Lovecrafter Online – Retrospektive: Echo des Wahnsinns


Ganze vier Novellenkreise hat das Team Feuerernte mittlerweile verfasst. Die lose Gruppe um Herausgeber Tobias Reckermann speist sich aus den Tiefen der weirden Phantastik und setzt sich aus Autor*innen des WhiteTrain-Verlages zusammen. Seine Heimat hat es in der Reihe Lovecrafts Schriften des Grauens vom Blitz-Verlag gefunden. Mit dem Herrn aus Providence hat die Gruppe jedoch weniger zu tun als der Reihentitel vermuten lässt. Einig ist den Bänden jedoch ein kosmischer, eher subtiler Horror, der im vorliegenden Band auch eine Referenz zu einem Großen Alten enthält, aber alle Rahmen des neuenglischen Horrorautors sprengt.
Das Konzept Novellenkreis bedeutet, dass die versammelten Geschichten einen losen Zusammenhang aufweisen, indem die Autor*innen Motive der anderen Texte aufnehmen und so ein größeres Ganzes erzeugen. Das gelingt mal mehr mal weniger, in jedem Fall konnten bisher alle Bände durch ein hohes Textniveau überzeugen. Gilt das auch für die Kryptologicae?
Nun, ich halte wenig von rhetorischen Fragen und künstlicher Spannung. Daher sei mir die schnelle Antwort erlaubt: Ja, die Kryptologicae sind wiederum eine gelungene Sammlung von vier starken Texten geworden, die ich jeder und jedem Freund*in der dunklen Phantastik ans Herz legen möchte.
Thema des Bandes sind kryptische Bücher und Texte, die Geheimnisse enthalten, die nur aufwändig (oder gar nicht) entschlüsselt werden können. Ein durchaus passendes literarisches Thema. Der Band setzt mit einem wahrhaft bibliophilen Text des Herausgebers ein. Angelegt in einem studentischen Umfeld, begleiten wir einen Studenten auf der Suche nach Geheimwissen. Im Zentrum steht ein kryptisches Archivregister, welches Zugriff auf eine Art Schattenbibliothek erlaubt. Für Reckermanns Verhältnisse ist der Text sehr kurzweilig geraten und überzeugt durch seine Anknüpfung an eine Lebenswelt, die vielen Lesenden bekannt sein dürfte. Mindestens die Faszination für obskure Bücher dürften alle Lovecraft-Interessierten teilen.
Während Reckermann im studentischen Umfeld ansetzt, schafft Felix Woitkowski eine eigene Dystopie. Wir begleiten ein Team von Forschenden in eine durch Überflutung weitgehend untergegangene Welt. Spannungsvoll tauchen wir in mit ominösen Zeitungsartikeln ausgekleidete Gewölbe hinab und erfahren von einer verlorenen Stadt namens Vineta. Verschiedene Erzählebenen werden gekonnt vermischt, machen es uns aber nicht immer einfach zu folgen. Überzeugend sind die Bildsprache wie etwa das Fantasien auslösende “Trockenatmen”. Wer Woitkowski kennt, wird viele Motive seiner letzten Publikationen wiedererkennen. Hier verbinden sie sich vielleicht am gekonntesten. Die Handlung bleibt durchweg spannend und der Weltenbau verspricht viel, am Ende bleiben mir jedoch wiederum ein paar Fragezeichen zu viel.
Auch Christian Veit Eschenfelders Calibans Stimme macht es den Lesenden nicht allzu leicht, überzeugt aber wiederum mit einem starken Weltenbau. Eine Matriarchin dominiert die vergleichsweise nahe Zukunft und übergibt einen Text regelmäßig den (virtuellen) Flammen, der jedoch immer wieder emaniert. Aufgeteilt in viele kleine Passagen, verspricht der Text mehrere Deutungsdimensionen, denen ich in meiner Lektüre leider nicht gerecht werden konnte. Es bleibt – passend zum Leitthema des Buches – kryptisch. Dafür überzeugen technische Elemente und ein wahrhaft spannendes Mysterium.
Weniger kryptisch, sondern glasklar und fast locker kommt der krönende Abschluss von Ina Elbracht daher. Sie adressiert uns Lesende direkt und beschreibt eine fiktionale These zur Genese und Entschlüsselung des mysteriösen Voynich-Manuskripts. Inhaltlich durchaus komplex und verzahnt, gelingt es ihr, die verschiedenen Ebenen durch eine gute Rahmung klar zusammenzuführen. Beeindruckend ist, wie sie Motive der vorhergehenden Geschichten einpflegt und auch realweltliche Bezüge mühelos einbettet. Auch ohne diese Verweise wäre der im Mittelpunkt stehende Mythos innovativ und hochspannend, so rundet die Geschichte einen starken Band würdig ab. Elbracht ist und bleibt für mich eine der stärksten Stimmen moderner unabhängiger Phantastik.
Wie schon eingangs erwähnt, kann ich auch den vierten Novellenkreis nur empfehlen. Hier findet sich ein ernsthafter weirder Horror jenseits von Genrekonventionen. Das verlangt uns Lesenden jedoch auch etwas ab. Wir können uns nicht auf Altbekanntes zurückziehen und müssen daher mitunter auf Spurensuche gehen, um die Texte ganz zum Wirken zu bringen. Sicherlich keine Lektüre für zwischendurch, aber eine umso lohnendere für konzentrierte Stunden.
Nachbemerkung: Der Transparenz halber halber füge ich an, dass ich mich den Autor*innen des NightTrain sehr verbunden fühle, aber bemüht bin, die Arbeiten nicht unkritisch für sich sprechen zu lassen. Wer mehr zum Kollektiv erfahren will, findet übrigens im Lovecrafter 10 mehr über den Kleinverlag.
Kryptologicae
Blitz-Verlag, 2024
Softcover, 238 Seiten, 12,95 €