Lovecrafter Online – Spiel-Rezension: Villen des Wahnsinnns, Zweite Edition
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Alex -
31. Oktober 2022 um 12:00 -
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Villen des Wahnsinns ist einer der bekanntesten Titel und zugleich der Versuch, Optik und Haptik eines Brettspiels mit dem Detailreichrum und den immersiven Möglichkeiten eines Rollenspiels zu verbinden. Wenn auch klassischen Dungeon Crawlern nicht unähnlich, legt das Spiel den Fokus klar auf den erzählten Plot und die Lüftung uralter Geheimnisse. Die Spielenden führen lovecraftsche Archetypen durch die verwinkelten Gassen und modrigen Herrenhäuser Arkhams, Innsmouths u.a., um der über allem schwebenden Gefahr des „Mythos“ auf die Schliche zu kommen. Oblag das Aufdecken neu entdeckter Gebietsbereiche, die Kontrolle der vielfältigen Feindesfiguren und das Organisieren allerlei finsterer Bedrohungen in der ersten Edition von Villen des Wahnsinns noch – ganz wie im Rollenspiel – einer mitspielenden Person in die Rolle des „Keepers“ zu schlüpfen hatte, kommt mit der zweiten Edition eine große Neuerung ins Spiel: Monster, Rätsel und unaussprechliches Grauen werden der Gruppe nun von einer App aufgetischt.
Horror aus dem Appstore
Es handelt sich bei der zweiten Edition von Villen des Wahnsinns also um einen Hybriden, der ein digitales Gerät am Tisch erfordert. Ein Tablet ist ideal, der Heimcomputer mit Steam-Zugang möglich – mit einem Mobiltelefon wird es der Größe wegen frickelig. Bereits nach kurzem Stöbern im Programm erregen In-App-Käufe die Aufmerksamkeit. Neben den mitgelieferten Szenarien des Grundspiels und der Erweiterungsboxen setzt der Hersteller nämlich auch auf downloadbare Inhalte, die kein weiteres Spielmaterial erfordern, aber durchaus ein paar Euro kosten: Einerseits eine praktische Möglichkeit, mehr und neue Abenteuer zu erleben. Andererseits mag diese Handhabung jenen, die an Brettspielen vor allem den materiellen Aspekt im Gegensatz zum Videospiel schätzen, durchaus zu viel werden.
Ihren eigentlichen Job macht die App jedoch wirklich gut. Die Spielrunde beginnt, wie bereits aus verschiedenen Titeln des Arkham Horror-Franchises bekannt, mit einer Aktionsphase mit beliebiger Zugreihenfolge der Charaktere. Gefolgt wird diese von der berüchtigten „Mythosphase“, in der die Szenariohandlung voranschreitet, Feinde agieren und allerlei unheilvolle Ereignisse stattfinden. In vielen Fällen fordert die App Attributsproben, welche physisch gewürfelt und deren Ergebnisse eingetippt werden: das Programm verkündet die entsprechenden Auswirkungen. Öffnet man eine Tür oder interagiert man mit einem Objekt, so kann die App das Anlegen neuer Gebietspläne oder Heraussuchen bestimmter Karten, etwa Ausrüstungsgegenständen, anordnen. Das funktioniert flüssig und führt die Spielenden, auch dank des übersichtlichen Designs, komfortabel durch das Abenteuer.
Der größte Vorteil der App ist die erhebliche Reduzierung der Materialschlacht, die mit vielen anderen Brettspielen, und auch der ersten Edition von Villen des Wahnsinns, einhergeht. Fantasy Flight Games und die Arkham Horror-Reihe sind berüchtigt für die Mengen an Plastik und Pappe, deren Organisation, Sortierung und Nutzung viele Spiele erfordern. Figuren und Spielpläne versinken teils zwischen bzw. unter Plättchen, verschiedensten Kartenstapeln und anderen ausgelegten Elementen, so dass Auf- und Abbau, aber auch die Übersicht während des Spiels, teils zur Nervenprobe werden: „Sind das die Zauber?“ – „Nein, die Verbündeten!“ – „Wo sind dann die Zauber!?“. Die App vereinfacht das massiv. Einige Gegenstände verwalten die Spielenden, andere Pappmarker liegen auf den Plänen – aber alles kein Vergleich zu anderen derart komplexen Spielen. Insbesondere die Steuerung der Monster, das Auftreten besonderer Mythos-Ereignisse und das Abhandeln von Kämpfen erfordern keine zusätzlichen Karten, stattdessen gibt das Programm vor, welche Proben abzulegen sind und welche Effekte den Spielenden widerfahren. Besonders komfortabel ist dies bei den Puzzle- und Schalterrätseln, denen die Charaktere immer wieder während ihrer Ermittlungen begegnen: Lagen diese in der ersten Edition noch in umständlich zusammenzusteckender Pappausführung bei, erledigt man dies nun digital. Ein weiterer Vorteil: Die App ermöglicht ein Abspeichern der teils sehr zeitaufwändigen Sessions. Hält man seine Charakterkarten, den erlittenen Schaden und die Ausrüstung in einem Tütchen beisammen, lässt sich das begonnene Spiel gemäß des geladenen Spielstands problemlos beim nächsten Mal fortführen.
Digitaler Wahnsinn
Es ist fester Bestandteil der Erzählungen Lovecrafts, dass sich das „Große Ganze“ hinter den von ihm orchestrierten Verschwörungen, Kulthandlungen und grauenvollen Ereignissen den Lesenden nie völlig erschließt. Seine Protagonisten werden zumeist mit dem ganz und gar Fremden konfrontiert, das Wissen und Wahrnehmung der Menschheit bei Weitem übersteigt. Genau daraus resultiert das von Lovecraft vermittelte Unbehagen ebenso wie die faszinierende Anziehungskraft, die seine unlösbaren Geheimnisse auf Buchfiguren wie Lesende ausüben. Die Konfrontation mit solchen nebulösen, kryptischen Kräften, in deren Angesicht man eher den Verstand verliert, als sie jemals richtig zu verstehen, ist unausweichlich auch traditioneller Bestandteil lovecraftscher Spiele. Dass Spielfiguren neben ihren Lebenspunkten auch über einen Wert an „geistiger Gesundheit“ verfügen, der ebenso sehr über Gedeih und Verderb – in der Regel Letzteres – entscheidet wie ihre physische Verfassung, ist die einfachste Form dieses Horrorbezugs, die in so gut wie jedem Arkham-Horror-Spiel verankert ist. Wachsender Wahnsinn bedeutet zumeist verschiedene Handicaps innerhalb des Spiels und Villen des Wahnsinns geht noch einen Schritt weiter: Schwindender Verstand kann hier auch die Spieldynamiken entschieden verändern, etwa dadurch, dass der Charakter verstummt und somit Spielende sich nicht länger mit der Gruppe absprechen dürfen. Manischer Drang, Feuer zu legen oder fortan als „Verräter*in“ gegen die einstigen Kameradinnen und Kameraden weiterzuspielen, sind nur einige der unerquicklichen Optionen.
Einen weiteren Beitrag zur Immersion in diese von unbekannten Übeln heimgesuchte Spielwelt leistet auch die App, indem sie Spielmechaniken unsichtbar und Konsequenzen undurchsichtig macht. „Hätte ich etwas anders machen können?“, „Hätte ein besserer Würfelwurf etwas geändert?“. Anstatt mit Kartenziehen und/oder dem angeleiteten Abhandeln unterschiedlicher Szenarioverläufe spielt sich hier alles so ab, dass man nicht hinter die Kulissen sehen kann. Zumal man Mythos- und Monsterkarten nicht aus der Schachtel genommen und in Erwartung dessen, was da kommt, selbst aufgebaut hat. Der automatisierte Ablauf verschleiert die Spielmechanismen und macht sie schwerer kalkulierbar. Das mag sich mit wachsender Spielerfahrung ändern, aber der psychologische Effekt ist dennoch nicht zu unterschätzen. Im direkten Vergleich mit dem „Keeper“-System der ersten Edition verändert sich das Spielgefühl vor allem dahingehend, gegen keinen Menschen aus Fleisch und Blut mehr zu spielen, sondern gegen den unbekannten „Geist in der Maschine“. Und was dieser mit einem vorhat ist viel unvorhersehbarer als die Aktionenen befreundeter Mitspielender am Tisch. Darüber hinaus vermag das Programm Textpassagen und andere Storyelemente in einem Detailgrad zu präsentieren, der mit Karten nur schwer – und wenn, dann wieder nur mit unübersichtlicher Materialfülle – zu erreichen wäre. Synchronisiert sind aber leider nur wenige Textpassagen, von daher gilt auch hier: vorlesen.
Immersion mit Wermutstropfen
Ersatz für ein Rollenspiel ist Villen des Wahnsinns trotz alledem nicht. Sind die Szenarien auch sehr abwechslungsreich und dicht erzählt – so entspannt sich im fluchbeladenen Innsmouth etwa ein detailliertes Detektivspiel mit verschiedenen Plotsträngen, das die meisten Arkham Horror-Titel wohl kaum darstellen könnten – hält sich die Handlungsfreiheit immer noch in bekannten Grenzen. So wird freudig das Brecheisen gepackt und das Hafenlager gestürmt; nur, damit das Spiel darauf besteht, die Kistenschlösser durch Geschicklichkeitsproben zu knacken. Oder die Öffnung einer mysteriösen Tür erfordert plötzlich jenen silbernen Schlüssel, der zuvor anderswo gefunden wurde; unpraktisch nur, dass diesen gerade ein Charakter trägt, der sich am anderen Ende des Spielplans befindet. Hier scheint der Zufall oft das logische Nachdenken zu überwiegen, denn wer welche Richtung einschlägt, kann entscheidend sein, ohne dass irgendwelche Hinweise eine logische Wahl ermöglichen. Dazu kommt der Faktor Zeit: Man spielt in Villen des Wahnsinns nämlich gegen die Uhr. Das große Unheil des jeweiligen Szenarios nimmt durchaus zügig seinen Lauf, und mehr als atmosphärisches Horror-Detektivspiel gerät das Abenteuer so oft zu einer Rallye, deren Zweck es zu sein scheint, im Schweinsgalopp möglichst viele Hinweise und Ausrüstungsgegenstände zu erbeuten. Dass man dabei nur selten alles erkunden und untersuchen kann, mag den Wiederspielwert erhöhen, zumal die App einige Varianz einbaut. Dennoch dürfte es jenen, die stimmungsvoll in Lovecrafts Horrorkosmos eintauchen und wirklich jeden Winkel und jedes Geheimnis erforschen wollen, sauer aufstoßen.
Fazit
Arkham Horror-Titel weitgehend und limitieren die Handlungsoptionen. Auch erscheinen Geschwindigkeit und Glück im Rennen gegen die Zeit, das den Spielverlauf kennzeichnet, oft wichtiger als tatsächliche Ermittlungs- und Denkarbeit. Dennoch ist die zweite Edition von eine gelungene Erweiterung in Fantasy Flight Games´ Lovecraft-Franchise, die Fanherzen erfreut und Altbekanntes elegant mit digitaler Innovation verbindet.
Die zweite Edition von Villen des Wahnsinns ist eine stimmige Weiterentwicklung des Vorgängers und besticht in vielen Details. Die erforderliche App ist hier keine Spielerei, sondern spielt als Kernstück sowohl der erzählten Szenarien als auch der verschiedenen Spielmechaniken eine zentrale Rolle. Sie beschleunigt und erleichtert viele Abläufe, damit die Spielenden sich ganz auf das immersive Erlebnis einlassen können. Ersatz für ein Rollenspiel ist Villen des Wahnsinns dadurch natürlich nicht, Attribute und Probensystem gleichen denen der anderenBildquellen: Asmodee Deutschland (1, 5), Autor (2,3,4).