Lovecrafter Online – Filmkritik: Chapelwaite


Lovecrafts Horror ist im doppelten Sinne literarisch. Er ist Literatur, aber dreht sich selbst um schriftlich vermitteltes Wissen. Der Horror fällt daher oft in Form von Folianten, Schriftrollen oder in Buchform über die Protagonist*innen her. Das Necronomicon ist eines dieser schreckensbringenden Bücher. Genau genommen ist es das fiktive Werk Lovecrafts schlechthin. Das Necronomicon von Jörg Kleudgen ist nun keiner der traurigen Versuche ein Necronomicon zu fälschen (ja, das gibt es wirklich), sondern eine Geschichtensammlung, die den Mythos um den mythischen Text weiterspinnt. In 11 reich illustrierten Kurzgeschichten widmen sich Autor*innen aus der Cthulhu-Community dem Thema und legen durchaus unterschiedliche, aber durchweg gelungene Kurzgeschichten vor.
In seiner Einleitung stellt uns Dr. Rainer Zuch das engagierte Projekt treffend vor. Er steigt mit der Frage ein, ob es sich überhaupt noch lohnt mit einem so klassischen Motiv zu arbeiten (ja, es lohnt sich) und gibt die Geschichte des Necronomicons sowohl aus Lovecrafts Perspektive als auch in Hinblick auf das popkulturelle Nachleben wieder. Der kurze Text endet mit einer Kontextualisierung der Rolle des Mediums Buch für lovecraftesken Horror, wobei Zuch treffend Foucault bemüht. Ein starker Einstieg jenseits von generischen Vorworten und Lobeshymnen.
Das Buch, namentlich das Necronomicon, ist dann auch Thema aller Geschichten, die sich irgendwie um den Einfluss, die Entstehung oder eine Wiederentdeckung des ‘Buchs der toten Namen’ drehen. Dementsprechend bibliophil fällt auch das Produkt selbstselber aus. Das Hardcover mit Lesebändchen kommt mit zahlreichen Illustrationen daher, wurde von Eric Hantsch wunderbar gesetzt und ist auch eine haptische Freude. Die Illustrationen von Kleudgen verdienen eine eigene Würdigung, da sie das Buch zum Hingucker machen, auflockern und durch den Kohlestil einen angenehm altertümlichen Anstrich geben. Leider stehen Text und Bild wider Erwarten nicht immer in Bezug und sind vereinzelt sogar widersprüchlich zueinander. So etwa, wenn man eine Zeichnung als den angedeuteten Mystiker interpretiert, der aber bei seinem Auftritt eine ganz andere Barttracht trägt als im Bild; oder wenn eine Hexe gezeigt wird, die in der jeweiligen Geschichte keinerlei Entsprechung hat, aber unsere Erwartung der erwähnten grauen Eminenzen prägt. Wo aber der Zusammenhang gelingt, bin ich restlos begeistert, gerade da der Phantasie in den Zeichnungen genug Spielraum gelassen wird. Dennoch wurde hier etwas Potential verschenkt.
Den literarischen Einstieg macht Tobias Bachmann. Der erfahrene Mythosautor nimmt in Liber Natas einen Todesfall im Kontext einer Buchauktion zum Anlass eines Mystery-Krimis. Er schafft es, ein verstörendes Milieu in Szene zu setzen und an unsere Lebensrealität andocken. Die humoristischen “Anspielungen” auf Horrorkollegen mögen nicht jedermanns Sache sein, tun der Geschichte aber keinen Abbruch. Überzeugt hat mich schließlich ein historischer Aspekt im letzten Drittel, der einige Vorstellungen auf den Kopf stellt. Manches bleibt mir zu nah am Erwartbaren, insgesamt ist es aber eine mehr als unterhaltsame Geschichte, die mich im Bann des Buches gehalten hat.
Der, der alles gelesen hat von K. R. Sanders ist schon etwas ungewöhnlicher, indem sie uns ins maurische Córdoba mitnimmt. Ohne unnötigen Exotismus nimmt Sanders hier die Perspektive eines einfachen, wenngleich begnadeten Buchbinders ein und lässt auch einfache Tuchhändler zu Wort kommen. Beginnend als Liebeserzählung kommt der Mythos in Gestalt eines allbelesenen Reisenden in die Geschichte. Der wird äußerst stark und bedrohlich über Erzählungen von Zufallsbegegnungen eingeführt, bevor er direkt in Szene tritt. Das Ende kommt schließlich wie ein Paukenschlag in die Magengrube …
Die sieben Schwestern von Frank Eschenbach sind äußerst ambitioniert und bewegen sich im literarischen Feld zwischen Poe und Lovecraft. Als jemand, der mit Poe zur Phantastik kam, konnte mich der atmosphärische Schreibstil sofort abholen. In unterschiedlichen Dokumenten wird die Verfallsgeschichte eines Paares erzählt, das vor der Auswanderung in die Staaten und dem Aufbau von Handelsrouten nach Innsmouth in ein einsames Haus in den britischen Downs zieht. Windgepeitscht und durchnässt verarbeitet der Protagonist – kein geringerer als Jefferson Marsh – einige Schicksalsschläge und kommt mit dem cthuloiden Horror in engen Kontakt. Die sich entfaltende Pseudokosmologie ist durchdacht, erschließt sich aber nicht sofort, da sie verschiedene Versatzstücke miteinander verwebt. Der eigene Werkstattbericht zur Geschichte ist mir eine Nummer zu hoch gegriffen, allein atmosphärisch gehört die Geschichte aber tatsächlich zu meinen klaren Favoriten des Bandes.
Mein anderer Favorit ist Projekt N. N. von Ina Elbracht. Der Fairness halber sei vorweggenommen, dass ich ein großer Bewunderer ihrer Arbeit bin und man mir daher vielleicht auch eine gewisse Voreingenommenheit unterstellen darf. Das nicht zuletzt auch, weil ich es als Kind des Ruhrgebiets äußerst schmeichelhaft fand, dass das Projekt in Duisburch (sic!) angesiedelt ist. Ihr gelingt es tatsächlich ein gewisses Heimatgefühl auszulösen und fast kam so ein bisschen was wie Lokalstolz in mir hoch, den ich natürlich schnell die Ruhr heruntergespült habe. An der längsten Geschichte des Buches schätze ich die unfassbar leichte wie präzise Sprache und die Fähigkeit, den Ruhrgebiets-Kolorit durch Mundart und historische Elemente einzufangen. Auch das Gewebe der Geschichte ist mehr als überzeugend gelungen. Elbracht erzählt ihre Geschichte durch Perspektiven aus mehreren Generationen und greift dabei treffend unbekanntere historische Ereignisse auf. Der Ton und die Einbettung des Mythos dürfte Puristen dabei jedoch irritieren. Das kosmische Grauen kommt doch etwas direkt hinein und der Ton ist nicht beklemmend, sondern eher offen und bei allem Schrecken spielerisch-positiv. Nichtsdestotrotz oder genau deswegen ist es für mich die Geschichte, die den cthuloiden Stoff am produktivsten umsetzt und am nachdrücklichsten von einer Pastiche entfernt.
Kleudgens Triumph des Archetypus setzt die Reihe starker Geschichten mühelos fort. Er lässt seine Geschichte im Kunstmilieu beginnen und schließt daran eine Jagd nach dem Necronomicon an. Hintergrund seiner Mythosinterpretation ist die Archetypenlehreund das kollektive Unterbewusstsein von C.G. Jung, die großen Einfluss auf die phantastische Literatur hatte und sich hier sehr passend mit dem Mythos verwebt. Das gelingt überzeugend: Cthuloider Horror erscheint hier als kollektive Angst vor urzeitlichem Schrecken. Ein paar klassische Horrorszenen konnten mich nicht überzeugen, der unterhaltsame Schreibstil und die zahlreichen Referenzen gepaart mit einem interessanten theoretischen Unterbau machen die Geschichte aber äußerst lesenswert. Insbesondere auch, weil zum Ende hin aktuelle technische Entwicklungen eingebettet werden und Bezüge zu den Motiven der anderen Geschichten hergestellt werden, die man teilweise auch bei den anderen Texten des Bandes erahnen kann.
Uwe Voehls Winkende fällt deutlich kürzer aus und hat eine recht zynische, aber nicht sonderlich innovative Grundannahme. Dafür glänzt die Geschichte durch einen nüchternen Schreibstil, der die soziale Kälte der beiden Protagonist*innen wunderbar einfängt. Er stellt den Verfall und die Andersabartigkeit eines Ortes wunderbar heraus und legt Fährten zum Nachdenken, ohne jedoch etwas davon aufzulösen. Eine verstörende Geschichte im besten Sinn, gerade wenn man sie noch etwas sacken lässt.
Nicht tot, sondern träumend von Carsten Schmitt verbindet mehrere unabhängige Szenen. Auch hier funktioniert viel über Andeutungen, wobei sich mir der abschließende Zusammenhang nicht ganz erhellt. Das lässt sich verschmerzen, da alle Szenen für sich atmosphärisch sind, wenngleich so ein bisschen an Tiefe verloren geht. Besonders gelungen fand ich den Einstieg über eine lost places Expedition und den Flug über einen rumänischen Ur-Wald. Aber auch hier soll nicht gespoilert werden …
Zum Abschluss kommt noch einmal Kleudgen zu Wort, der die letzte Geschichte gemeinsam mit Sanders verfasst. Die kurze Geschichte ist eine direkte Hommage an Lovecraft, die noch einmal einen Bogen über Sanders und Kleudgens vorhergehende Geschichten spannt und uns so mit einigen neuen Impulsen und Rückblicken galant aus dem Buch entlässt. Eine runde Sache!
Ein paar Geschichten habe ich bisher ausgelassen. Das tatsächlich, weil sie mich nicht in vollem Umfang begeistern konnten. Auch hier gilt allerdings, dass mich keine ernsthaft enttäuscht hat. Alle sind durchweg gut geschrieben und weisen mindestens einzelne Aspekte auf, die sie interessant machen. Das Buch von Michael Siefener hat etwa einen interessanten Blickwinkel und die Idee der Entstehung des Necronomicons – hier bin ich vage, um nicht zu spoilern – gefallen mir durchaus gut. Allein das Ende und die etwas zu direkten Nähen zu Lovecrafts fiktive Geschichte des Necronomicons haben mich nicht ganz abholen können. Calliope von Christopher Müller führt ins eisige Arkham und hat eine interessante Protagonistin, wird mir aber zu blutig und etwas zu absehbar. Rainer Zuchs Buch der toten Namen blieb mir hingegen trotz Inselmotiv zu trocken. Obwohl detailliert beschrieben, konnte mich die Traumreise in die tote Welt nicht in den Bann ziehen. Die philosophischen Überlegungen gen Ende gleichen das jedoch etwas aus.
Ich bin ehrlich: Das Necronomicon habe ich mir zuerst nur angeschaut, um einen Überblick zu gewinnen, was gerade in der deutschsprachigen Cthulhu-Community passiert. Ich war skeptisch, ob ich tatsächlich jede Geschichte lesen würde oder mich der doch eher genrenahe Ansatz langweilt, zumal die Qualität solcher Geschichten oft durchwachsen ist. Die Bedenken haben sich aber offenkundig nicht bestätigt. Das Necronomicon ist eine qualitative und äußerst unterhaltsame Lektüre, die positiv heraussticht. Hier findet sich keine Geschichte, die mich wirklich enttäuscht hätte und stattdessen eine Vielzahl an positiven Überraschungen. Oft genug wollte ich mehr über die Geschichten und ihre Charaktere und Mythen erfahren. Auch die Haptik und die zahlreichen Illustrationen des Buches machen die Lektüre zum Vergnügen. Bedenkt man die üppigen 300 Seiten, die Ausstattung und die Tatsache, dass es sich hier um einen Privatdruck handelt, sind auch die 40€ mehr als gerechtfertigt. Wer Lust hat, sich in cthuloide Abgründe zu wagen, sollte das Necronomicon dringend aufschlagen. Nur bitte nicht das echte …
Wie für ein so gefährliches Buch zu erwarten, ist das Necronomicon nicht über den regulären Buchhandel zu beziehen. Eine Bestellung ist ausschließlich per Mail an joerg@the-house-of-usher.de möglich.
Alle Illustrationen mit freundlicher Genehmigung von Jörg Kleudgen