protagonisten anders lösen muss, als dass eine Stimme aus dem Hintergrund diese Selbstreflexionen mit sonorer Betonung vorliest – dann wäre ein Hörbuch die bessere Option. Ein Fehler übrigens, den der amerikanische Horrorautor Howard Phillips Lovecraft beging, als er die Verfilmungen von ‚Dracula‘ und ‚Frankenstein‘ in Bausch und Bogen ablehnte, weil sie sich seiner Meinung nach zu weit von der Vorlage entfernt hatten.
Seine eigenen Geschichten wurden erst nach seinem frühen Ableben in bewegte Bilder umgesetzt und stellten deren Macher – je nach zugrunde liegender Handlung – vor das Problem, vage beschriebene Szenarien zu visualisieren oder zu vertonen. Die Erfolge waren, um es diplomatisch auszudrücken, von wechselhaftem Erfolg gekrönt.
Was sehe ich da? Die Kinoseite kündigt für den Samstag eine Premiere an, nämlich die Neuinterpretation der Lovecraft-Erzählung ‚Die Musik des Erich Zann‘. Das wäre einer der Fälle, in denen unbeschreibliche Klänge konkretisiert zu werden erheischen. Ich werde neugierig. Was steht da? Der Regisseur und Produzent Robert Blake – nie gehört! – verheißt den Zuschauerinnen und Zuschauern einen Schluss, der alle bisherigen Vorgängerversuche in den Schatten stellt, erlaubt die digitale Technik doch Frequenzen und Assoziationen zu erzeugen, die herkömmlichen Instrumenten verschlossen bleiben.
Ich werde kribbelig. Das muss ich sehen! Die Online-Plattform des angegebenen Lichtspielhauses versichert mir, dass genügend Vakanzen übrig seien, und ich bezahle einen guten Platz in der Loge. Bevor ich das Fenster schließe, speichere ich mir Namen und Adresse des Etablissements ebenso wie den mir zugeteilten persönlichen Zutrittscode auf meinem Smartphone ab. Nachdenklich gehe ich die Daten nochmals durch. Ich hatte gedacht, ich würde mich in meiner Stadt gut auskennen, aber die Liebwerkstraße und das Roderick-Usher-Theater sind mir unbekannt.
Ich schalte den Stadtplan auf, finde aber besagte Straße nicht. Ich runzele die Stirn. Wo zum Teufel …? Ein Knopf links unten weist mich an, meinen persönlichen Code einzugeben. Sollte es sich um den handeln, den ich gerade mitgeteilt bekommen habe? Da ich am Ende meines Lateins bin und befürchte, dass ich einem Fake aufgesessen bin und mein Geld verloren ist, gebe ich aus purer Verzweiflung die sinnlose Buchstaben-/Ziffernfolge ein.
Sieht der Plan nicht plötzlich anders aus? Es ist, als hätte sich eine Verschiebung ergeben, ohne dass ich konkret zu sagen vermocht hätte, worin diese bestanden hat. Jedenfalls sehe ich nun die Liebwerkstraße, eine Abzweig der Wallgrabenallee, und zwar gar nicht weit weg von meiner Wohnstatt. Dass mir die bisher nie aufgefallen war?! Was soll‘s! Ich weiß, wohin ich mich übermorgen zu begeben habe, und wende mich zufrieden wieder meiner Zeitung zu, um mich deren Kulturteil zu widmen.
Die Anzeige ist in geringer zeitlicher Distanz zu ihrer Umsetzung geschaltet gewesen und wenige Tage, nachdem ich sie gelesen und mir einen Platz gesichert habe, ist besagter Samstag angebrochen und ich begebe mich zu der Liebwerkstraße. Die Wallgrabenallee ist mir wie angedeutet wohlbekannt, aber wo um alles in der Welt …? Wahrhaftig, hier zweigt eine Straße nach rechts ab, die ich bisher nie wahrgenommen habe – dabei ist sie gar nicht so schmal. Nun gut, bisher habe ich in ihr nichts zu tun gehabt. Laut Stadtplan ist sie nicht lang und richtig, nach wenigen Metern blenden mich die Reklametafeln des Roderick-Usher-Theaters. ‚Sensationelle Premiere der Neuverfilmung H. P. Lovecrafts ‚Die Musik des Erich Zann‘‘ schreien sie mir entgegen.
Viele Leute sind nicht unterwegs, aber die, die es sind, streben eindeutig dem Kino zu. Alle anderen Gebäude der Liebwerkstraße liegen nicht nur im Dunkeln, sondern wirken auch merkwürdig schemenhaft. Ein Blick auf die Uhr meines Smartphones belehrt mich, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Deshalb verschiebe ich die Untersuchung, was es mit ihnen auf sich habe, auf später, verzichte auch auf das Studium der Szenenfotos und betrete den Vorführraum. Er ist nicht groß und fasst bestenfalls hundert Besucher. Selbst die haben heute nicht hergefunden, sondern bestenfalls 30. H. P. Lovecraft lockt offenbar nicht mehr viele hinter dem Ofen hervor. Ich finde das schade, verheißt doch gerade dieses Werk eine Neuinstrumentierung der als unbeschreiblich beschriebenen Musik dank digitaler Technik. Unter diesem Aspekt bedeutet die Nichtbeachtung der Szenefotos im Foyer kein Versäumnis. Bevor das Licht verlöscht, sehe ich mich prüfend um. Nein, hier drin bin ich noch nie gewesen. Anscheinend hat das Etablissement bisher keinen Film angeboten, der mich interessiert hat, denn so neu sieht es nicht aus.
Indes erlischt die Beleuchtung zunächst nicht, sondern ein Mann – ein Mann? – betritt die schmale Bühne, die der Leinwand vorgelagert ist. Ich setze das Attribut ‚Mann‘ absichtlich in Fragezeichen, denn die Gestalt – ja, diese Charakterisierung ist besser! – gemahnt an alles, aber nicht unbedingt an ein menschliches Wesen. Ein wallender, schwarzer Umhang verbirgt weitgehend seine anatomischen Körpermerkmale und eine ebenso schwarze Kapuze, die bis weit vor das Gesicht reicht, verbirgt dieses beinahe gänzlich. Zwei Arme und Beine scheinen immerhin vorhanden zu sein.
Aus dem schwarzen Loch, das sich den Besuchern statt des Gesichts präsentiert, dringen plötzlich Laute. „Meine sehr verehrten Herren“, artikulieren sie sich, „denn Damen sehe ich keine: Ich bin Robert Blake, der Regisseur, und heiße Sie herzlich willkommen zu dem Sieg der Technik über das Mysterium – trotz unseres Low-budget-Konzepts. Wenn Sie immer schon wissen wollten, wie Erich Zanns unbeschreibliche Viola klingt, aber keine Vorstellung davon haben, werden Sie im Lauf des Abends die Antwort erhalten. Ich wünsche Ihnen nunmehr viel Vergnügen beim Genuss des einmaligen Konzerts, das den Schluss meiner wegweisenden Schöpfung bildet. Übrigens wurde an Originalschauplätzen gedreht.“ Nach diesem ominösen Schlusssatz verschwindet die Gestalt wie weggezaubert, das Licht erlischt endlich und auf der Leinwand beginnt es zu flackern.
Wer die Handlung der Geschichte kennt, die nicht einmal Novellenumfang erreicht, weiß, dass sie sich dramaturgisch rasch abhandeln lässt. Der Vorspann begnügt sich mit kargen Informationen, bei denen mir auffällt, dass ich ebenso wie von dem Regisseur von keinem der drei Schauspieler vorher je etwas gehört oder gelesen habe. Drei Schauspieler, weil außer Erich Zann selbst und dem namenlosen Erzähler der gelähmte Blandot als Vermieter auftritt.
Um auf 110 Minuten Laufzeit zu kommen, widmet sich die Kamera in aller Ausführlichkeit der Rue d’Auseil, ihrer nach hinten zu immer steiler und schmaler werdenden Topografie, den windschiefen Fachwerkhäusern, die sich teilweise so stark nach vorn beugen, dass sich ihre Giebel beinahe berühren, und den Übergängen, die zuweilen zwei sich gegenüber stehende Gebäude oberhalb des Straßenniveaus miteinander verbinden. Wie in der Vorlage ist Blandots das drittletzte und höchste; die Straße selbst endet kurz dahinter an einer unübersteigbaren Mauer ohne jeden Durchlass. Es ist tatsächlich, als wäre das der Originalschauplatz, als handelte es sich um Lovecrafts unauffindbare Rue d’Auseil in Paris. Die unheimliche Stimmung, die in der Gasse herrscht, die Dunkelheit, die schattenhaft vorbeihuschenden, auf sehr alt geschminkten Statisten, und die bedrohlich wirkenden Fassaden packen mich in einem Maß, wie es die wirkliche Welt kaum stärker vermocht hätte. Selbst den bei Lovecraft allgegenwärtigen üblen Geruch meine ich meine Nase kitzeln zu spüren, obwohl das zweifelsfrei auf Einbildung beruht. Sollte ich den Regisseur nochmals zu fassen kriegen, nehme ich mir vor, werde ich aus ihm herausquetschen, wo um alles in der Welt die Szenerie zu finden sei. Falls es sich um eine Kulisse handelt, wäre sie mit einem Aufwand erstellt, der so gar nicht zu dem geringen Budget passt, mit dem die Dreharbeiten angeblich haben durchgeführt werden müssen. Oder eine Computeranimation? Das ist das Wahrscheinlichste, aber irgendwie sehen die Objekte überhaupt nicht danach aus – schließlich bin ich vom Fach.
Die Handlung, so sie diesen Namen verdient, plätschert dahin. Als der Student der Metaphysik seiner Meinung nach Klänge vernimmt, die mit herkömmlichem nichts zu tun haben, erhöht der Regisseur die Spannung, indem er diese durch die Selbstreflexionen des Erzählers überdeckt. Nachdem dieser Erich Zann zur Bekanntschaft genötigt hat, erschallen zunächst konventionelle Streicherklänge. Der Musiker versucht erkennbar sein Geheimnis vor dem Besucher zu wahren.
Die Wochen vergehen und was vom Stockwerk über den Studenten herabrieselt, wird immer schriller und unerträglicher. Als er hochstürmt, um den Musiker zur Rede zu stellen, und der seine Tür öffnet, geht es dem Geheimnis an den Kragen, denn Zann ist plötzlich gewillt, es preiszugeben, sei es aus purer Angst oder um einen Gefährten zu gewinnen oder aus beiden Beweggründen.
Das durch eine blickdichte Gardine zugehängte Fenster, das einzige, das hoch genug angebracht ist, um ein Panorama über die Mauer zu gewähren, welche die Rue d’Auseil wie ein Tor zur Hölle abschließt, wird immer näher herangezoomt, während sich das Gehörte in eigenartiger Weise wandelt. Mein Innerstes wird erschüttert, als nähere sich die Saitenfrequenz einem lebensbedrohlichen Wert. Plötzlich, während Erich Zann schriftlich festhält, worin die Gefahr besteht, und in seiner Furcht, das Werk nicht mehr vollenden zu dürfen, immer hektischer und unleserlicher kritzelt, lässt ein Windstoß das Fenster zersplittern und die Gardine beiseite wehen. Ich vermag meine Neugierde nicht länger zu bezähmen und trete an die Öffnung – endlich werde ich erfahren, was sich dahinter verbirgt. Meine Neugierde wird enttäuscht, denn ich erfahre nichts. Hinter dem Fenster befindet sich undurchdringliche Schwärze, keine Laternen von Paris, keine Autoscheinwerfer und kein -lärm, keine Krankenwagen-, Feuerwehr- und Polizeifahrzeugsirenen und keine blinkenden, grellen Werbetafeln. Gefühlt starre ich, Zanns Kakophonie in meinem Rücken, mehrere Stunden in die eisige, undurchdringliche Hölle, obwohl die unbestechliche Anzeige auf meinem Smartphone wahrscheinlich nicht mehr als wenige Minuten anzeigen würde, die seit dem Betreten von Zanns Gemächern vergangen sind.
Endlich besinne ich mich und sehe mich um, das heißt, ich will es tun. Ein Schauer fährt mir den Rücken hinunter, als ein Wille mit eisigen Klauen von mir Besitz ergreift, ebenso eisig wie die unheilige Welt da draußen vor dem Fenster, und mir befiehlt, hinauszuziehen und die frohe Botschaft weiterzuverbreiten. Was für eine frohe Botschaft? durchfährt es mich, aber die Frage beantwortet sich von selbst. Mein Rücken, über den eben noch ein Schauer gefahren ist, existiert nicht mehr, und ich schwebe aus dem Zimmer und die fünf Treppen hinab, als wäre ich eine Riesen-Fledermaus. Ich bin aber keine, sondern etwas viel Schlimmeres, das nunmehr auszieht, die Menschheit dämonisch zu verseuchen. Ich erinnere mich an Lovecrafts Formulierung, als seinem Alter ego die Flucht gelingt: ‚Ich stürzte, sprang und flog die endlosen Treppen in dem dunklen Haus hinunter …‘ Nichts von alledem belastet mich, eine unendliche Leichtigkeit …
Mit einem Schlag setzt mein Denkvermögen wieder ein. Wieso schwebe ich in Blandots Haus in der Rue d’Auseil herum, sitze ich doch im Roderick-Usher-Theater und sehe mir eine Neuverfilmung von Lovecrafts ‚Die Musik des Erich Zann‘ an? Ich schaue hoch und stelle fest, dass es kalt und dunkel ist. Wo …? Ich greife gegen die Lehne eines Kinositzes vor mir und registriere, dass ich mich offenbar tatsächlich in besagtem Theater befinde. Aber warum bin ich allein und alle Lichter sind gelöscht? Habe ich das Ende der Vorführung verschlafen und keiner hat es für nötig befunden, mich zu wecken und nach Hause zu schicken?
Ärgerlich erhebe ich mich. Eigentlich habe ich einige Fragen an Robert Blake, aber jetzt ist mir wichtiger, unversehrt nach Hause und ins Bett zu gelangen, als eine langwierige Diskussion anzufachen. Zumal der Regisseur sicher längst das Etablissement verlassen haben dürfte. Zu meiner Verblüffung sehe ich trotz völliger Dunkelheit genug, um problemlos den Ausgang zu finden. Dann die nächste schreckliche Vision: Die Bude ist bestimmt abgeschlossen. Ich habe keine Ahnung, wann die nächste Vorstellung stattfindet, und mir schlägt bei dem Gedanken das Herz bis zum Hals, hier bis zum St. Nimmerleinstag eingesperrt zu bleiben. Diese Sorge löst sich jedoch in Luft auf. Bevor ich mich besinne, stehe ich draußen, und zwar nicht auf der ominösen Liebwerkstraße, sondern direkt auf der Wallgrabenallee. Verblüfft schreite ich sie einige hundert Meter in beide Richtungen ab, finde jedoch die Liebwerkstraße nicht. Wie beginnt Lovecrafts Erzählung? ‚Es gelang mir nicht, die Rue d’Auseil wiederzufinden‘. Bin ich in sie – die Erzählung –eingedrungen und irre immer noch in ihr herum? Nein, die Wallgrabenallee ist die, die ich immer schon kenne, und meinen Heimweg würde ich mit traumwandlerischer Sicherheit finden.
Es ist spät und wenige Personen sind unterwegs. Deswegen fällt mir nicht auf, dass mich keine beachtet, gleichsam, als gäbe es mich nicht. Dann stehe ich vor meiner Haustür und schreite durch sie hindurch, als wäre sie eine optische Täuschung. Da ich müde wie nach zwölf Stunden pausenlosem Holzfällen bin, fällt mir auch das nicht auf. Mir fällt auch nicht auf, dass das Bett bereits belegt ist. Meine Träume bestehen ausschließlich aus überirdischen Klängen, die gegen solche aus der Hölle kämpfen, ohne dass zum Schluss die eine oder andere Seite einen Vorteil erringt.
Als ich am nächsten Morgen erwache, geschieht etwas Bestürzendes. Ich höre Geräusche aus dem Badezimmer und glaube im ersten Augenblick, Einbrecher wären am Werk. Was die allerdings reitet, sich in einer fremden Wohnung am Sonntagmorgen laut gurgelnd bemerkbar zu machen, ist mir ein Rätsel. Dann geschieht das wirklich Bestürzende: Die Tür öffnet sich und ich spaziere in eigener Person heraus, nur mit meiner Pyjamahose bekleidet.
Zweiter Teil: Draculas Rückkehr?
Während sich Erich Zanns Viola auf der Leinwand ins immer Schrillere und Schrecklichere steigert, hebe ich mein Smartphone mit eingeschaltetem Mikro, um die Kakophonie für mich elektronisch festzuhalten. Um besseren Empfang zu erzielen, hebe ich es hoch und erwarte Proteste von hinter mir Sitzenden, aber der bleibt aus. Aus den Augenwinkeln sehe ich mich um, sehe aber nichts und niemanden, denn auf der Leinwand ist es stockfinster – wenige klägliche Blitze zeugen davon, dass der Erzähler vergeblich versucht, im Durchzug, dem die zerstörte Scheibe hindernisfrei Einlass gewährt, Streichhölzer anzuzünden.
Plötzlich durchzuckt mich eine fürchterliche Übelkeit, die mir schier den Atem raubt. Bevor ich mich besinne, verschwindet sie wieder, als wäre sie ein Phantom gewesen. Erleichtert lasse ich mich in den Sitz zurückfallen, aber der Würgegriff des Anfalls hat sich nicht ganz gelöst, sondern lediglich gelockert. Ich spüre eine innere Leere, als wären mit wichtige Gedärme entfernt worden. Meine Hand, die das Smartphone hochhält, zittert, aber das macht nichts, denn ich will ja keine Bilder, sondern Töne festhalten.
Der Film währt nur wenige weitere Minuten. Als sich der Musiker als tot herausstellt und der Erzähler die endlosen Treppen hinunter ‚stürzt, springt und fliegt‘, kehrt ein wenig Schummerlicht zurück. Während dieser Szene nehme ich eine diesbezügliche Unsauberkeit wahr. Es ist, als überlagerte ein übermannsgroßer, fledermausartiger Schatten den panikerfüllten Mann, ohne dass dieser ihn wahrzunehmen scheint – gerade so, als wäre er ein nicht im Drehbuch vorgesehener Fremdkörper. Die Kamera verfolgt die kopflose Flucht des Protagonisten über die große, dunkle Brücke in das gesündere Paris der Alleen und Boulevards, die die Welt aus Reiseführern über die Stadt kennt. Diese finalen Minuten werden wiederum ohne irritierende Randerscheinungen abgespult.
Dann ist es vorbei. Der Abspann läuft, die Beleuchtung flammt auf und ich erhebe mich. Trotz der relativ kurzen Laufzeit des Films fühle ich mich ein wenig steif, denn bequem sind die Sitze des Roderick-Usher-Theaters wahrlich nicht. Ich blicke mich um und finde mich allein. Wo sind die anderen ungefähr 30 Besucher hin? Haben sie die merkwürdigen Klänge aus den Boxen nicht zu ertragen vermocht und vor dem Ende die Flucht ergriffen wie der ‚Held‘ des Films? Ich wende mich dem Ausgang zu und stelle fest, dass ich zittere. Was um alles in der Welt hat mich da übermannt? Eilends nach Hause, sofern ich das zu Fuß überhaupt schaffe …
Da sehe aus dem Projektionsraum an der Rückwand einen Lichtschimmer dringen. Alle Unbill ist vergessen, denn ich habe doch mit dem Regisseur Robert Blake ein paar Worte wechseln wollen. Ob er noch anwesend ist?
Ich orte eine Spantür, drücke dagegen und befinde mich in einer fast dunklen Kammer. Wären wir nicht im digitalen 21. Jahrhundert, hätte ich geschworen, der Mann an der Kamera spule den Film zurück. Offenbar hat ihn der Luftzug darauf aufmerksam gemacht, dass jemand in sein Reich eingedrungen ist. „Unbefugten ist der Zutritt verboten!“ blafft er mich an. Eine Männer- oder Frauenstimme? Sie gemahnt mich in ihrem blechern scheppernden Klang an die, die aus dem schwarzen Loch gequollen ist, das die Eröffnungsrede gehalten hat. Zu erkennen ist die Person nicht, denn sie verbirgt sich vollständig im Schatten.
„Dann akzeptieren Sie mich als befugt“, erwidere ich. „Ich fand Ihren Film grandios und hätte gern ein paar Worte mit seinem Schöpfer gewechselt.“
„Herr Blake ist nicht mehr da.“ Die Stimme klingt sofort freundlich, denn Lob empfängt jeder gern. „Vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Ich bin seine rechte Hand.“
„Wie Sie sich denken können, ist es vor allen die Musik, Erich Zanns Musik in der Schlussszene, die mich fasziniert hat. Darf ich fragen, von wem sie stammt?“
„Vom Meister selbst. Er betrachtet sich in erster Linie als Komponist und erst in zweiter als Produzent und Regisseur.“
„Die Harmonien sind sehr ungewöhnlich. Darf ich weiterhin fragen, wie …“
Unvermittelt ist die Gestalt Feuer und Flamme und es sprudelt regelrecht aus ihr heraus. „Freut mich, dass Sie dieses Wort benutzen. Die meisten, denen wir sie vorspielen, nennen sie Kakophonie. Es ist nur sehr wenigen Menschen vorbehalten, ihren Zauber zu erkennen. Sie gehören dazu. Ich beglückwünsche Sie.“
„Ungewöhnlich heißt nicht unbedingt unerträglich. Allerdings habe ich, wie Lovecraft es in seiner Vorlage beschreibt, keinen Zusammenhang zwischen Ihrer und herkömmlicher Musik gefunden.“ Mittlerweile bin ich überzeugt. den Schöpfer in eigener Person vor mir zu haben, welcher Spezies er auch angehören mochte.
Die Gestalt ist ohne Unterbrechung fortgefahren. „Wissen Sie, sie hat auch nichts mit den herkömmlichen Tonleitern zu tun. Ich … Der Meister nennt sie Sinfonie in M-Fur. Fur steht für furios und das M eben dafür, dass sie nicht zwischen C und H siedelt.“
Ich bedanke mich für die bereitwillig abgegebenen Erklärungen, wünsche einen schönen Abend und trete in die klare Nacht hinaus. Dort fällt mir ein, dass ich den Meister nach dem Drehort zu fragen vergessen habe. Dafür vergesse ich, dass ich die übrigen Häuser ob ihrer seltsamen Unfasslichkeit habe inspizieren wollen, und prüfe, ob die kurz aufgetretene Unpässlichkeit eventuell Spuren hinterlassen hat. Außer der merkwürdigen inneren Leere, die unmittelbar danach aufgetreten ist, spüre ich keine Beeinträchtigung. Falls diese länger anhält, kann ich bei Gelegenheit ja einen Arzt aufsuchen. Hoffnungsvoll begebe ich mich auf den Heimweg. Meine Hoffnung wird erfüllt, denn mich sucht kein weiterer Übelkeits- oder Schwächeanfall heim.
In der Nacht widerfährt mir ein beklemmendes Erlebnis. Ich liege im Bett und schlafe oder meine das wenigstens. Plötzlich ein Druck auf meinem Bauch, als bestiege mich ein Alb, und ich vermag kaum mehr zu atmen. Auch mich zu rühren bin ich unfähig. Mir treten Schweißperlen auf die Stirn und ich weiß nicht ein noch aus, als der Druck genauso plötzlich schwindet wie er aufgetreten ist. Ich erhebe mich in sitzende Stellung, um gegen einen etwaigen Angriff besser gewappnet zu sein, und lausche in die Dunkelheit. Nichts. Ich halte den Atem an, diesmal kraft meines eigenen Willens. Immer noch nichts. Nach einer endlosen Weile beruhige ich mich und wickle mich wohlig in meine Bettdecke. Nach einer weiteren endlosen Weile schlafe ich endlich wieder ein.
Der Morgen beginnt wie jeder andere an einem Sonntag. Es ist spät, denn ich muss ja nicht zur Arbeit, und begebe mich zunächst ins Bad, um mich meiner Morgentoilette hinzugeben. Eine unbestimmte Erinnerung an einen merkwürdigen Traum, um nicht zu sagen Albtraum, beherrscht mein Gedankenkarussell und lässt sich nicht abschütteln. Es ist wie die Ermahnung einer guten Fee, mir drei Wünsche zu erfüllen, vorausgesetzt, dass ich nicht an rosa Elefanten denke – was dazu führt, dass ich an nichts anderes als rosa Elefanten denke. Ich werde nachher zur Ablenkung einen langen Spaziergang unternehmen. Meister Blakes Musik, die ich auf meinem Smartphone gespeichert habe, werde ich mir erst anhören, wenn ich frei von der Umklammerung jenes merkwürdigen Kinobesuchs bin.
Der nächste Schock erwartet mich, als ich aus dem Bad heraustrete, um mich anzukleiden und mir einen Kaffee zuzubereiten. Ich sehe mich selbst auf dem Bett sitzen. Eiskalte Finger greifen nach meinem Herzen und drohen es zu zerquetschen. Ich presse die Lider zusammen und schüttle meinen Schädel. Dann schaue ich nochmals hin und siehe da, niemand befindet sich in meinem Schlafzimmer. Na also, nur eine Tageshalluzination! Meine Bettdecke ist ein wenig merkwürdig zurückgeschlagen, so, wie ich sie garantiert nicht hinterlassen habe, aber man verhält sich nicht unbedingt jeden Tag auf die gleiche Weise. Vom Rest des Sonntags gibt es nicht Bemerkenswertes mehr zu berichten, außer, dass die während meines Kinobesuchs aufgetretene innere Leere von jetzt auf gleich verschwunden ist.
Mehrere Wochen lang geschieht mein normaler Alltag mit Büroarbeit von Montag bis Freitag und Müßiggang am Wochenende. Jedenfalls rede ich mir das ein, denn ich leide unter einer bis dahin nicht gekannten Müdigkeit, wenn mir morgens mein Smartphone mitteilt, dass Zeit zum Aufstehen sei.
Zwei Mysterien begleiten mich seit jenem Kinobesuch. Das erste, harmlose, betrifft die Liebwerkstraße. Ich finde sie nämlich nicht mehr wieder, obwohl ich mich genau erinnere, an welcher Stelle ich am Samstagabend von der Wallgrabenallee in sie abgebogen bin. Dort, wohin meine Erinnerung mich führt, finde ich nur beschnittenes Buschwerk am Rand und verwahrlostes Gestrüpp dahinter. Unwillkürlich belege ich die Straße mit dem Namen Rue d’Auseil. Erich Zanns Musik scheint nachhaltigeren Eindruck auf mich gemacht zu haben als ich ursprünglich habe wahrhaben wollen. So nachhaltigen, dass ich mich bis heute scheue, seine auf meinem Smartphone abgespeicherten Klänge aufzurufen.
Das zweite ist weitaus ernsterer Natur, obwohl es mich bei erster Analyse nicht betrifft. In der Stadt greift die Angst um sich, denn im Schutz der Nacht treibt offenbar ein nicht fassbarer Triebtäter sein Unwesen. Alle paar Tage finden Passanten oder Ordnungshüter eine buchstäblich blutleer gesaugte menschliche Hülle. Es ist, als wäre Graf Dracula auferstanden, schreibt der Platzhirsch der örtlichen Presselandschaft, und weiter: Die Zeugenaussagen widersprechen sich. Die einen behaupten, sie hätten nichts als einen Schatten gesehen, andere, es habe sich sehr wohl um eine menschliche Gestalt gehandelt, die über dem Opfer kniete. Übereinstimmend sagen allerdings alle aus, der Täter habe sich nach seiner Entdeckung buchstäblich in Luft aufgelöst.
Das Thema bestimmt natürlich die Gespräche aller, auch meiner Kolleginnen und Kollegen. „Ob das wirklich ein Vampir ist?“ setzt sich als Frage, die gleichzeitig Antwort ist, mehr und mehr durch. Ich selbst halte mich aus diesen Gesprächen weitgehend heraus und versuche mir einzureden, dass ich nichts damit zu tun hätte, obwohl mir auffällt, dass die Morde immer in den Nächten geschehen, nach denen ich mich besonders müde und ausgelaugt fühle.
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Ich betrete mein Büro und meine Kolleginnen und Kollegen starren mich an, als äße ich Kinder. Ich nehme auf meinem Drehstuhl Platz und frage mein Gegenüber in möglichst harmlos klingendem Tonfall: „‘was Neues?“
Wortlos greift der Angesprochene neben sich und hält mir das gezeichnete Konterfei eines Mannes vor mein Gesicht – ein Konterfei, das meinem frappant ähnlich sieht.
„Was ist das? Hast du dich als Porträtzeichner versucht?“
Ich merke, dass in dem Riesenraum Totenstille herrscht. Es vergeht eine ganze Weile, bis ich eine Antwort erhalte. „Einer derer, die den Mörder gesehen haben, ist mit zeichnerischer Begabung gesegnet und hat das hier aufs Papier geworfen. Die Polizei nennt sowas Phantombild.“
Mir wird schwindlig und ich schlucke. „Hör‘ mal …“
Plötzlich steht der Abteilungsleiter vor mir und eröffnet mir, dass mein weiterer Aufenthalt in den heiligen Hallen der Firma nicht länger erwünscht sei. „Aber …“ versuche ich anzusetzen, aber mir wird durch den ausbrechenden Tumult das Wort abgeschnitten. Ich registriere, dass ich in Lebensgefahr schwebe, und mache, dass ich davonkomme. Zum Glück gelingt mir das. Mir ist klar, dass ich fristlos gefeuert bin.
Ich strebe meiner Heimstatt zu. Dort erwartet mich bereits die Obrigkeit, darunter drei schwer bewaffnete Polizisten in Kampfanzügen. „Sie sind wegen des Verdachts auf 13-fachen Mord verhaftet“, eröffnet mir der Kommissar in Zivil.
„Aber ich bin noch nicht …“
„Ich sagte ‚wegen des Verdachts‘, denn Sie sind ja bisher nicht verurteilt, wie Sie richtig zu bemerken geruhten. Wir nehmen Sie wegen Verdunklungsgefahr in Gewahrsam, das heißt in Untersuchungshaft. Packen Sie bitte einige persönlichen Sachen zusammen und kommen Sie mit uns.“
Was bleibt mir anderes übrig als zu tun, wie mir geheißen ist. Als ich im Polizeiauto neben einem Uniformierten sitze, an den ich durch Handschellen festgekettet bin, sacke ich wie ein Häufchen Elend in mich zusammen. Ich bin ja auch nichts anderes.
Bis zur Wache sind einige Haken zu schlagen. In einer der Straßen, die wir passieren, steht ein Umspannwerk. Als würde eine fremde Person in mir arbeiten, rumpelt und zuckt es in meinem Bauch. Mein Begleiter wird unruhig. „Was zum …“
Diesmal schneiden die Ereignisse ihm das Wort ab. Mit einem markerschütternden Schrei fährt ein Schatten aus mir heraus, dringt durch Scheiben und Blech des gepanzerten Fahrzeugs und verbiegt es, als bestünde es aus Wachs. Die beiden vorn Sitzenden und der Mann neben mir platzen förmlich und geben keinen Laut mehr von sich. Der Schatten huscht über den Bürgersteig und überwindet das Mauerwerk, das das Umspannwerk vor dem Eindringen Unbefugter schützen soll. Wenige Sekunden später fährt ein Lichtblitz hunderte Meter in die Höhe und wird von einem Krachen begleitet, das an nichts weniger als ein höllisches Inferno gemahnt. Ich starre entsetzt auf das Feuerwerk und versäume, über mein Überleben überrascht zu sein.
Irgendwann melden sich meine Lebensgeister wieder und ich versuche, aus dem Auto zu entkommen. Eine hartnäckige Kraft hält mich zurück. Richtig, die Handschellen! Der Polizist neben mir ist zu einer formlosen Masse verquollen, aber die Uniformjacke hat ihre Konsistenz behalten. Ich durchsuche trotz meines Ekels ihre Taschen und werde bereits in der zweiten fündig. Ein ‚Klick‘ und ich bin frei – das heißt, das Auto …
Zu meiner Verblüffung lässt sich die Tür bis zu einem unzulänglichen Winkel öffnen und ich quetsche mich hinaus. Nichts wie weg! Ich überquere die Straße, auf der angesichts der lichterloh brennenden Anlage kein Verkehr herrscht. Ich entferne mich so rasch mir möglich ist, nicht zuletzt, um der sich rasch ausbreitenden Hitze zu entgehen. Als ich aus sicherer Entfernung zurückblicke, sehe ich, wie die grüne Minna, in der ich bis eben gesessen habe, von den Flammen erfasst und verzehrt wird.
Ich kenne mich in dem Quartier gut aus und begebe mich zu Fuß auf dem Heimweg. Bis zum Einbruch der Dunkelheit wird es eine Weile dauern, denn die Explosion des Umspannwerks hat natürlich die gesamte städtische Stromversorgung lahmgelegt. Der Koffer mit meinen Klamotten! durchfährt es mich. Na gut, der ist verloren, aber Smartphone und Schlüssel haben sie mir aus unerfindlichen Gründen nicht abgenommen, sodass ich weiterhin aktionsfähig bin. Mir fällt lediglich auf, wie schwer mir das Vorwärtskommen fällt. Ich schleppe mich mühsam weiter, um außer Hörweite der dutzendfach anrückenden Feuerwehrfahrzeuge zu gelangen, und lasse mich erschöpft auf eine Bank fallen, als ich meine, mich weit genug von der Kernzelle des Brandes entfernt zu haben, um nicht mehr aufzufallen.
Ein Gesetzeshüter rüttelt an meinem Arm. „Wachen Sie auf, Mann! Auf städtischen Banken zu schlafen ist untersagt!“
Ich schrecke hoch. Ich bin eingepennt, sowas! Ich sehe hoch und befürchte, dass es mit meiner gerade gewonnen Freiheit schon wieder vorbei sei, aber im Auge des Mannes blitzt keinerlei Erkennen auf. Die Frau, die den anderen Part der Streife bildet, sagt: „Der Mann sieht dem gesuchten Mörder ähnlich, findest du nicht auch?“
„Schon“, brummt der, der mich wachgerüttelt hat. „Aber der ist Mitte 30 und kann nicht dieser Greis sein.“
„Stimmt. Aber irgendwie …“
„Jagen wir keinen Phantomen nach, Schätzchen. Der Mörder ist mit unseren Kameraden in die ewigen Jagdgründe eingegangen, da gibt es nichts mehr zu hoffen. Das Auto befand sich gerade neben dem Kraftwerk, als es hochging. Drin und im Umkreis von mehreren hundert Metern hat keiner überlebt.“ Zu mir gewandt fährt der Uniformierte fort: „Und Sie sehen zu, dass Sie sich nach Hause trollen.“ Damit wendet er sich von mir ab und die zwei pflichtbewussten Beamten besteigen ihren Wagen, um weiter ihre Kreise zu ziehen.
Verblüfft schaue ich den kleiner werdenden Rücklichtern hinterher. Durch die Maschen geschlüpft! Was um alles in der Welt hat der Typ gemeint? Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort. Weit habe ich nicht mehr, aber jeder Schritt fällt mir schwerer als der vorige. Ich versuche, mich von der Anstrengung abzulenken, indem ich das Geschehen überdenke. Zweifelsfrei ist der Schatten aus meinem Leib hervorgeschossen, angelockt durch die die Luft durchdringende elektrische Spannung. Diese … Dieses Biest muss sich in meinen Eingeweiden eingenistet und möglicherweise von meiner Substanz ernährt haben. Das erklärte meine Schwäche. Andererseits habe ich heute Morgen, als ich von der kommenden Unbill noch nichts geahnt habe, nichts von ihr bemerkt. Ich fühle eine innere Leere wie … Ja, wie damals nach dem Besuch des Films ‚Die Musik des Erich Zann‘. Ob da ein Zusammenhang besteht? Falls ja und ich ein menschenaussaugendes Monster in mir getragen habe, hoffe ich, dass es der Spannung von Millionen Volt, gepaart mit ungeheurer Stromstärke, rückstandslos erlegen ist. Denn dass es der Urheber der Meuchelmorde ist, die während der vergangenen Wochen die Schlagzeilen beherrscht haben, darf ich nicht mehr abstreiten. Meine Müdigkeit nach diesen Nächten … Offenbar ist mein Körper durchaus an den Untaten beteiligt gewesen. Ich schüttele mich. Was für ein furchtbarer Gedanke!
Endlich bin ich Zuhause. Ich schleppe mich die Stiege hoch und lasse mich, nachdem ich meine Wohnung betreten habe, in den Wohnzimmersessel sacken. Himmel, fühle ich mich schlapp!
Ich stelle fest, dass ich im Dunkeln sitze. Bin ich schon wieder eingeschlafen, und das über mehrere Stunden! Instinktiv greife ich nach dem Kippschalter und stelle zu meiner Überraschung fest, dass das Licht aufleuchtet. Alle Achtung, haben die Techniker rasch neue Ausweichleitungen gefunden, um das städtische Stromnetz wieder der Funktionstüchtigkeit zuzuführen! Mühsam erhebe ich mich, um mich bettfertig zu machen, trete im Bad vor den Spiegel über dem Waschbecken, und versteinere. Jetzt verstehe ich, was der Polizist mit seiner Aussage gemeint hat.
Mir, der ich 36 Erdenjahre zähle, blickt das Gesicht eines geschätzt 80jährigen Greises entgegen.
- Michael Maniura
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