Lovecrafter Online – Rezension: Arkham Horror – Dunkle Ursprünge 1 (Anthologie)


Das sind Aspekte, die nach dem britischen Kulturwissenschaftler Mark Fisher im Zentrum der Weird Fiction stehen. Der Begriff „weird“ ist dabei so schwer greifbar wie das, was er bezeichnen soll. Stets geht es jedoch um die Konfrontation mit erschütternden Phänomenen, die alles, was wir zu wissen glaubten, durcheinanderbringen – und damit unser Wissen, unsere Welt und unser Dasein insgesamt infrage stellen. Für Fisher ist der Startpunkt der Weird Fiction klar: Es ist H. P. Lovecraft. Doch auch Lovecraft suchte Inspiration, beeinflusste nicht nur, sondern wurde auch seinerseits literarisch beeinflusst. Festa startet mit der Weird-Fiction-Reihe nun das Projekt, die vielfältigen Ausprägungen der Weirdness gesammelt zu veröffentlichen. Den Anfang macht hierbei ein alter Bekannter: Bram Stoker, der durch seinen Roman Dracula (1897) Weltruhm erlangte. Würde man die Figur des Vampirs zwar nicht unbedingt mit der Weird Fiction in Verbindung bringen – Stokers in Schöpfer der Schatten präsentiertes Frühwerk hat es in Sachen Irritation jedoch wirklich in sich.
Obskures Zentrum der Sammlung ist der Geschichtenzyklus Hinter dem Sonnenuntergang, ein lose miteinander verbundenes Sammelsurium thematisch und tonal sehr unterschiedlicher Kunstmärchen mit unklarer Zielgruppe. Der aufrechte Protestant Stoker zeigt sich hier überaus belehrend; in ihren meist eindimensionalen Pointen gestalten sich die Erzählungen durch und durch märchenhaft. Andererseits lassen sie in blühendem, aber oft unzusammenhängendem Detailreichtum zumeist jede Stringenz vermissen. Für bloße Lehrstücke sind sie zu wirr und unangepasst; man mag Stoker fast arges Desinteresse am Verstanden werden unterstellen. H. P. Lovecraft, von Herausgeber Andreas Fliedner im Vorwort des Bandes zitiert, kam zu dem Befund, dass Stoker „eine brilliante und überbordende Fantasie“ gehabt habe, jedoch unfähig gewesen sei, „die Bilder, die er schuf, in eine Form zu bringen“. Hinter dem Sonnenuntergang führt dies ebenso vor wie Der Kristallkelch, Stokers erste publizierte Erzählung. Wenn Lovecraft von Bildern spricht, dann ist dies sehr wörtlich zu nehmen: Der spätere Dracula-Autor scheint dann in seinem Element zu sein, wenn er textliche Gemälde fabriziert – ausschweifend, zelebrierend, schwelgerisch. Und zumeist erschreckend wenig an prosaischer Konsistenz interessiert.
Der junge Stoker nutzt Worte zumeist für seine ganz eigene Version Goya‘scher Caprichos – schauderhafter Bildszenen, die zwar aneinandergehängt oder zusammengebunden werden können, sich literarischem Sinn aber nur selten fügen wollen. Zwei biographische Aspekte mögen hier von Interesse sein: Die Relevanz von Träumen für den als Kind oft kranken Stoker und seine Beschäftigung am und mitdem Theater, zunächst als Kritiker und später als Manager. Bühne und Schlaf brechen mit den inszenatorischen Möglichkeiten, die Feder und Papier den Schreibenden bereitstellen. Ein wenig wirkt es, als würde Stoker in seinem Frühwerk gegen diese Limitierungen ankämpfen und den Rausch und die Unmittelbarkeit innerer und äußerer Bühnen um jeden Preis textlich fassen wollen. In seinen besten Momenten produziert er so eine Bildgewalt, die an die Substanz geht – oft scheitert er hilflos. Aber stets schillernd.
Sogar Stokers Figuren wissen gelegentlich um die Macht des Bildes. So treibt sich die Wirtin Mrs. Witham in Das Haus des Richters mit dem Gedanken um, einen Wandschirm für den von ihr betreuten Gast Malcolmson aufzustellen. Obwohl dieser im zugigen Raum sicher nützen würde, entscheidet sie sich jedoch dagegen: Zu schauerlich sei die Vorstellung, alle möglichen „Dinge“ im alten Herrenhaus könnten „den Kopf um die Ecken stecken oder darüber“. Mehr als vor den postulierten Spukwesen selbst scheint sie sich davor zu fürchten, den bildlichen Inszenierungsstrategien des Unheimlichen eine Steilvorlage anzubieten. Die den Band abschließende Geschichte ist schließlich auch Stokers erste schwarzromantische Gothic Fiction im engeren Sinne. Obgleich immer noch stark am „theatralen Blick“ orientiert – den sensorischen Eindrücken einer düsteren Kulissenwelt – hat Stoker sich hier scheinbar an die Zügel genommen, und das mit Erfolg: Das Haus des Richters ist eine wohltuende, klassische und doch eigenständige Schauermär.
Zuvor serviert der Autor den Lesenden jedoch noch eine magenverdrehende Wunderlichkeit sondergleichen. In Die Zerschmetterer konstruiert er sorgsam und empathisch das Bild einer liebenden Familie samt wunderschönem Zwillings-Kinderpaar, um dieses Glück im wahrsten Sinne zu zerschmettern. Süffisant und geradezu lustvoll wird hier eine Basis fürs Mitfühlen und -leiden in aller Unschuld und Possierlichkeit gezeichnet und anschließend in rasender Gewaltorgie in die Luft gejagt. Absurd präsentiert im Takt einer blutigen Grand-Guignol-Posse. Knochen splittern, Köpfe platzen, Menschen und Tiere schreien wie am Spieß – begleitet von bösartiger Heiterkeit. Eine groteske Karikatur protestantischer Maßhaltung. Dass Stoker diesen wirbelnden Exzess zu ersinnen vermochte, zeigt den Riss, der sein Denken durchzieht, und den Herausgeber Fliedner als „Ordnungskonflikt“ bezeichnet. Stoker war angesehener Bürger, Christ, aufrechter Vater und Ehemann und Teil der High Society. Reaktionär. Spießer. Seine Biografie lässt die Skandale und Widrigkeiten, die das Leben anderer Genregrößen kennzeichnen, weitgehend vermissen. Doch sein Geist scheint ein Labyrinth gewesen zu sein.
Stokers Fluch ist die Strahlkraft seines Hauptwerks. Dracula ist heute mit ihm verbunden wie sein eigener Name. Untrennbar verquirlt mit der tonnenschweren Last unzähliger popkultureller Verarbeitungen und Überbauungen. Der transsilvanische Graf und seine Reise durch Europa sind – ganz unabhängig vom Briefroman selbst – gefällige Gemeinplätze geworden. Mal erotisch pointiert, wie durch Francis Ford Coppola. Mal genüsslich parodiert wie in Jemain Clements und Taika Waititis 5 Zimmer Küche Sarg. Und im Körper der Schauspieler Bela Lugosi und Christopher Lee entstanden aus dem Stoff des walachischen Schlächters ganz eigene Markenkerne. Die immer noch prominent in den Buchhandlungen ausliegenden Schmuckausgaben Draculas sind in jeder Geschmacksrichtung zu erwerben – kommentiert, illustriert, mit allerlei Gimmicks versetzt. Und zeugen von der ungebrochenen Popularität des Blutsaugers.
Es ist irritierend, vom Gruselgiganten Stoker nun eine Sammlung derart inkonsistenter und chaotischer Erzählungen in den Händen zu halten. Sie wirft Schlaglichter auf die Rätselhaftigkeit eines Genreautors, den man gut zu kennen glaubte. Viel verblüffender als das wiederholte, protestantische Gebaren gestaltet sich der wiederholte Bruch mit ebenjener konservativen Zahmheit: Wenn nicht bloß Gewalt oder rasender Wahnsinn, sondern die schiere Wirrheit mancher Passagen Schluss mit den scheinbar klaren Pointen in Stokers Oeuvre macht. Den irischen Moralapostel Stoker dekonstruiert Schöpfer der Schatten damit mindestens ebenso sehr, wie es ihn vorführt. Intuitiv ein seltsamer gedanklicher Umweg für den Auftakt einer Weird-Fiction-Schriftreihe. Aber ist es nicht eben das, was Weirdness auszeichnet – frappierende Seltsamkeit, die nicht bloß konsumiert werden will, sondern ausgehalten werden muss.
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