Lovecrafter Online – Rezension: Ein Lied für die Stille

Howard Phillips Lovecraft war nicht der eigenbrötlerische Einsiedler aus Providence, wie es lange Zeit ein gängiges Klischee war. Zwar verließ er nie den amerikanischen Kontinent, er reiste aber quer durch die USA, um sich mit seinen vielen Freunden und Bekannten zu treffen, er kam sogar bis nach Kanada durch seine Ausflüge. Oft erkundete er alte und neue Umgebungen mittels Spaziergängen ad Aspera und informierte sich vorher durch ausführliche Studien über interessante Ziele. Er erstellte Reiseberichte über Orte, die er selbst nie besucht hat. Für seine Besucher in Providence war er oft der Reiseführer, eskortierte sie mit viel Hintergrundwissen zu denkwürdigen Sehenswürdigkeiten. In diesem Geiste nutzen wir hier die anstehende Urlaubssaison, um mit Lovecraft einmal auf eine filmische Reise an exotische Orte zu gehen und dabei ein paar lovecraftesk gelagerte Filme vorzustellen.
Teil Eins: Exotische Schrecken
Ägypten
Das exotische und antike Ägypten nutzte Lovecraft oft als Hintergrund und als zeitlichen Anker für weiter zurückliegende Schrecken. Er etablierte so eine Aura der Fremdartigkeit und Ehrfurcht vor den Dimensionen des kosmischen Zeitstroms. Vor allem die Toten-Mythologie und die Pharaonen hatten es ihm angetan, entstammten doch die Namen des Mythos-prägenden Nyarlathotep, der in der Erzählung schon äußerlich als Pharao charakterisiert wird, und Yog Sothoths hierher. Ebenso entsprangen dieser alten Kultur am Nil die bei Lovecraft vorkommenden realen und fiktiven Pharaonen Nephren-Ka und Nitokris. Die berühmte antike Stadt findet in Geschichten wie Shadow out of Time, Medusa's Coil oder The Horror at the Museum Erwähnung. Vor allen anderen muss natürlich auf die berühmte Auftragsarbeit für Harry Houdini verwiesen werden. Die Geschichte Under the Pyramids a.k.a Imprisoned with the Pharaos beschreibt einen fiktiven Tripp Houdinis ins alte Ägypten, wo er letztlich in geheimen Gängen tief unter der Sphinx eine unheimliche Horror-Prozession altägyptischer Monster-Kreaturen beobachtet.
Sehr viele Parallelen zu dieser Geschichte weist der Horrorfilm The Pyramid von 2014 mit dem fluffigen Untertitel ‘Grab des Grauens’ auf. Hier untersucht eine kleine Gruppe von Archäologen eine neu entdeckte, dreiseitige Pyramide, die tief unter dem Wüstensand verborgen liegt und unendlich viel älter ist als die berühmten Gegenstücke in Gizeh. Kaum hat die Öffnung eine tödliche Pilzfreisetzung verursacht, droht der arabische Frühling die Expedition zu unterbrechen. Das führende Vater-Tochter-Gespann setzt sich über die Anordnung zur sofortigen Einstellung der Arbeiten hinweg und lässt den mitgebrachten NASA-Rover die freigelegten Gänge erforschen. Als dieser durch eine mysteriöse Kreatur havariert, beschließen die Forscher, mit der zurückgebliebenen fünfköpfigen Gruppe in die Pyramide hinab zu steigen.
Neben weiten, verzweigten Gängen, mysteriösen Hieroglyphen und einigen tödlichen Fallen erwarten sie monströse Überraschungen in der Tiefe. Schon bald haben sie sich verirrt, das Pyramideninnere erweist sich als viel weiter und verwirrender als zunächst vermutet. In der dem Totenreich des Osiris gewidmeten Opferstätte bedrohen fleischfressende Sphinx-Katzenwesen die langsam schrumpfende Gruppe. Sie versuchen das Rätsel der Pyramide mit ihren Todesfallen zu lösen, um den Weg an die Oberfläche zurückzufinden. Doch in der tiefsten Kammer der Pyramide lauern noch die Mysterien der uralten, bösartigen Gottheit Anubis. Der Film versucht die Ereignisse als Found-Footage Geschichte zu erzählen, was nur bedingt gut und in sich logisch gelingt. Es werden hier alle abgegriffenen Tropen der Ägypten- und Pyramiden-Filmhistorie verbraten, nahezu jedes Klischee abgegrast.
Wie bei Lovecraft bedient sich der Film der Kombination Archäologie, Astronomie und Antike, wenn er Mythen, Technologie und Sternenkonstellationen nutzt, um seine Geschichte mit Tiefe auszustatten. Die Fakten der Ägyptologie hat Lovecraft noch dem Reiseführer Baedeker entnommen, unser Mann aus Providence bekommt seine Fakten aber besser in den Griff als der den Götterkult der Ägypter falsch und verzerrend darstellende Film. Auch Lovecrafts Katzen von Ulthar sind dabei deutlich bedrohlicher umgesetzt als die CGI-Sphynx-Katzen des Films, sein Houdini ist besser charakterisiert und weniger nervig als alle Teilnehmer der Pyramiden-Exkursion zusammen. Das unheimliche Innere einer Pyramide, die Klaustrophobie, die Angst vor dem Eingeschlossensein und der Panik, verschüttet zu werden sowie der vor dem Unbekannten, das im Dunkeln der langen Gänge lauert bekommt The Pyramid aber schön auf den Bildschirm übertragen. Wenn im Finale eine antike Gottheit im Shaky-Cam-Modus steil geht, ist das für einen gemütlichen Sommerabend allemal unterhaltsam, auch wenn das Logikzentrum des Gehirns besser eine kleine Pause einlegen sollte.
Südamerika
Apropos Pyramiden. Diese sind oft als Ort des Schreckens genutzt worden, man denke nur an das Fundament des berühmt-berüchtigten Nachtclubs Titty Twister in From Dusk till Dawn. Wenn George Clooney gegen bizarre Vampirgeschöpfe um sein Überleben kämpft, geschieht dies auf der Spitze einer verschütteten Pyramide; also an der antiken Opferstätte, wo Unschuldigen das Herz entfernt und an die Götter übergeben wurde. Mexikanische Mythen und die ausgestorbenen Kulturen Südamerikas thematisierte Lovecraft in der Geschichte The Transition of Juan Romero, wo der besagte Romero mit aztekischen Zügen beschrieben wird und in der Tiefe eines Minenschachtes verschwindet. Daneben sucht man nach südamerikanischem Gold in The Mound und reist im Zug nach Mexiko in The Electric Executioner, einer Kooperation, die Lovecraft für Adolphe de Castro schrieb.
Zu einer südamerikanischen Pyramide geht auch die Reise einiger Touristen in dem Film Ruinen/Ruins (2008), nach dem Roman von Scott B. Smith, der auch das Drehbuch verfasste. Die noch unerforscht im Urwald gelegene Pyramide wird für die Gruppe zur Todesfalle, kaum dass sie sie erreicht haben. Ein Stamm von Ureinwohnern bewacht die offenbar heilige Stätte und lässt sie nicht mehr von dort weg, sie morden dafür sogar. Bei der Untersuchung der Pyramide stoßen die Gestrandeten auf Überreste vorheriger Besucher und eine fleischfressende Pflanzenart.
Diese befällt die Gruppe wie ein Virus und führt neben der Hitze, dem Wassermangel und der Isolation mehr und mehr zu Wahnsinn und Paranoia. Diesen Überlebenskampf schildert der kleine Horrorreißer effektiv und streckenweise unangenehm drastisch. Bis auf eine sehr unheimliche Sequenz im Inneren der Pyramide geschieht das Grauen hier in grellem Tageslicht, ähnlich dem später entstandenen Midsommar. Die Panik und Unerbittlichkeit der ausweglosen Situation wird spürbar und mitreißend dargestellt und sorgt für einen spannenden Filmabend mit durchaus lovecraftesker Atmosphäre.
Wenn auf die moderne Technik - wie das ubiquitäre Handy - nicht mehr vertraut werden kann, überträgt eine der beängstigenden Sequenz des Filmes Lovecrafts in Das übernatürliche Grauen in der phantastischen Literatur postulierte Motto perfekt auf der Leinwand: ”...eine bösartige und besondere Aufhebung oder Überwindung jener feststehenden Naturgesetze, die unseren einzigen Schutzwall gegen die Angriffe des Chaos und der Dämonen des unergründlichen Weltalls darstellen.”
Wer etwas Body-Horror vertragen kann, hat mit Ruins einen schönen, spannenden Horrortrip in den Dschungel gebucht, der für sein kleines Budget mit einigen beeindruckenden Bildern aufwarten kann.
Wer so etwas mag und noch etwas folkloristischen Dämonenglauben, Besessenheit und die Manifestation des Bösen auf Erden als Bedrohung haben möchte, ist bei dem kleinen argentinischen Horrorfilm When Evil Lurks (2023) gut aufgehoben. Wir erleben hier hautnah mit, was geschieht, wenn eine wenig gebildete Landbevölkerung - wie sie schon Lovecraft in Beyond the Wall of Sleep mit Joe Slater überzeichnet hat - jede gebotene Gelegenheit nutzt, alte Regeln zu missachten und dem Bösen zur Wiedergeburt zu verhelfen. Die Tristheit der abgelegenen Region und die sozialen und kulturellen Fragen spricht der Film deutlich differenzierter an als Lovecraft und bietet ein frisches und schockierend deftiges Szenario an. Etwas zu lang geraten, stellt When Evil Lurks einen qualitativ überdurchschnittlichen Dämonen- und Exorzismus-Reißer dar.
Indien
Das der zuvor zitierte Juan Romero einen hinduistischen Ring trug, ist nur eine der Referenzen Lovecrafts an den Subkontinent. So schildert er seine Ankunft in New York mit : “… Visionen von den Küsten Indiens, wo in weihraucherfüllten, von Gärten umgebenen merkwürdigen Pagoden hell gefiederte Vögel singen und Kameltreiber in grellbunten Gewändern vor Sandelholztavernen mit Seeleuten feilschen…” - S.T. Joshi / Lovecraft L+W
Indien war bei Lovecraft mehr ein Stimmungsort, ein mit Fremdheit, Mystik und vielleicht etwas Sehnsucht assoziierter Platz, in gewissem Grade eine Trope für ein bestimmtes Atmosphären-Setting. Wenn Randolph Carters Best Buddy Warren ein bestimmtes Buch aus Indien zitiert, ist das vor allem ein cleverer und einfacher Schachzug zum Szenenaufbau und dient einem geführten Erwartungsmanagement beim Leser.
Ähnliches kann man dem Film The Other Side of the Door (2016) attestieren. Hier wird Indien vor allem als exotisches Setting für eine Geistergeschichte herangezogen. Eine trauernde und mit Schuldgefühlen beladene Mutter erhält in einem abgelegenen indischen Tempel die Möglichkeit, sich von ihrem in einem tragischen Unfall verstorbenen Sohn zu verabschieden. Natürlich missachtet sie die EINE Sicherheitsregel, die nicht gebrochen werden darf: Öffne niemals das Tor, hinter dem die Stimme aus dem Jenseits angesiedelt ist. So entfesselt sie das Böse und bringt ihre gesamte Familie in tödliche Gefahr. The other Side of the Door ist eher eine Geistergeschichte wie sie Lovecrafts dunkles Idol M.R. James hätte verfassen können. Ein paar lose Assoziationen an Lovecraft Werke wie den Traumlande-Zyklus und The Outsider kann man mit Wohlwollen finden. Immerhin ist das Ganze in stimmungsvolle, schöne Bilder verpackt, gut gespielt und bietet genug Schauwerte, Exotik und Spannung, um einen gepflegten Gruselabend ohne wirkliche Überraschungen zu verbringen.
Australien und die Wüsten der Erde
Einen weiteren, exotischen Hintergrund in Lovecrafts Werk stellen sowohl die abgelegenen Wüsten wie auch der australische Kontinent dar. Letzterer ist vor allem in The Shadow out of Time Handlungsort für abgelegene Tempelanlagen der 'Großen Rasse’. Seine Informationen bezog Lovecraft hier aus der Enzyklopädia Britannica und seine Aborigines sind von seinen rassistischen Vorurteilen geprägt.
Eine solche Lesart dreht der eigenwillige Film The Last Wave (1977) von Peter Weir geschickt um und lässt den Zuschauer in die Kultur und Mythen der Ureinwohner des Kontinents eintauchen. Wir lernen mit dem von Richard Chamberlain verkörperten Anwalt über den Mordprozess gegen vier Ureinwohnern die Rituale und die Verbundenheit mit der Natur kennen. Chamberlains Charakter David lernt sogar, dass er selbst und seine Träume eine Verbindung zu dieser Welt und der Traumwelt als sogenannter Mul Kurul hat. Diese Qualitäten hat er schlicht vergessen oder verdrängt, in seine Visionen und Träume ausgelagert, wie es der moderne Mensch oft tut. Da ist der Film wieder bei Lovecraft, der sich selbst als falsch in seiner Zeit empfand und eher der Vergangenheit huldigte.
Mit einer faszinierenden, traumhaften Atmosphäre und einer doppeldeutigen, mystischen Darstellungsweise kann die Mischung aus Krimi- und Familiendrama mit apokalyptischen Elementen durchaus faszinieren, selbst wenn oder gerade weil er für heutige Gewohnheiten zu langsam inszeniert ist und zu intellektuell daherkommt. Sicher kein Mainstream, aber für Aufgeschlossene eine Erfahrung für sich.
Dass es in der Wüste so manches in der Tiefe der Erde zu entdecken gibt, wissen wir seit The Nameless City zu genau, wo unterirdische Tempelanlagen eine Gefahr aus der Vergangenheit beherbergen. Ähnliches lauert sowohl in der marokkanischen Wüste als auch in der weiten eisigen Tundra des russischen Kontinents. In Nine Miles Below (2009) stoßen Forschungsbohrungen in der marokkanischen Wüste in unbekannte Tiefen vor. Als der Funkkontakt abbricht, soll ein Techniker die Anlage inspizieren, er findet nur eine verlassene Forschungsstation, mysteriöse und okkulte Schmierereien und verwirrende Forschungsergebnisse vor. Als eine Überlebende auftaucht, scheinen die Ereignisse immer mehr ins Fantastische abzugleiten.
Der Film spielt recht geschickt mit der Frage, ob man hier die Hölle angebohrt und damit das Böse freigesetzt hat oder nur eine gefährliche, halluzinogene Gasblase punktierte. Schauspielerisch setzt der Film keine Highlights, die Handlung bleibt aber schön mysteriös und spannend, versucht nur zum Ende hin ein paar Volten zu viel hinzulegen.
Ähnliche Gerüchte um Tiefenbohrungen gab es auch in der Sowjetunion 1984, wo angeblich ebenso mysteriöse Schreie aus dem Erdinneren vernommen wurden. Die angeblich wahre Geschichte um das tiefste Bohrloch der Welt von 12.000 Meter Tiefe in Kola, Murmansk nimmt sich der russische Film Superdeep (2020) vor und schickt eine natürlich fiktive Forschungsexpedition sowie das Militär in die Tiefe. Hier lauert eine Verschwörung, durchgeknallte Wissenschaftler, eine den Menschen befallende und übernehmende Pilzinfektion und noch etwas viel Gefährlicheres. Die recht flotte Mischung aus Action- und Verschwörungsthriller mit Elementen aus The Thing und The Last of Us kann man sich guten Gewissens ansehen, der Lovecraft-Vibe ist durch ein permanentes Color out of Space-Gefühl allgegenwärtig. Dazu passend sei als Ergänzung der exzellente Cosmic-Horror-Kurzfilm Zygote der Oats-Studios auf YouTube empfohlen.
Antarktis
Eine letzte Wüste für diesen ersten Teil unserer Lovecraft-Film-Urlaubsreise soll die Weite des ewigen Eises darstellen. Die Expeditionen ins unendliche Weiß faszinierten Lovecraft zeitlebens enorm, er verfolgte sie interessiert und wurde von ihnen inspiriert.
In der Fernsehserie The Terror, Staffel 1 von 2018 werden die realen Ereignisse rund um das Verschwinden der Kriegsschiffe HMS Terror und HMS Erebus im Jahre 1848 fiktiv nacherzählt. Wer immer schon die Expedition in At the Mountains of Madness nachempfinden wollte, dem seien diese zehn Folgen dringend zur Beachtung empfohlen. Mit viel Aufwand und Liebe zum Detail, großartigen Schauspielern und einer abwechslungsreichen Geschichte wird hier die Odyssee der Männer im ewigen Eis wirklich spürbar nachvollzogen, inklusive Streitigkeiten untereinander und mit den indigenen Bewohnern sowie einer monströsen Bedrohung aus den ewigen weißen Weiten.
Das soll es an dieser Stelle erstmal gewesen sein, alle vorgenommenen Bewertungen sind natürlich Geschmackssache und subjektiv. Den europäischen Kontinent und die Untiefen des Meeres heben wir uns noch für einen zweiten Teil auf.
Ich wünsche schönen Urlaub an exotischen Plätzen!