Lovecrafter Online – 108 – Filmkritik: Midsommar


“Gespenstische Wälder und entlegene Berge sind ihre Heiligtümer,....denn dort vereinen sich Intensität und Einsamkeit, Absurdität und Einfalt zur Vervollkommnung des Grauens.”
- H.P. Lovecraft / Das Bild im Haus aus Die lauernde Furcht (Festa Verlag)
Tiefe und dunkle Wälder sind seit Urzeiten Schauplatz für Mythen und Legenden. In seinen unendlichen vegetabilen Labyrinthen droht der ortsunkundige Wanderer seit jeher die Orientierung zu verlieren. Schnell ängstigt man sich vor dem, was im Unbekannten lauern mag, seien es Hunger, Durst, profane Raubtiere oder mystische Feen und monströse Kreaturen. Diese Motivik nutzte H.P. Lovecraft mehr als einmal, dem Leser seiner Geschichten den Boden der gewohnten Realität unter den Füßen wegzuziehen. Das Regiedebüt von Autorin Theresa Sutherland, Lovely, Dark and Deep, entführt den Zuschauer in diese Abgründe und vermischt die Thematik mit modernen Verschwörungstheorien um die Nationalparks Amerikas zu einem Slowburn-Mystery-Thriller mit kosmischem Horror-Einschlag.
Hinweis: Der Film wirkt am Besten, je weniger man über ihn weiß. Also: Keinen Trailer ansehen und besser erst sichten, dann diese Besprechung lesen!
Handlung
“Leave Nothing but Footprints, take Nothing but Memories and kill Nothing but Time.”
- Ranger Chang in Lovely, Dark and Deep
Die Rangerin Lennon Lewis ist am Ziel ihrer langjährigen Bestrebungen und am Ende ihrer Ausbildung angekommen. Sie wird als eigenständige Wildhüterin in die tiefen Wälder des Nationalparks von Arvores entsandt. Hier verschwand in ihrer Jugend ihre kleine Schwester und von dem Ereignis ist sie bis heute besessen. Getrieben von ihren Schuldgefühlen und den vielen anderen, bis heute ungeklärten Vermisstenfällen im Umfeld des Nationalparks begibt sie sich auf einsame Wanderungen durch die Wälder. Die stille und verschlossene junge Frau hat den Ruf, etwas verrückt zu sein und ihre schlechten sozialen Fähigkeiten helfen da wenig. Nur ihr eher lauter und aufdringlicher Nachbar, Ranger Jackson, hat sehr lose Kontakt mit der neuen Wildhüterin, die ihre einsame Mission durchaus genießt.
Als Basis steht nur eine spartanische Zelt-Hütte, die Rangerstation, ohne Strom oder Handyempfang zur Verfügung. Sie übernachtet bei den Wanderungen auch mal im Zelt und ist tagelang ohne menschlichen Kontakt, abgesehen von einer täglichen, verpflichtenden Funkmeldung über das unzuverlässige Walkie-Talkie. Während der Touren hört sie Podcasts über die Missing 411, die rätselhaften Fälle, bei denen plötzlich und unter mysteriösen Umständen Wanderer verschwinden und oft nur Kleidungsstücke wie Schuhe hinterlassen, die oft meilenweit entfernt wieder auftauchen. Wenn einmal ein Vermisster gefunden wird, ist dieser extrem verwirrt und desorientiert.
Erste seltsame Dinge geschehen, als Lennon Funksprüche erhält, obwohl ihr Gerät keine Batterien mehr enthält. Eines Nachts bekommt sie unheimlichen Besuch in ihrer Rangerstation. Ein verletzter Mann bittet verzweifelt um Hilfe. Sie folgt dem verwirrten Mann in die Wälder. Die herbeigerufene Search- and Rescue-Gruppe sucht am folgenden Tag die verschwundene Verlobte des Mannes, Sarah Greenberg. Lennon widersetzt sich dem Befehl, in der Station auf die mögliche Rückkehr der Vermissten zu warten und tritt ebenfalls ihre Suche im dunklen Wald an. Sie findet die blutende und verwirrte junge Frau in der Nacht. Die Frau fragt sie verwirrt: ”Are you real?”, bevor sie in Lennons Armen zusammenbricht.
Die Ranger befördern die Gerettete per Hubschrauber in ein Krankenhaus, Chefrangerin Chang erklärt jedoch Lennons Aufenthalt aufgrund der nicht eingehaltenen Vorschriften für beendet, sie soll am Ende der Woche aus ihrer Station abgeholt werden und diese bis dahin nicht mehr verlassen. Als sie diese Verpflichtung ebenfalls nicht einhält, wird ihr Trip in die Wälder zu einem grauenvollen Alptraum, in dem Realität und Traum, Vergangenheit und Gegenwart sich ebenso überlappen wie die Dimensionen der Wirklichkeit. Welche Kraft lauert in dem Park und kann Lennon ihr entkommen?
Lovecrafteske Momente
“Westlich von Arkham steigen die Hügel abrupt an; zwischen ihnen liegen Täler mit Wäldern, denen nie eine Axt gedroht hat. Dort gibt es enge Schluchten, wo die Bäume sich auf wundersame Weise neigen, dünne Bäche plätschern vor sich hin, auf die nie ein Sonnenstrahl fiel.”
- H.P. Lovecraft in Die Farbe aus dem All aus Chronik des Cthulhu Mythos II (Festa Verlag)
Vorsicht: Massive Spoiler!
Lovecraft begriff sich in seiner speziellen Art und Weise als Regionalschriftsteller. Er nutzte die Beschreibung der realen Umgebung, um den Leser die Realität und Normalität vor Augen zu führen, bevor er das Übernatürliche als Brechung dieser implementierte. Dabei waren ihm als Stilelement die dunklen Wälder, die jeder kennt und welche die meisten durchaus fürchten, ein willkommener Ansatz und Handlungsort. Sie tragen in seinen Geschichten viel zur Stimmung bei und erzeugen eine Atmosphäre des Unheimlichen und Unergründlichen. Er wurde dabei durchaus von seinen dunklen Idolen wie Arthur Machen (z. B. The Shining Pyramid) inspiriert. Seien es die grotesken Wälder in The Colour out of Space oder die wilde Weite der verfluchten Heide in The Dunwich Horror. Als unheimlicher Hort des Bösen und Unterschlupf für die außerirdische Rasse der Mi-Go in The Whisperer in Darkness wie als Rückzugsort der kannibalistischen Hinterwäldler in The Picture in the House dienen dichte, vom Menschen nahezu unberührte Wälder. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Den meisten Deutschen muss man den Wald als mystischen Ort der Verklärung und Legendenbildung kaum näher bringen, waren für die alten Germanen die Wälder seit jeher Göttersitze und Wohnort von Dämonen, Fabelwesen und Hexen.
Der Film Lovely, Dark and Deep schafft es, diese Gefühlslage über den Wald als einerseits unfassbar schöne und romantische Stätte der Idylle und Natürlichkeit mit der ebenso beunruhigenden und bedrohlichen Wesenheit der undurchdringlichen Vegetation als unbegreiflichen Gefahr zu vereinen. Er greift auf bestehende Mythen über die Wälder ebenso zurück wie auf moderne, indem er Lennons Geschichte mit der der Verschwörungsmythologie der “Missing 411” kombiniert. Dabei handelt es sich um die Erzählung - angeblich durch einen Ex-Parkranger initiiert - dass es eine Verschwörung hinter den vielen Vermisstenfällen in den Nationalparks geben soll. Bekannt geworden durch das gleichnamige Buch des ehemaligen Polizisten David Paulides, bezieht der Film einige “Regeln” dieser Mythologie in den Film ein, wie das Auffinden von Kleidungsstücken an seltsamen Orten, das Verschwinden der Personen nahe Granitblöcken und das Wiederauftauchen bei Gewässern.
Dabei legt der Film viel Wert auf eine langsame Steigerung von Atmosphäre und Bedrohung und folgt damit den von Lovecraft in Supernatural Horror in Literature aufgestellten Empfehlungen für eine gelungene Erzählung filmisch gekonnt. Einige Sequenzen sind wirklich beängstigend und könnten manch einem Zuschauer den Ausflug in den Wald, vor allem des Nachts, deutlich unbehaglicher machen.
Auch das Abgleiten in einen Alptraum im letzten Drittel des Filmes findet viele Parallelen im Werke Lovecrafts. Lennons Reise auf die andere Seite der Realität, wo Wesen seit Jahrhunderten das Land beanspruchen und auf Opfer warten, ist tief im Mythos verankert und findet auch entsprechende Verbildlichungen, ohne das Mysterium zu entkräften oder durch eine ungelenke oder tricktechnisch inkompetente CGI-Schlacht lächerlich zu machen. Wie Randolph Carter mit dem The Silver Key die Seite wechselt, begleitet hier die Sichtung des Rehs den Übertritt in die andere Dimension und konfrontiert Lennon mit dem eigenen Schicksal und der Vergangenheit.
Die geheime Verschwörung der Parkranger - und damit wohl auch der Regierung - ist ein ebenso im Mythos verankerter Topos, der hier umgesetzt wird. Alle Elemente sind der lovecraftschen Doktrin entsprechend klug in die Handlung eingebunden und gerade genug etabliert, um weder über-erklärend noch unerklärlich zu sein. Man muss genau hinsehen und zuhören, wie man beim Mann aus Providence konzentriert den Geschichten folgen muss, um nichts zu verpassen. Das mag altmodisch erscheinen und fällt hier wie dort manch einem aktionsorientierten Konsumenten mit Medien-ADHS schwer bzw. langweilt zu Tode; der Connoisseur des cthuloiden Schreckens kann dies fasziniert verfolgen und genießt ein leider selten gewordenes Erlebnis.
Cinematographische Notizen
“And Into the Forest I go, to lose my Mind and find my Soul”
- John Muir, Naturphilosoph und US-Nationalparkgründer
Teresa Sutherland ist bisher vor allem als Autorin in Erscheinung getreten. So hat sie das Drehbuch für den ungewöhnlichen Western-Tragödien-Horror The Wind von 2018 verfasst und bei der herausragenden Mike Flanagan-Netflix-Serie Midnight Mass mitgearbeitet. Lovely, Dark and Deep ist neben dem sehenswerten Kurzfilm The Winter (auf YouTube verfügbar) ihr Regiedebüt. Für ein kleines Budget in den Wäldern von Portugal gedreht, muss man die Detailverliebtheit und Mühe lobend erwähnen, die in das Projekt geflossen sind. Hintergründe wie die Missing 411 (man achte auf die gespiegelte Rufnummer Lennons 114), man sieht Lennons Frisur synchron wechseln zu ihrem seelischen Zustand, es gibt mehrere interessante wiederkehrende Motive (Rehe), Spiegelungen in Charakteren (Jackson/Lennon) und Ereignissen (Finger-Verletzungen) zu entdecken.
Außerdem sind Elemente des realen Falles des Smiley Face Murders und die Anlehnung an viele Mythen über die Wälder (man denke an den “Selbstmordwald” Aokigahara in Japan) und die Welten Lovecrafts eingewoben, ohne letzteren dabei namentlich zu zitieren. Mit den geringen und einfachen Mitteln des Filmemachens wie interessante Kamerafahrten und Perspektivwechseln kann man hier beobachten, wie man gekonnt unheimliche Stimmung erzeugt. So werden wir von unten in die Wipfel hinauf, von oben auf die Personen herunter oder mit den Personen begleitend, quasi über die Schulter hinweg, mit in die Umgebung schauender Perspektive in den Film und die Handlung hineingezogen. Es werden sowohl schöne, friedliche Panoramen und Landschaften gefilmt wie auch Sequenzen des Schreckens und der Panik erzeugt, unterlegt mit jeweils passender Sound- und Musikkulisse.
Alle Schauspieler machen einen guten und soliden Job, hervorzuheben sei hier vor allem Georgina Campbell (Barbarian), die jede Szene des Filmes tragen muss und dies hervorragend meistert. Ihre Charakterisierung der spröden, stillen und unscheinbaren Lennon mit einem zweifelhaften Ruf trägt den Film. Sie ist keine sofort nahbare Hauptfigur, mit der eine emotionale Identifizierung leicht fällt und ähnelt so den häufig wenig entwickelten Figuren in Lovecrafts Geschichten. Wir folgen ihr, verstehen sie langsam mehr, bleiben am Ende vom Drehbuch gewollt aber ambivalent zu ihrem Verhalten.
Themenpunkte wie Verantwortlichkeiten gegen die Wildnis und Schutzbefohlenen, die Gesetzmäßigkeiten in der Natur und Verpflichtungen gegenüber der Umgebung und der Umwelt sind ebenfalls involviert.
Bewertung
“I owe this Land a Body”
- Lovely, Dark and Deep
Der Film ist sicherlich kein Meisterwerk, aber wenn man sich auf die langsame Erzählweise einlassen kann und nicht eine stereotypische Heldenfigur erwartet, entwickelt der Film auf den Zuschauer eine sehr fesselnde Sogwirkung. Man folgt Lennon, ist sofort von den Wäldern und der Natur fasziniert und spürt unterschwellig eine unter der Oberfläche lauernde Bedrohung.
Die zunehmend beunruhigenden, mysteriösen Ereignisse in den Wäldern gipfeln letztlich in einem Fiebertraum aus Rückblenden, Überblendungen, psychedelischen Montagen und alptraumhaften Visionen in einer anderen Dimension. Desorientierende Ortswechsel, die Aufhebung der Naturgesetze und der Erdanziehung werden mit einfachen Mitteln äußerst effektiv vermittelt. Die wenigen Jumpscares und Horrorklischees sind fast der Schwachpunkt des Filmes, wirken sie doch etwas gewollt und gelegentlich um des Effektes willens eingefügt, wenn auch dennoch effektiv. Die nächtlichen Szenen im Wald sind durchweg beängstigend, erschreckend und hervorragend umgesetzt.
Wer nicht in den Film hineinfindet, kann ihn öde und langweilig finden, die Geschichte dünn und unlogisch, ihn bemängeln als eine auf Spielfilmlänge gedehnte Kurzgeschichte. Der Film ist nicht für jedermann, bietet keinen Mainstream-Horror; zu unspektakulär langsam und unterschwellig wird er vom Trailer völlig falsch vermarktet, als Crowd-Pleaser mit vielen FX-Effekten dargestellt (alle Effektaufnahmen verbläst der Trailer in knapp 3 Minuten). Nichts davon ist ganz falsch, es wird der optischen und erzählerischen Qualität des Filmes meines Erachtens aber nicht gerecht, missachtet die sichtbare Liebe zum Detail, die sogar eine Zweitsichtung lohnenswert macht, um sie zu erkennen und in die Handlung einzufügen. Der Film baut auf Atmosphäre, Stimmung und das unterschwellige Gefühl der Bedrohung und lebt vom Unterschwelligen und Angedeuteten.
Eine besonders schöne Sequenz, die die aktuelle Suche nach der Vermissten Sarah in die nach der Schwester Lennons überblendet, bei der die Realitäten optisch ineinander übergehen und die Wirklichkeit filmisch zerfließt, ist hervorragend gelungen und lässt hoffen, das die Regisseurin dem Genre noch weitere Werke hinzu fügt.
Fazit
“The Woods are lovely, dark and deep,
but I have Promises to keep,
and Miles to go before I sleep,
and Miles to go before I sleep.”
- Robert Frost (US-Dichter) in Promises to keep (Poems)
Ein beeindruckendes Regiedebüt für Liebhaber des kleinen, ruhigen und intelligenten Mystery-Films. Die Angst vor den undurchdringlichen Wäldern wird gelungen mit einer Portion lovecrafteskem Cosmic-Horror fusioniert.