Die Unbeschreibbarkeit des Unfassbaren

  • In meinen Abenteuern bevorzuge ich (fast) immer Low-Level-Mythos. Selbst bei Masks of Nyarlathotep habe ich das so gehandhabt. Bei mir gibt es kein 'Bitte lächeln'-Foto neben dem Grossen Cthulhu. Niemals.
    Das heisst nicht, dass es bei uns nicht auch oft richtig zur Sache geht. Ganz im Gegenteil. Die Action gibt allem erst die richtige Würze.
    Verwirrendes... Bizarres... Groteskes... Unnatürliches... ja.
    Spuren... Geräusche... Gerüche... Sinnestäuschungen... und zum Teil Sichtbares... auch.
    Gerne mische ich Purist und Pulp. Aber es gibt nie das volle Mythos-Programm.

    Ähnlich läuft es ja auch in Lovecrafts Werken. Der Horror kommt schleichend und langsam, aber unaufhaltsam. Klopft der Schrecken dann schlussendlich an die Tür, weiten sich die Augen des Protagonisten und er wird bleich vor Angst. Ende der Geschichte.

    Wie läuft das bei Euren Runden ab?
    Bekommen die Spieler die volle Mythos-Dröhnung?

    Nur wenige Menschen sind stark genug, um die Wahrheit zu sagen und die Wahrheit zu hören.
    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

    • Offizieller Beitrag

    Ich würde das bei uns als "von ... bis" charakterisieren, mit dem Schwerpunkt auf "eher subtil". Wobei ich es auch mal richtig pulpig mag und dann auch das volle Programm "mit Tentakeln und allem" gut finde. Würde man das allerdings andauernd machen, so wäre der Effekt denke ich schnell flöten und man hätte dann eher so ein Great Old One of the Week Ding.

    Was mich momentan noch eher theoretisch umtreibt ist der Versuch, den ganz klassischen Lovecraftschen Horror in einer Geschichte rüberzubringen, so wie du es auch beschrieben hast. Also puristisch im Sinne der Geschichten.

  • Im Rollenspiel, wie auch in Lovecraft's Erzählungen, sollten die Mythos-Dinge nur vage angedeutet werden, nur langsam zum Vorschein treten, um genügend Raum für Spekulationen und Ungereimtheiten zu lassen, so dass sich das Kopfkino einschaltet und die Fantasie alles weitere übernimmt.

    Der Horror, den man als echten Schrecken empfindet, nimmt bekanntermassen immer im Kopf Gestalt an; z.B. im dunklen Keller, in dem das Unbekannte lauert...
    Alles ist schemenhaft und undeutlich. Niemals ist etwas gut zu erkennen. Immer ohne klare Konturen. Nebulös. Voller Schemen, welche die Welt furchteinflössend erscheinen lassen.

    Das schafft man, indem man etwas Bekanntes und Vertrautes verfremdet und es dadurch ungewöhnlich und bedrohlich erscheinen lässt. Die objektive Wirklichkeit wird in ein neues, subjektives Licht gerückt; z.B. der Baum, dessen Äste sich im Sturm gegen die Windrichtung bewegen...

    Auch am Spieltisch ist der Trick, so glaube ich zumindest, und das habe ich auch anderenorts bereits mannigfach zum Ausdruck gebracht, dass man etwas verbergen muss, um dadurch Grauen zu schüren, anstatt dieses ES plakativ zur Schau zu stellen, denn sonst wird aus einem Monster nur der Schauspieler in einem Gummianzug.

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

    • Offizieller Beitrag

    Ich habe mir dein Posting gestern zu Herzen genommen und in einer Szene aus Die Bestie ein gewisses Etwas, das eigentlich plump in einem Bett vorzufinden ist, unter quasi einem Moskitonetz verborgen liegen lassen. Sprich: man wusste nicht, was dort liegt und der Spieler hat den "Vorhang" erst mit Hilfe eines Schürhakens [sic!] gelüftet. ;)

    Das ist für mich ein klassisches Beispiel für subtilen Horror, der leider in vielen Abenteuerpublikationen nicht besonders subtil in Szene gesetzt ist.

  • Das freut mich, wenn so etwas gut ankommt. Das müsste auch in die offiziellen Abenteuer eingearbeitet werden, damit auch Newbies derartige Tricks und Kniffe anwenden können.

    Ich habe Dir übrigens ein Älteres Zeichen gegeben... angezeigt wird mir minus 2? Was ist da los?

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

  • Mein Rollenspiel-Abend ist perfekt, wenn der Mythos wie in einer Lovecraft-Geschichte rüberkam. Klar kann es eine Menge Action geben, aber das Übernatürliche sollte selten offensichtlich und nie angreifbar sein.

    Hier im Forum hat purpletentacle mal ein geniales Buch empfohlen: Stealing Cthulhu. Ich habe es noch nicht ganz durch (und ein Cthulhu-Termin mit meiner Gruppe liegt noch in weiter Ferne), aber was ich bis jetzt gelesen habe, gefällt mir sehr gut und geht auch in diese Richtung.

    Grundsätzlich halte ich dieses Thema aber für die Grundproblematik des cthuloiden Rollenspiels: wie erzeut man lovecraftige Stimmung mit Spielern, die eigentlich "Helden" sein wollen? Wie erzeugt man angedeutetes Grauen mit einem Spiel, bei dem es ein Monster-Kompendium und ein Waffenhandbuch gibt? Nicht ganz leicht, immer eine Herausforderung...

  • Ich bin ja bereits des längeren der Ansicht, dass ein Monsterhandhuch der Ruin des Horrors eines jeden Rollenspiels ist.
    Und das aus einem bestimmten Grund. Beschreibungen und vor allem Bilder rauben dem Spieler jedwede Phantasie und nehmen die Überraschung. Der Spieler weiss ja, was kommen wird. Er kennt die Bilder zur Kreatur und damit findet keinerlei Kopfkino statt. Zumal wenn das Viech auch noch einen Namen hat.
    Aber wer sagt denn, dass die selbe Kreatur in unterschiedlichen Kulturen und Ländern nicht auch unterschiedliche Namen trägt? Da kann es doch auch mal zu Verwechselungen kommen, zumal wenn das Wissen nur aus einem alten Schinken stammt? Vielleicht bereiten sich die Char dann auf den falschen Encounter vor?
    Oder unterschiedliche Kreaturen werden für das gleiche Viech gehalten; z.B. Cthulhu und sein Spawn.
    Ich glaube, man könnte viel mehr Horror-Flair ins Spiel bringen, wenn man in dieser Hinsicht ein wenig umdenken würde. Das müsste dann aber mit den Produkten anfangen...

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

  • Bei mir taucht der Mythos so auf, wie es meiner Einschätzung nach realistisch wäre und wird so wahrgenommen, wie ich mir vorstelle, dass er von Menschen wahrgenommen wird.

    Sprich, ich bringe die typischen "Mythos-Trigger" (du hörst, riechst, schmeckst was Komisches, irgendwas an dem Gesicht des Typen beunruhigt dich, du hats ein komisches Gefühl, wer zur Hölle malt sowas??), auch oft im nicht-mythos-Kontext, einfach weil ich das im "echten Leben" genug beobachte. Ich mache das oft davon abhängig, wie viel Mana ein Charakter hat und wie aufmerksam oder sensibel er gespielt wird.
    Das führt zum Einen dazu, dass die Gruppe konstant leicht beunruhigt ist, nicht sofort den "Endgegner" erschießt, weil irgendjemand das Gefühl nicht los wird, etwas stimme nicht, und vor Allem die Spieler dazu neigen, ihren Charakteren nicht mehr so zu vertrauen.
    Was meiner Einschätzung nach den Horror verstärkt und das Spiel unfreiwillig nicht-linear macht.
    Die Welt ist gruselig und bedrohlich genug, das kann man schon mal ruhig heraus arbeiten ;)

    Mythos-Monster gibt es bei mir wohldosiert, auch nach meiner Einschätzung eines realistischen Auftretens. Sprich, einen Ghul in der Kanalisation zu finden, kann schon mal passieren, ein Dunkeljunges, das im Wald vorbei huscht oder ein Hinterwäldler mit Verdacht auf ... nun ja, fischige Vorfahren auch. Wenn dich eine Byakee angreift hast du schon ein ganz massives Problem, und dann gehe ich bei meinen Charakteren von einem derartigen Grundstress aus, dass sie das Ganze nur noch auf ihr Überleben fokussiert wahrnehmen. Sprich kein "Über dir siehst du ein x mit a Flügeln, b Beinen und einer Menge Tentakeln", sondern man realisiert nur, es fliegt, man hört Schnappen oder das Kratzen von Klauen auf Stein, vielleicht spürt man schleimige Tropfen auf seiner Haut oder schlittert über etwas Glitschiges etc.
    Jeder der mal in einer wirklich bedrohlichen Situation war weiß, dass Gehirn und damit auch die Wahrnehmung da anders funktioniert, das versuche ich einzufangen.

    Alles, was in Richtung Großer Alter, Äußerer Gott usw. geht kam bei mir eigentlich nur im Abspann vor. Und dann auch nur, wenn irgendwas ganz gewaltig schief gelaufen sind. Denn sind wir mal ganz ehrlich: Wenn so ein Vieh erstmal da ist, dann wird man es betimmt nicht mit einer Gruppe Ermittler wieder los.
    Nach dem einzigen Kontakt meiner Gruppe mit Azazoth - und sie haben ihn nur durch ein Tor gesehen - nahm sich selbige im darauf folgenden Jahr fast geschlossen das Leben. Das war für mich als Meister konsequent, auf eine gewisse Art sehr erfreulich und zeigt mir, dass ich die Bedrohung ausreichend drastisch rüber gebracht habe.
    Aber führt eben auch dazu, dass ich mir das für besondere Momente aufheben werde, sowas nutzt sich ja durchaus ab.
    Mal abgesehen davon können wir vermutlich auch davon ausgehen, dass nicht alle zwei Woche irgendwo irgendwer beschworen oder aufgeweckt werden soll. Es steht ja nicht immer alles richtig, die Anzahl der Kulte hält sich in Grenzen und seien wir mal realistisch - wenn es alle Nase lang jemand versuchen würde, dann stünde hier länger nichts mehr, so knapp wie das oft wird ;)

    Was ich ziemlich exzessiv mache, weil ich solche Szenen einfach liebe, sind Kontakte mit Menschen, die mit dem Mythos in Verbindung stehen in sozial restriktivem Umfeld. Zum Beispiel auf einer großen Gala, auf der sich der mutmaßliche Gegenspieler so richtig viel Zeit nimmt, mir der Gruppe eine Unterhaltung zu führen. Je nach Fortschritt und Zustand des Abenteuers kann man da auch schon mal ein Kult-Symbol aufblitzen lassen oder ieiner der Charaktere realisiert, dass da irgendwas Schleimiges unter dem Hemd heraus tropft und dass das an der Stelle ohnehin eine ganz eigenartige Form hat...


    Also, lange Rede, kurzer Sinn: Meiner Meinung nach überlebt man eine Begegnung mit dem "vollen Mythosprogramm" einfach nicht. Selbst zwei oder drei Byakee dürften die meisten Gruppen klein kriegen.
    Sprich, ich hebe mir derartige Begegnungen für Oneshots und manchmal Finale auf, aber nur, wenn ich das Gefühl habe, dass die Spieler bereit sind, sich darauf einzulassen, in welchem Ausmaß sie da gerade zerstört werden.

  • Ich bin kein großer Stimmungsspieler, was wohl hauptsächlich daran liegt das ich kein guter Stimmungsspielleiter bin. Meist endeten meine Versuche Stimmung (und das sind die Beschreibungen ja im Grunde) zu erzeugen damit, das ich mich auf SL Seite unsicher und unwohl fühle. Dazu kommt das ich eigentlich wenig Ambitionen dazu habe bei meinen Spielern Horror zu erzeugen.
    Dementsprechend mache ich mir inzwischen sehr viel weniger Gedanken um die Beschreibung, sondern halte mich bei Konfrontation mit dem Mythos meist ganz platt an das was mir Abenteuer oder Monsterbeschreibung liefern.
    Das ist zwar ziemlich faul, aber bisher haben sich meine Spieler nie wirklich beschwert.

  • Sagt Euch der Effekt des Uncanny Valley etwas?

    Diesen Effekt kann man sich immer mal wieder bei Beschreibungen im Spiel zu Nutze machen, um den Mitspielern Reaktionen zu entlocken. Funktioniert praktisch immer.

    Hierbei handelt es sich um die zu erwartende Akzeptanz des Gegenübers in Bezug auf eine Wahrnehmung.
    Wenn man davon ausgeht, das bei anderen Menschen das Zusammentreffen mit einer Tentakelkreatur bei 0% Akzeptanz liegt, hingegen bei einem gesunden Menschen 100% entspricht, dann nimmt die Akzeptanz mit zunehmender Menschenähnlichkeit nicht gleichmässig zu, sondern zeigt einen starken Bruch auf.
    Demnach empfinden Menschen irreale Kreaturen akzeptabler als zunehmend menschenähnlicher werdende, wodurch Zombies, Mutanten oder entstellte / verstümmelte Menschen als noch negativer / bedrohlicher wahrgenommen werden.

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

    8 Mal editiert, zuletzt von Der Läuterer (28. Februar 2016 um 15:42)

  • Dann gibt es die gestaltete Inszenierung La Mise en Scène, bei der es um das in Szene setzen aller für den Char sichtbaren Vorgänge und Gegenstände geht.

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    Ein Waldweg, eine verwinkelte Gasse, oder ein vollgestellter Keller / Dachboden; am besten spärlich beleuchtet, voller Schatten. Die vielen Bäume und die Möbel / Gegenstände sind als solche bekannt und wecken kein Misstrauen.
    Dennoch: die Unübersichtlichkeit und Undurchdringlichkeit erschaffen eine Atmosphäre gegenstandsloser Bedrohung, eben weil der Spieler dieser Situation misstraut und eine defensive Haltung einnimmt. So kann selbst ein komplett leerer Raum eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre erzeugen.

    Der Spieler erlebt dabei einen Kontrollverlust, denn er erwartet natürlich die lauernde Gefahr. Die Spannung wird somit gesteigert, ohne dass etwas passiert (passieren muss). Vielleicht hier ein knacken im Unterholz (Reh), dort ein Flattern (auffliegender Vogel) oder der Schrei eines Käuzchens. Möglicherweise auch ein Baum, der aussieht wie ein Monster, eine Kreatur oder ein Leichnam?
    Hier kommt die paranoide Vorstellungskraft ins Spiel.

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

  • Aber ist dieses Überschreiten des Uncanny Valley nicht auch etwas, dass den Mythos ausmacht?
    Die Dinge sind so unvorstellbar und so bizarr, dass fast alle Gehirne sich darauf einigen, dass da nichts war - die Bilder weiterhin irgendwo schlummern und den Menschen zerfressen usw., das kennen wir ja - aber an sich fallen zumindest die wirklich schlimmen Erscheinungen (minus Ghoule, Mischwesen usw) definitiv hinter das Uncanny Valley. Und - zumindest nach meiner Interpretation - ist das, was die Begegnungen so über alle Maßen verstörend macht, dass, aus welchen Gründen auch immer, der Effekt eben nicht eintritt, das Grauen monoton steigt.

    In meinem Kopf formt sich gerade ein spannender NSC, der dieses Phänomen untersucht, aber das ist ein bisschen Off-Topic ;)

  • Def.: Als Uncanny Valley (engl. unheimliches Tal) bezeichnet man einen bisher hypothetischen und paradox erscheinenden Effekt in der Akzeptanz von dargebotenen künstlichen Figuren auf die Zuschauer.

    Bsp.: http://spectrum.ieee.org/image/MTY2NDIwNg

    Es geht nicht um das Überschreiten des Uncanny Valley, sondern darum, das Uncanny Valley zu benutzen, um Schrecken zu erzeugen.

    Beim Uncanny Valley i.B.a. CoC geht es darum, sich etwas bildlich mit maximaler emotioneller Schock-Reaktion vorzustellen.

    Und ja. Du hast völlig Recht, die wirklich schlimmen Erscheinungen (besonders Ghatanothoa in seiner ganzen versteinernden Pracht) fallen definitiv NICHT in dieses Uncanny Valley.

    Vermutlich hat ein ekelerregendes, abstossendes Aussehen in der menschlichen Evolutionsgeschichte den Effekt gehabt, dass sich die Gesunden von den Kranken fern halten, um eben selbst nicht auch zu erkranken.

    Bsp.: https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/736x/a7/6b/d5/…0300d32f4c1.jpg

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

  • Ah, ich dachte immer "Uncanny Valley" wäre eben dieser Bereich des größten Grauens, der eben in erster Linie mit "Menschenähnlichem" erreicht wird. Danke für die Ergänzung.
    Ich versuche mal noch mal aus einer anderen Richtung auf den Punkt zu bringen, was ich meine: Ich weiß, dass Schrecken erzeugen über Uncanny Valley recht einfach ist. Aber ich denke auch, dass das "kosmische Grauen" nur erreicht werden kann, wenn man sich vom menschenähnlichen löst und dabei trotzdem das Grauen beibehält, oder im Idealfall sogar verstärkt.
    Verstehst du, was ich meine?

  • Ja, ich weiss genau was Du meinst. Das Problem ist nur, dass man nichts beschreiben kann, was der Verstand nicht zu erfassen vermag. Und wenn man dennoch versucht dieses grosse, kosmische Grauen zu beschreiben, dann driftet so etwas ganz, ganz schnell ins Lächerliche ab. Das killt dann jede Atmo.
    Sprich: Das kommt dann schnell so rüber, wie in einem alten Godzilla-Film, bei dem man sofort das Gummioutfit erkennt, weil man den Reissverschluss sieht.

    Angst, in diesem Fall reaktive Angst, ist eine überlebensnotwendige Reaktion auf äussere Ereignisse; ein gegenstandsbezogener Grundaffekt (d.h. eine heftige Gemütsbewegung). Sie entsteht aus einer Notwendigkeit heraus und verlangt eine Reaktion; z.B. Flucht, aber auch Angriff oder Erstarrung.

    Ob für dieses Gefühl der Angst nun ein übernatürliches Wesen (das kosmische Grauen), nicht wissenschaftlich erklärbare Phänomene oder normal erscheinende Mörder verantwortlich zu machen sind, ist zuerst einmal nebensächlich. Wichtig ist, dass das gewählte Mittel auf eine lebensbedrohliche oder traumatische Wirkung abzielt.

    In einem Rollenspiel, das sich nahe an die reale Welt anlehnt, wird der Schrecken als viel direkter und brutaler empfunden, als in einer Fantasy- oder SF-Welt. Es ist die Nähe zur Realität, die als bedrohlich wahrgenommen wird, da das Geschehen tatsächlich passieren könnte.
    Sprich: Das kleine, durchgeknallte Mädchen, das im Elternhaus zuerst den Puppen den Kopf abreisst, dann den Hasen massakriert und schliesslich mit dem Rasiermesser in der Hand grinsend am Fussende des Bettes sitzt... Muahahaha.

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  • Wenn man so etwas wie den grossen, kosmischen Horror beschreiben will, dann sollte man auf Bilder zurück greifen, mit denen der Spieler etwas assoziieren kann. Der Trick dabei? Man präsentiert nicht das grosse Ganze, sondern nur Ausschnitte. Die Verbindung von bekannten Sinneseindrücken kreiert dann im Kopf etwas Neues. Etwas Verstörendes. Etwas Unerhörtes. Etwas Unfassbares.

    Das Wichtigste und Unerlässlichste ist dabei eine ausgeprägte und blumige Bildsprache, um die eigene Vorstellung in die Köpfe der anderen Spieler zu pflanzen. Viele Adjektive sind dabei besonders hilfreich. Den Rest erledigt dann das Kopfkino.

    Ich hatte mal eine Gruppe, die in den Unterschlupf eines Ghouls eingedrungen war, der sich von Baby- und Kinderleichen ernährte. Ich hatte damit so sehr den Nerv der Spieler getroffen, dass sie den Unterschlupf unverrichteter Dinge wieder verliessen, weil sie meine Beschreibungen nicht mehr ertrugen.

    Wichtig ist also, dass man mit Worten alle Sinne anspricht, um den Char in eine unangenehme oder bedrohliche Situation zu bringen. Dabei ist es wichtig, zuerst einmal das Gehör und den Geruchssinn zu beflügeln; erst später kommt dann das Sehen hinzu. Die Eindrücke muss der Spieler und nicht der Char zuordnen können.

    Ich ziehe gerne einen Vergleich mit etwas Bekanntem. Das spricht die Vorstellungskraft der Spieler an und weckt deren Interesse. Dann lenke ich mit ein, zwei Banalitäten ab, verwirre, täusche - und dann erst schocke ich.
    Bsp.: Der Char geht durch ein finsteres Gewölbe.
    „Als Du voran schreitest, nimmst Du einen leichten Geruch, wie von gärenden Bananen, wahr.“ (Grübeln! Was riecht wohl so?)
    „Der Keller ist feucht und warm (Achtung! Seltsam!). Und Du hast beim Atmen ein beklemmendes Gefühl. Dein Mund ist trocken, als hättest Du lange Zeit nur durch den Mund geatmet.“
    „Der Schein Deiner Taschenlampe vermag das Ende des Raumes nicht zu erreichen (Dunst? Oder optische Täuschung?).“
    „Der Boden ist feucht und trügerisch.“ (Der Char wird ausgebremst.)
    „Alles ist still. Nur ein paar Tropfen, die in Pfützen fallen.“ (Vielleicht stutzt der Spieler jetzt, denn von seinen eigenen hallenden Schritten war bisher noch nicht die Rede.)
    „Plötzlich hörst Du ein Geräusch, als würde ein riesiger Klumpen Gelee über den Boden gezogen werden.“ (Wie hört sich so etwas wohl an? Und das Beste daran, der Spieler weiss es auch nicht - Kopfkino total.) Orientierungs-Wurf (Woher kommt das? Hat sich der Char schon verirrt?)
    „Alles ist wieder still... bis auf das stetig monotone Tropfen.“
    (Jetzt nimmt man sich der Befürchtungen des Spielers an. Jeder Spieler äussert irgendwann seine Vorstellungen zur Situation. Diese Befürchtungen werden nun umgesetzt und wahr gemacht - das bestärkt den Spieler in seiner Panik und in seiner Paranoia.)
    „Ein Tropfen (Wasser? Blut? Säure?) fällt auf Deine Stirn/Hand.“
    Der Char leuchtet natürlich nach oben.
    „Fetzen (Stoff? Haut? Algen? Gedärme?) hängen tropfend von der Decke (Verwirrung!), sind aber ausserhalb Deiner Reichweite.“ (Vielleicht ja auch besser so!)
    „Du trittst auf etwas, das unter Deinem Schritt nachgibt und zerplatzt, als würdest Du auf eine verschlossene Chips-Tüte treten. Danach stehst Du mit dem rechten Bein in einer leichten Bodenkuhle und Dein Schuh macht dabei ein schmatzendes Geräusch, während gleichzeitig eine zähe Flüssigkeit hoch spritzt und Deine Kleidung besudelt. Ein durchdringender, süsslicher Geruch, wie von Erbrochenem, dringt in Deine Nase.“
    Jetzt sollte der Char vielleicht besser den Rückwärtsgang einlegen. Macht er aber nicht. Was macht er? Richtig! Er schaut nach unten. An dieser Stelle bitten wir nun den Spieler um einen Wurf auf geistige Stabilität. Wenn er dann noch bei Sinnen ist (und nur dann - das bringt nämlich sein Kopfkino weiter zum Kochen), beschreibt man ihm genüsslich den Anblick, der sich ihm jetzt bietet.

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    - Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues -

  • Ich versuche gerne, das Grauen möglichst vage zu beschreiben. Ich würde dabei nicht soweit gehen, wie Lovecraft selbst ("spottete jeder biologischen Erkenntnis" o.ä.), der ja auch gerne mal mit Superlativen um sich schmiss. Ich lege Wert darauf, dass die Beschreibung einer Erscheinung oder Kreatur nur so genau ist, dass sich jeder am Tisch das grobe Aussehen vorstellen kann. Sie muss so vage bleiben, dass jeder für sich das Bild so vervollständigen kann und das für sich maximal Schreckliche darin sehen kann. Auf keinen Fall, nie, nenne ich irgendwelche Kreaturennamen, wenn es im Abenteuer keinen absolut plausiblen Grund dazu gibt. Das Unfassbare lebt von seiner Einzigartikgkeit. Die meisten von Lovecrafts Protagonisten erleben das Unfassbare ja auch nur in einer Form, die sie schon völlig aus der Bahn wirft.
    Ich beschreibe nur gerade so viel wie nötig, mit Fokus auf die Details, die für jeden Charakter das Schlimmste bedeuten dürften (Die Chirurgin schockt die zerfetzte Leiche nicht, aber, dass sie sich bewegt ist nicht richtig, für den Okkultisten ist vielleicht gerade das faszinierend, aber das ganze Blut ...).

    Da die Spielerinnen und Spieler natürlich viel abgeklärter sind, als ihre Charaktere, beschreibe ich in Schlüsselsituationen auch direkt die Empfindungen der Charaktere. Meiner Erfahrung nach machen das die Spieler*innen meist selbst nicht, sei es, weil sie wollen, dass ihr Charakter tapfer wirkt oder weil sie es (teils berechtigt) realistisch finden, dass er sich keine Blöße gibt. Da der Ekel, das Grauen, das Unfassbare aber Eindrücke sind, die eher auf einen Charakter niederprasseln, als dass er sie trocken wahrnimmt, versuche ich Worte zu benutzen, die bei jedem Charakter die maximale Wirkung haben. Trail bietet einem mit den Drives, Sources of Stabilty und Pillars of Sanity ja auch gute Instrumente dafür, die Charaktere dort zu packen, wo es am meisten weh tut.

    Letztendlich kommt es mE sowieso zum größten Teil darauf an, wie sich die Gruppe am Tisch auf den Horror einlässt, gerade wenn sie vielleicht eher aus der D&D-Ecke kommt. Daher ist für mich unvermeidbar vor der Runde genau zu klären, worum es gehen wird. Aber das ist schon wieder ein Thema für sich.

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