Lovecrafter Online – Einflüsse aus Leonard Clines Dunkler Kammer auf den Lovecraft-Zirkel
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Leuchtendes Trapezoeder -
24. Oktober 2022 um 12:00 -
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Bei einem bekannten Online-Auktionshaus werden antiquarische Bücher zwar manchmal zu Mondpreisen angeboten, manchmal macht man aber auch ein echtes Schnäppchen. Letzteres war der Fall, als ich die deutsche Übersetzung von Leonard Clines Horror-Roman The Dark Chamber (1927) – Die dunkle Kammer, erschienen beim Festa-Verlag im Jahr 2001 als erster Band der Reihe Bizarre Bibliothek – zu einem lächerlich günstigen Preis von zwei Euro entdeckte. Zugegebenermaßen hatte der Preis seinen Grund – das Buch gehörte einst zum Bestand der Stadtbibliothek Essen und war aufgrund eines Wasserschadens ausrangiert worden. Doch der Schaden hielt sich in Grenzen; das Buch war noch komplett lesbar. Mein Interesse war geweckt, insbesondere da H. P. Lovecraft höchstpersönlich dessen Lektüre empfahl. So schreibt er darüber in seinem berühmten Essay The Supernatural Horror in Literature (1927):
Zitat von H. P. LovecraftVon enorm hohem künstlerischem Rang ist der Roman The Dark Chamber (1927) des verstorbenen Leonard Cline. Es ist die Geschichte eines Mannes, der – mit dem typischen Ehrgeiz der byronesken Helden-Schurken der Schauerliteratur – der Natur trotzen und jeden Moment seines vergangenen Lebens durch eine abnorme Stimulation seines Gedächtnisses wiedererlangen will. Zu diesem Zweck nutzt er endlose Notizen, Aufzeichnungen, Erinnerungsstücke und Bilder – und letztlich Gerüche, Musik und exotische Drogen. […] Die Atmosphäre dieses Romans hat eine bösartige Kraft, wobei dem düsteren Heim und Haushalt der Hauptfigur viel Aufmerksamkeit gewidmet ist.
– H. P. Lovecraft: Das übernatürliche Grauen in der Literatur, herausgegeben und kommentiert von S. T. Joshi.
Golkonda Verlag, Berlin, Deutschland: 2014. S. 119ff. Übersetzung von Alexander Pechmann.
Der Roman hatte bei H. P. Lovecraft sogar einen solch starken Eindruck gemacht, dass er ihn u. a. seinen Freunden und Schreibkollegen Donald Wandrei, Frank Belknap Long und Clark Ashton Smith ans Herz gelegt haben soll.¹ Wenn der Meister des kosmischen Horrors höchstpersönlich solches Lob über Clines Werk verliert, das einen für zwei Euro anlacht, dann sollte man doch nicht länger zögern, dachte ich mir, und schlug zu.
¹ Weird Tales Magazine: A Season's Worth of Weird Fiction. Letzter Zugriff: 27.07.22, 9:45 Uhr.
Wer war eigentlich Leonard Cline?
Leonard Cline wurde im Jahr 1893 in Michigan (USA) geboren und schrieb neben unheimlichen Geschichten auch journalistische Beiträge. So erhielt er den Pulitzer-Preis – die höchste amerikanische Auszeichnung im Journalismus – für eine Artikelserie über den Klu-Klux-Klan. Während die schriftstellerische Karriere seines Zeitgenossen H. P. Lovecraft bergauf verlief und dieser sich von einem Niemand zu einem gern gelesenen Schriftsteller des kosmischen Grauens entwickelte, verlief Leonard Clines Karriere eher umgekehrt. Ein schwerwiegendes Alkoholproblem brachte sein Privatleben durcheinander. Dies gipfelte schließlich darin, dass er seinen engen Freund Wilfred Irwin während eines ihrer Zechgelage tödlich anschoss. Cline leistete in der Klinik noch eine Bluttransfusion, konnte aber das Leben seines Freundes nicht retten. In seinen letzten Lebensmomenten sprach Irwin seinen Freund zwar von aller Schuld frei. Cline wurde trotzdem wegen Totschlags verurteilt. Er erhielt eine einjährige Freiheitsstrafe, konnte aber nach acht Monaten wegen guter Führung bereits das Gefängnis verlassen. Nicht viel später starb Cline im Januar 1929 an einem Herzversagen, an dem sein Alkoholproblem sicherlich zumindest eine Teilschuld trug.
Neben The Dark Chamber hat er noch zwei weitere Romane namens God Head (1925) und Listen, Moon! (1926) geschrieben. Außerdem veröffentlichte er unter dem Pseudonym Alan Forsyth einige Kurzgeschichten in diversen Pulp-Magazinen, die jedoch weitaus weniger niveauvoll gewesen sein sollen als diejenigen, in denen H. P. Lovecraft publizierte (und das wird wohl was heißen, denn bekanntlich hat sich Lovecraft schon über das mangelnde Niveau in Weird Tales und Co. ausgelassen).
Worum geht es in The Dark Chamber?
In The Dark Chamber (1927) geht es um einen Mann namens Richard Pride, der mittels diverser Reize an seine vergessen geglaubten Erinnerungen gelangen will. Er behauptet, dass alle Erinnerungen irgendwo im Kopf eines Menschen schlummern und durch geeignete Reize, etwa Musik, Gegenstände oder Drogen, aufgerufen werden könnten. Mehr noch stellt er die Hypothese auf, dass Erinnerungen vererbt werden können, sogar über Generationen hinweg (Stichwort „Erb-Erinnerung“). Mit den geeigneten Reizen sei es daher möglich, die Erinnerungen seiner Vorfahren aufzurufen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Komponisten Oscar Fitzalan. Dieser wird von Richard Pride engagiert, um für dessen Experimente mittels seiner Klavierkünste die musikalischen Reize zu schaffen. Fitzalan lebt für diese Zeit im Schloss Mordance Hall bei Familie Pride, zu der Richard Prides Frau Miriam und ihre gemeinsame Tochter Janet gehören, zu denen er rasch ein mehr als freundschaftliches Interesse entwickelt. Außerdem leben dort auch Richard Prides Hund Tod, der Sekretär Wilfred Hough und andere Bedienstete.
Richard Pride treibt schließlich seine Experimente so weit ins Extrem, dass er schließlich versucht, an die Erinnerungen seiner steinzeitlichen und sogar vormenschlichen Vorfahren zu gelangen. Doch diese Erfahrungen fordern ihren Tribut: Am Ende degeneriert Richard Pride sowohl geistig als auch körperlich zu einer primitiven und tierischen Kreatur, die nachts den Mond anheult und nichts mehr mit dem einstmals vornehmen und intelligenten Hausherren gemein hat. Auch sein Hund Tod erkennt ihn in diesem Zustand nicht wieder; schließlich gerät er in Rage und fällt Pride an. In diesem Kampf zerfleischen sich Herr und Hund gegenseitig und finden so beide ihr dramatisches Ende.
Meine Meinung
The Dark Chamber war zwar recht spannend und interessant. Getrübt wurde für mich das Werk jedoch durch ein paar sehr kitschige Szenen und einige rassistische Einspielungen. Besonders nervtötend empfand ich eine seitenlange Diskussion über Jazz-Musik, in der Oscar Fitzalan die Auffassung vertrat, dass Jazz verachtenswert und nichtswürdig sei. Dass sich das ebenfalls gegen Schwarze richten sollte, zweifle ich kaum an, und auch weil ich persönlich Jazz-Musik mag, verlor der Protagonist an dieser Stelle eine Menge Sympathiepunkte bei mir … Allerdings stellt sich mir die Frage, ob Leonard Cline selbst diese Auffassungen teilte, die er seinem Protagonisten Oscar Fitzalan an den Tag legen ließ. Dessen Gegenspieler Del Prado steht nämlich letzten Endes in der Diskussion um Jazz-Musik besser da als Fitzalan, welcher sich hingegen ganz offensichtlich zum Idioten gemacht hat. Eine kurze Internetrecherche über Clines Haltung diesbezüglich lieferte mir jedenfalls keine Erkenntnisse.
Als anstrengend empfand ich daneben auch die romantisch-kitschigen Nebenhandlungen, in denen Oscar Fitzalan sich Hals über Kopf zuerst in die junge und naive Janet, dann in ihre Mutter Miriam verliebt, die ihrem Ehemann schon vor Fitzalans Ankunft in Mordance Hall nicht besonders die Treue hielt. Diese Szenen hätte man von mir aus auch streichen können, womit man wohl eine stringente Horror-Kurzgeschichte ohne Melodrama erhalten hätte, aber das ist vermutlich persönliche Geschmackssache. Die eigentliche Erzählung rund um Richard Pride und die „Erb-Erinnerung“ war aber spannend, mysteriös und unkonventionell. Wer von den unnötigen Nebenhandlungen rund um das Innen- und Liebesleben des Protagonisten und dessen rassistische und musikalische Einstellung einigermaßen absehen kann, findet in Leonard Clines Werk einen guten Roman mit düsterer Atmosphäre und sich schön schleichend aufbauendem Horror.
Einflüsse im Lovecraft-Zirkel
Wie weiter oben erwähnt, empfahl H. P. Lovecraft die Lektüre von Leonard Clines The Dark Chamber vielen seiner Schriftstellerfreunde. Tatsächlich fielen mir beim Lesen von Clines Roman zwei Werke in meiner Sammlung ein, die eindeutige Einflüsse von The Dark Chamber tragen.
Ubbo-Sathla von Clark Ashton Smith (1933)
Ubbo-Sathla ist eine Kurzgeschichte von Clark Ashton Smith aus dem Jahr 1933. Die gleichnamige deutsche Übersetzung erschien z. B. im ersten Smith-Geschichtenband Die Stadt der Singenden Flamme (2001) beim Festa-Verlag. In der Erzählung erwirbt der Protagonist Paul Tregardis bei einem Kuriositätenhändler einen mysteriösen Kristall. Mithilfe des Buchs von Eibon findet er heraus, dass es sich dabei um ein mächtiges Artefakt des hyperboreischen Magiers Zon Mezzamalech handelt:
ZitatDieser Magier, der unter den Zauberern mächtig war, hatte einen milchig-trüben Stein gefunden, kugelförmig und an den Enden etwas abgeflacht, in dem er viele Visionen der irdischen Vergangenheit erblicken konnte, bis hin zum Anfang der Erde, als Ubbo-Sathla, der ungezeugte Ursprung, gewaltig und geschwollen und gärend inmitten des dampfenden Schleims lag…
– Originaltext, (eigene Übersetzung)
Paul Tregardis testet die Fähigkeiten dieses Kristalls aus und blickt damit wiederholt in die Vergangenheit, wobei er die Perspektive der Menschen oder Lebewesen der jeweiligen Zeit annimmt. Am Ende der Erzählung treibt er es jedoch auf die Spitze und er reist Äonen in die Zeit zurück zum Urbeginn der Erde. Er wird zu einem Molch der Urzeit, unfähig sich an sein eigentliches Ich zu erinnern, und verbleibt in dieser unfassbar fernen Vergangenheit an der Seite von Ubbo-Sathla. Dieses Ende erinnert so stark an den Endzustand von Richard Pride in The Dark Chamber, dass diese Kurzgeschichte mit Sicherheit von Leonard Clines Roman inspiriert sein muss. Insgesamt ist Ubbo-Sathla eine sehr lesenswerte Kurzgeschichte, die das Thema der „Erb-Erinnerung“ im Sinne von Cline originell verarbeitet.
The Ancestor von August Derleth (1957)
The Ancestor ist eine Kurzgeschichte von August Derleth aus dem Jahr 1957 und erschien auf Deutsch beispielsweise unter dem Titel Der Vorfahr im Derleth-Geschichtenband Die dunkle Brüderschaft (1987) beim Suhrkamp-Verlag. Sie gehört zu jenen Erzählungen, die Derleth als sogenannte „postume Kollaborationsarbeit“ mit H. P. Lovecraft veröffentlichte. Bei diesen Arbeiten hat sich Derleth aus Lovecrafts Commonplace Book bedient, also Lovecrafts Kollektaneenbuch, in dem er u. a. auch seine Ideen für Erzählungen festhielt. Aus den Plothooks, die Derleth darin gefunden hat, hat er dann vollständige Kurzgeschichten geschrieben und sie unter seinem und Lovecrafts Namen vermarktet, obwohl sie gänzlich Derleths eigene Werke darstellen.
Liest man The Ancestor, so scheint es einem nicht nur, als sei die Erzählung von The Dark Chamber inspiriert, sondern geradezu plagiiert: Darin versucht Ambrose Perry ebenfalls, durch diverse Reize wie Musik und Drogen an „Erb-Erinnerungen“ zu gelangen, erfährt aber dadurch eine Rückentwicklung zu einer primitiven, tierischen Kreatur und stirbt schließlich durch den Biss seines in Rage geratenen Hundes Ginger. Erklären lässt sich dieser Umstand damit, dass Lovecraft in seinem Commonplace Book eben nicht nur seine eigene Ideen festhielt, sondern es auch für anderweitige Notizen nutzte, etwa um für seinen Essay The Supernatural Horror in Literature Kurzfassungen der gelesenen Romane zu notieren ... und so schließt sich der Kreis zu The Dark Chamber von Leonard Cline:
Zitat von S. T. JoshiAls August Derleth eine Handlungsskizze dieses Romans in Lovecrafts Notizen fand, hielt er die Idee für Lovecrafts eigene und produzierte mit seinem „postumen Gemeinschaftswerk“ „The Ancestor“ unwissentlich ein Plagiat […].
– H. P. Lovecraft: Das übernatürliche Grauen in der Literatur, herausgegeben und kommentiert von S. T. Joshi.
Golkonda Verlag, Berlin, Deutschland: 2014. S. 119, Fußnote 50. Übersetzung von Alexander Pechmann.
Und wie schlägt sich das Plagiat gegenüber dem Original? Zwar verschont August Derleth die Leserschaft mit Kitsch, Beziehungsdreiecken und Jazz-Diskussionen, doch an den Schreibstil, der düsteren Atmosphäre und dem schleichenden Horror von Leonard Clines The Dark Chamber kommt Derleths The Ancestor einfach nicht heran.
The Dark Chamber lesen
Wer sich nun selbst ein Bild von The Dark Chamber machen will, kann aktuell leider nur auf gebrauchte Exemplare zurückgreifen. Weder im Englischen noch im Deutschen gibt es den Roman neu zu kaufen (außer möglicherweise von privaten Verkäufern), und es existieren keine EPUB-E-Book-Versionen, doch wer ein Kindle hat, bekommt eine entsprechende E-Book-Version der deutschen Sprachausgabe für 2,99€ bei Amazon. In diversen Online-Shops kann man ansonsten derzeitig die deutschsprachige Festa-Ausgabe Die dunkle Kammer gebraucht ab 10 € erwerben.
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