Lovecrafter Online – Kurzgeschichte: Der Selbstmörder
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Seanchui -
9. September 2024 um 12:00 -
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Der Selbstmörder
Detlef hatte wieder etwas Falsches nach Hause gebracht. „Wie oft soll ich dir noch sagen …“ begannen Friederikes Vorhaltungen wie üblich und endeten mit dem üblichen: „Dir etwas begreiflich zu machen, ist unmöglich.“ Dabei hatte Detlef bei der Auswahl des Fleischs an der Theke sich strikt an den Einkaufszettel gehalten und nun war das Erworbene zu fettreich, zu teuer und überhaupt ungenießbar.
Detlef unterdrückte die Bemerkung: „Warum schickst du mich denn einkaufen, wenn ich davon angeblich nichts verstehe?“ wie er überhaupt im Wissen, dass das sinnlos wäre, seit längerer Zeit alle Bemerkungen unterdrückte. Er wusste ja, dass er beim nächsten Mittagessen das angeblich ungenießbare Fleisch auf seinem Teller wiederfinden würde und auf Friederikes auch. Übrigens fiel Friederike nicht auf, dass ihr Gatte seit Monaten schwieg und sich höchstens zu technischen Operationen wie „kannst du mir bitte das Salz reichen?“ einen gesprochenen Satz abrang – dazu war sie zu sehr in ihrer Welt des Zorns und der Vorwürfe eingebunden.
Detlef arbeitete gern und lang, denn wenn er Glück hatte, saß seine Frau dann vor dem Fernseher und weidete sich an seichten Unterhaltungsserien, während für ihn das Essen auf einem Brettchen stand, bereits, wieder aufgewärmt zu werden. Interessanterweise schimpfte sie nie, dass er so lange fortblieb, sondern freute sich über das willkommene Überstundengeld, dank dessen sie sich wieder mit hübschen Kleidern einzudecken flüssig war. Den Werktag verbrachte sie damit, bummeln zu gehen und zu überlegen, womit sie sich zusätzlich schmücken könnte. Es sei hinzugefügt, dass Detlef die Verfügungsgewalt über sein Lohnkonto an Friederike abgetreten hatte, unbedachterweise, wie er heute wusste. Damals war er aber frisch verheiratet und rosarot verliebt und zu allem bereit gewesen, wozu ihn seine Angetraute zu überreden sich angeschickt hatte.
Er wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Beide waren Ende 30 und hatten rein statistisch locker ein weiteres halbes Jahrhundert, er voller Zetern und Keifen, vor sich. Einmal war es so weit gekommen, dass für ihn abends kein Bett mehr frei gewesen war, weil einer von Friederikes weitgespannter Verwandtschaft, ein Bruder, Schwager oder sonst wer, seins dringend für sich reklamiert hatte, weil er am nächsten Morgen ausgeruht und frisch geduscht zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen hatte, und für ihn selbst Luftmatratze und Schlafsack vor der Besenkammertür übrig geblieben war.
Detlef spielte seine Möglichkeiten durch.
Erste und naheliegendste: Scheidung. Das würde ein jahrelanges Verfahren nach sich ziehen und damit enden, dass er als der finanziell Potentere mindestens solange satte Unterhaltszahlungen abzudrücken gezwungen wäre, wie sie insgesamt verheiratet gewesen waren. Da er den Zeitpunkt der ‚groben Unbilligkeit‘ verpasst hatte, bis zu dem kein Anspruch auf Unterhalt aufgebaut würde, nämlich drei Jahre, führte daran vermutlich kein Weg vorbei.
Zweite und durchaus verlockende: Friederike umbringen. Würde er nicht erwischt, wäre er sie los und könnte ein entspanntes, unabhängiges Leben führen. Würde er erwischt – was die wahrscheinlichere Variante war –, genösse er einige Jahre sein Dasein auf Staatskosten und könnte sich danach von Rehabilitationsmaßnahme zu Rehabilitationsmaßnahme durchhangeln, bis er das Rentenalter erreicht hätte. Er wusste indes, dass er dazu nicht fähig war. Dann könnte er nämlich gleich mit der Faust auf den Tisch hauen, Friederike ordentlich verprügeln und sich den Respekt verschaffen, der nötig war, ihm zu einem ruhigen und entspannten Alltag zu verhelfen, ohne ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. Aber auch zu dieser gemilderten Form von Gewaltanwendung war er mental nicht fähig, obwohl ihm als Handwerker die physische Kraft ohne weiteres gegeben war.
Blieb die dritte …
Dulingers privater Pkw, ein gediegenes Modell der oberen Mittelklasse, hatte Friederike für sich reserviert, aber Detlef stand sein Dienstfahrzeug zur Verfügung, der biedere, 20 Jahre alte Kombi eines koreanischen Herstellers, in den alles hineinpasste, was er für seine Arbeit brauchte. Er hatte neben den Malermeister eine Zusatzausbildung als Stuckateur absolviert und der heutige Tag sollte diesem anspruchsvollen Teil seiner Skills gehören. Es waren in einer abgelegenen Jugendstilvilla die Stuckdecken zu sanieren, der Hausherr samt Gattin hatte sich abgemeldet, um den Künstler nicht in seiner Arbeit zu stören, und hatte ihm, dem Künstler, zu diesem Zweck den Hausschlüssel überlassen. Es würde folglich bis zum Abend, seiner erwarteten Rückkehr, und möglicherweise bis zum nächsten Morgen kein Mensch merken, dass Detlef in der Villa nie angekommen wäre, da die anderen gewohnt waren, dass er solange weiterzumachen pflegte, bis er sein Werk vollendet hatte, ohne auf die Uhr zu schauen. Diese Angewohnheit wurde bereits im dritten Absatz erschöpfend begründet.
Der ideale Tag, um sein Vorhaben auszuführen. Niemand hatte darauf geachtet, dass er außer dem üblichen Material und Werkzeug einen Hanfstrick auf die Ladefläche seines Lieferwagens geschmissen hatte. Er fuhr los, nachdem er sich fröhlich von seinen Kollegen verabschiedet hatte. „Dein Job heute ist ja nach deinem Gusto.“ Ein bisschen hatte Neid in diesen letzten Worten mitgeschwungen, die die letzten sein würden, die ihm in seinem diesseitigen Leben zu Ohren kämen.
Die schmale Straße zu seinem Arbeitsplatz führt durch den Wald über eine Anhöhe, die die Grenze zwischen seinem Heimatdorf am Hochrhein und den Nachbarort im Wutachtal markiert. Ein Feldweg zweigt zu einem Wanderparkplatz ab, ab dem sich einige attraktive Waldwege in alle Himmelsrichtungen verteilen.
In diesen Feldweg bog Detlef ein. Er wusste, dass seine Gemeinde dort eine Rasthütte errichtet hat, die zwar nach einer Seite offen, aber sonst sturmsicher gebaut ist. Vor allem die Dachkonstruktion mit ihren stabilen Balken flößt Vertrauen ein. Er parkte das Auto sorgfältig in einer dafür vorgesehenen Bucht und bereitete den Hanfstrick vor. Als geübter Handwerker schaffte er es mühelos, an einer Seite einen offenen Knoten und an der anderen eine Schlinge anzubringen, die sich bei Zugspannung zuverlässig zuziehen würde. Dann stieg er aus und erkundete, zunächst ohne seine Accessoires, die Umgebung.
Wie erwartet war sie außerhalb der Ferienzeit morgens um halb Neun menschenleer. Nun gab es kein Zurück mehr. Detlef schritt zur Hütte, Stehleiter und Strick unter dem Arm, und positionierte sich im Innern direkt unter der Hauptstrebe. Er kletterte auf die Leiter, schlang den Knotenteil um die Strebe und ließ den Rest des Seils hindurchlaufen. Bald umschlang sein Arrangement die Strebe. Er zog feste daran, um sich zu vergewissern, dass es auch unter hohem Gewicht nicht reißen öder sich öffnen würde, und legte die Schlinge um seinen Hals. Dann tief Luft holen, einen ultimativen Gedanken fassen – ob Fluch oder Gebet, wird dem überlebenden Teil der Menschheit für immer verborgen bleiben – und ein Tritt, der die Leiter umstürzte.
Von der Decke, deren Aufgabe darin besteht, wohlgemuten Wanderern Schutz vor einem Regeneinbruch zu gewähren, baumelte ein Leib an einem abgeknickten Genick hilflos und ohne Leben.
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Der Freitag verging ohne Besucher, was hauptsächlich daran gelegen haben dürfte, dass es kühl und die Regensituation zumindest unsicher war. Am Samstag besserten sich die Aussichten und früh am Morgen fand sich eine Gruppe ein, die sich vorgenommen hatte, bis zu der Burgruine zu wandern, die als wichtigste Sehenswürdigkeit des Landkreises gilt.
Dass ein einsamer Lieferwagen in einer Parknische abgestellt war, erregte zunächst kein Aufsehen, denn der Platz ist nicht zuletzt als Treffpunkt derer bekannt, die sich hier zu einer Fahrgemeinschaft treffen. Dabei geschieht es durchaus, dass ein Fahrzeug über das ganze Wochenende im Stich gelassen wird. Um ein Haar wäre das Drama in der Hütte unentdeckt geblieben, denn eine kollektive Wanderung beginnt selten mit einer Pause. Im Dorf kennt sich aber mehr oder weniger jeder und einem fiel auf, dass der Lieferwagen einer vom Maler- und Stuckateurmeisterbetrieb Bork war. „Der wird seit Freitagmorgen vermisst“, sagte der Mann und schüttelte verwundert den Kopf.
„Erst seit gestern Morgen“, folgerte ein zweiter messerscharf und fügte hinzu: „Wird schon nichts Schlimmes passiert sein.“
„Wahrscheinlich nicht. Ich finde es aber besser, wir vergewissern uns.“
„Von mir aus. Dann aber gleich los!“
Daraus wurde nichts. Eine der Frauen war es, die meinte, beim Inspizieren auch die Hütte nicht außer Acht lassen zu dürfen, und die außer einer umgestürzten Stehleiter zwei Beine von oben herunterragen sah. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und ihr schwanden die Sinne. Einer der von höchstem Adrenalinstoß motivierten Männer, der der Szene am nächsten gestanden hatte, eilte schnell genug herbei, um sie aufzufangen, bevor sie hilflos zu Boden stürzte.
‚Todeseintritt vor 1½ bis 2 Tagen, -ursache Genickbruch, erzeugt durch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Suizid‘, hatte der Amtsarzt in der Sterbeurkunde protokolliert. „Wir müssen die Leiche natürlich ins Labor schaffen, um nähere Erkenntnisse zu gewinnen“, sagte er zu den ihm umstehenden Polizisten.
„Warum? Ist nicht alles klar?“
„Oberflächlich gesehen ist das so. Dennoch müssen wir uns vergewissern, dass wirklich kein Fremdeinfluss nachzuweisen ist.“
„Sie glauben an einen Mord?“
„Man sollte nichts glauben, bevor man sich nicht vergewissert hat. Ich glaube folglich gar nichts, obwohl der Schauplatz Eindeutiges auszusagen scheint.“ Plötzlich erschrak der Mediziner. Er meinte in des Toten Gesicht, das er aus einem schmalen Sehwinkel heraus im Blick behalten hatte, ein sardonisches Grinsen wahrgenommen zu haben. Ruckartig fuhr er herum, um sich zu vergewissern. Nein, nichts, die blaue Haut eines Erhängten, die Zunge zwischen die ebenfalls blauen Lippen gerollt und die Augen unappetitlich herausgequollen, da vor der Obduktion nichts am Zustand des Opfers verändert werden durfte. Eine Halluzination, ein Sekundentraum.
Die beiden Bestatter, angetan in Ganzkörper-Schutzkleidung, walteten ihres Amtes. Sie betteten die sterblichen Überreste Detlef Dulingers in den mitgebrachten Zinksarg und hievten beides unter Aufbieten aller Kräfte in ihr silbergraues Gefährt. „Sollten wir nicht Frau Dulinger informieren?“ fragte einer der Polizisten den leitenden Kommissar.
„Ist bereits geschehen. Allerdings regierte sie völlig hysterisch und war um nichts in der Welt zu bewegen, hierherzukommen. Spätestens bei der offiziellen Anhörung wird sie allerdings gezwungen sein, ihren Mann, oder was von ihm übrig ist, anzuschauen und seine Identität zu bestätigen. Im Augenblick genügen die Zeugenaussagen, denn jeder im Dorf kannte Detlef Dulinger.“
Der Polizist gestand angesichts des naturbelassenen Verstorbenen der Witwe im Stillen zu, wohl an dieser Weigerung getan zu haben. Auch ihm würde heute das Abendessen nicht schmecken, gleichgültig, welche Köstlichkeiten seine Frau zubereitet haben mochte.
Der Leichenwagen folgte der kurvenreichen Straße zum Rhein hinunter. Bald würden die Bestatter auf die Kreisstraße stoßen, die schnurstracks zur nächstgrößeren Stadt und deren Einrichtungen führt, von denen manche selten genutzt werden. Die häufigste Todesursache am idyllischen Hochrhein ist außer Herzversagen bei älteren und Krebs bei jüngeren Bewohnern Ertrinken, denn der namensgebende Fluss ist an manchen Stellen trotz mehrerer Staustufen tückisch und wird häufig unterschätzt.
„Was rappelt denn da hinten?“ fragte der Fahrer. „Hast du die Heckklappe nicht zugemacht?“
„Sicher habe ich das, was denkst du denn?“
„Erzähl‘ mir, was du willst, ich höre es rappeln.“
„Hm, hast Recht. Halt‘ mal an!“
Fassungslos starrten die beiden auf die Bescherung, die sich ihnen bot. Nicht nur die Heckklappe des Autos war augenscheinlich von innen geöffnet worden, sondern auch der Zinksarg, der nunmehr gähnende Leere offenbarte. Der Leichnam war spurlos verschwunden.
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Beinahe 50 Polizisten durchkämmten mit geschulten Spürhunden das Gelände. „Wie kann eine Leiche aus seinem Sarg verschwinden?“ fragte der Kommissar die beiden Bestatter. „Sie wird sich ja kaum aufgerichtet, den Deckel angehoben und während der Fahrt Ihrem Kombi Lebewohl gesagt haben.“
„Es wäre nicht der erste Fall von Scheintod. So wie der Gehängte allerdings aussah, halte ich es nicht für möglich, dass er in seinem Fall eine Befreiungsaktion schaffen würde.“
„Und wenn wir ihn schlecht fixiert hätten und er einfach hinausgerollt wäre, müsste er irgendwo in sichtbarer Nähe zum Straßenrand liegen“, doppelte sein Kollege nach. „Wir haben natürlich selbst alles abgesucht, was als möglicher Fundort in Frage kam.“
„Was ist?“ fragte der Kommissar einen Polizisten, der sich ihm in der erkennbaren Absicht näherte, eine Meldung abzulassen.
„Wir haben ein Individuum gesehen, das sich auf dem Feldweg zum Frankenhof bewegt.“
„Na und? Ist das verboten?“
„Wir haben das Gelände abgesperrt. Entweder läuft der Kerl dort seit Stunden herum, ohne dass wir ihn beim Präparieren des Geländes bemerkt hätten …“
„Oder?“
„Oder er ist durch die Absperrungen geschlüpft.“
„Dann nehmen Sie ihn fest und befragen ihn.“
„Auf diese Idee sind wir auch schon gekommen.“
„Und?“
„Die Gestalt ist spurlos verschwunden.“
„Soso. Dann verschwinden hier in der Gegend nicht nur Leichen. Ich glaube aber nicht an Gespenster. Suchen Sie intensiv, auch mit den Hunden. Denen entrinnt kein Sterblicher.“
„Ein Sterblicher sicher nicht.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Naja, die, äh, Gestalt hat sich ziemlich merkwürdig verhalten.“
„Hat sie den Kopf unter dem Arm getragen?“
„Nicht ganz. Sie hielt ihn ständig mit beiden Händen fest. Sobald sie auf einer Seite den Griff lockerte, kippte er in die andere Richtung – der Kopf, meine ich.“
„Ich bitte Sie. Wer weiß, was Sie oder ein Kollege von Ihnen da beobachtet haben mag. Also: Begeben Sie sich auf die Suche. Welche Kleidung trug übrigens dieser ominöse Mann?“
„Genau die gleiche wie der Selbstmörder, einen orangefarbenen Arbeiteroverall.“
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Friederike Dulinger gab sich gelassen. Der Arzt hatte das Ableben ihres Gatten amtlich festgestellt, sodass ihrem Antrag auf Witwenrente nichts im Weg stand. Dass nunmehr seine sterblichen Überreste verschwunden waren, mochte zwar merkwürdig, aber für sie kein Grund zur Beunruhigung sein. Der erste Schwall von uniformierten und nicht-uniformierten Offiziellen, von Reportern der Lokalzeitungen und natürlich von allen Bekannten und Verwandten war durchgezogen und sie konnte sich allmählich überlegen, wie es weitergehen sollte. Einige Verrichtungen wie das Einkaufen musste sie ab sofort selbst erledigen, aber das war das geringste Übel. Übler war, dass ihr als kinderloser Frau die 60% des bisherigen Familieneinkommens arg wenig dünkte, zumal das bisher reichlich hereingeflatterte Schwarzgeld nicht mitzählte. Ob sie etwa gezwungen wäre, arbeiten zu gehen, um das Haus zu halten?
Die Beerdigung, obwohl sie mit einem Sarg ohne Inhalt hatte Vorlieb nehmen müssen, hatte sich Friederike etwas kosten lassen, denn ihr war bewusst, dass sie im ganzen Dorf als Xantippe verschrien war. Solange ihr Mann schützend vor ihr gestanden hatte, hatte sie das Attribut wie einen Orden vor sich hergetragen; jetzt, da sie allein stand, würde es nicht schaden, sich umgänglich zu geben. Dazu gehörte, ihre Rolle als trauernde Witwe möglichst glaubwürdig durchzuziehen. Sie gesellte sich Damenrunden, aber auch dem Stammtisch im einzigen Etablissement des Dorfs zu, das als richtige Kneipe durchgeht – alle sogenannten Konkurrenzunternehmen sehen sich als Gaststätten mit weißgedeckten Tischen und einer Batterie Gläser darauf, die den Gast begrüßen, bevor er Platz genommen hat und ihm die Wahl eines heimischen Weins schmackhaft machen sollen.
„Habt ihr von dem geheimnisvollen Mann im Arbeiteroverall gehört, der hin und wieder gesehen wird, den bisher aber keiner zu fassen bekam?“
„Was meinst du mit ‚nicht zu fassen‘?“ Friederike wusste, dass Astrids Fantasie ab und zu mit ihr durchging und sie darüber hinaus zu Verschwörungstheorien neigte, wobei nicht auszuschließen ist, dass das eine das anderer bedingt.
„Ich weiß, dass du mir nicht glaubst. Ich bin aber nicht die einzige, die diese Gestalt gesehen hat Dazu gehören auch Männer, die versucht haben, sie anzusprechen. Hier im Dorf gehört es sich, dass man sich im Vorbeigehen grüßt, auch wenn man sich nicht unbedingt kennt.“
„Und diese, äh, Gestalt tut das nicht?“
„Überhaupt nicht. Es wurde geschildert, dass sie sich duckt, wenn einer sie anspricht, und sich dann in Luft auflöst.“
„In Luft auflöst? Geht das nicht ein bisschen weit?“
„Hör‘ dich nur um! Wenn du nachher nach Hause gehst, begegnest du ihr vielleicht selbst.“
Zu ihrem Bedauern widerfuhr Friederike die angekündigte Begegnung der dritten Art nicht. Dafür waren vier Jungs wild entschlossen, der Sache ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Gerd, Hilmar, Holger und Martin gehören wie einst Detlef Dulinger der Gilde der Handwerker an, sind kräftig, furchtlos und stehen mit beiden Beinen auf der Erde.
„Übereinstimmend wird berichtet, dass sich diese Gestalt vorwiegend im Bereich von Kirchstraße, Hansweg und Wildbachgasse herumtreibt“, rekapitulierte Holger die zusammengetragenen Beobachtungen.
„Auch auf dem Friedhof hinter der Wildbachgasse?“
„Darüber ist nichts bekannt, Martin. Es kann natürlich sein, dass sich keiner unserer heldenhaften Mitbürger getraut hat, das auszukundschaften.“
„Aber wir werden das tun?!“
„Wir werden dem Kerl auf die Schliche kommen, und sei es zwischen Grabsteinen.“
Die ersten drei Nachtschichten verliefen ergebnislos. Sie beschränkten sich auf das Wochenende, denn da alle Vier in ihren Berufen konzentriert arbeiten mussten, konnten sie es sich nicht leisten, sich werktags eine volle Nacht um die Ohren zu schlagen.
Während der vierten Nachtwache geschah es. „Da ist ’was!“ flüsterte Gerd.
Nun sahen es alle. Die Gestalt wirkte merkwürdig eingeschrumpelt und sonderte auch einen merkwürdigen Geruch ab, der bis zum Standort der Vier drang. „Puuh …!“
„Pssst!“
Allen war bewusst, dass die Erscheinung erstmals nach dem Freitod Detlef Dulingers vor einem halben Jahr gesichtet worden war, möglicherweise von den Polizisten auf der Suche nach dessen verschwundener Leiche. Es lag folglich nahe, sie damit in Verbindung zu bringen. „Ob er am leeren Grab von Detlef spukt?“
„Keine Spekulationen, Hilmar. Ich schlage vor, wir trennen uns und versuchen, ihn …“ „… oder es!“ „Von mir aus! Jedenfalls in die Zange zu nehmen.“
„Okay, Holger!“
Die Vier kannten sich bestens aus, was in Anbetracht der Größe des 4000-Seelen-Dorfs allerdings als kein allzu großes Kunststück zu betrachten ist. Gerd näherte sich dem berechneten Schnittpunkt von der Kirchstraße aus, Hilmar vom Hansweg, Martin von der Wildbachgasse und Holger, der Furchtloseste, vom Friedhof her. Das Mondlicht des ersten Viertels spendete genügend Licht, sodass sie auf die Benutzung ihrer starken Taschenlampen, die sie selbstverständlich am Mann trugen, verzichteten.
Am Eingangstor des Kirchhofs trafen sie sich. „Und?“ „Was und?“ „Hast du keinen gesehen?“ „Nein, das musst doch du?!“ Gerd, Hilmar, Holger und Martin sahen sich an. Zum ersten Mal war ihren Mienen ein Anflug von Verstörung anzusehen. „Der Kerl muss doch irgendwo abgeblieben sein?!“
Sie sprachen instinktiv mit gedämpften Stimmen, als litten sie unter der sie Angst, versehentlich nicht fassbare Mächte auf sich aufmerksam zu machen. „Sollen wir nochmals auf dem Friedhof?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Ihr habt ihn – oder es – doch wie ich vor einer halben Stunde gesehen, oder nicht?“
„Haben wir Holger. Aber: War es wirklich ein Mensch gewesen? Ich meine, es war doch höchstens halb so groß.“ „Halb so groß wie ein Erwachsener?“ „Ja. Und sein Schädel wackelte hin und her, als wolle er herunterpurzeln.“ „Na ja …“ „… und er bewegte sich auch nicht wie ein Mensch, sondern glibberte irgendwie herum. Widerlich!“ „Und der Gestank!“
Holger bewegte seine Hände in beschwichtigenden Gesten. „Nun fangt nicht an, die Sache immer weiter aufzubauschen. Wir diskutieren nachher nüchtern, was wir wirklich gesehen …“ Während er das sagte, trat er einen Schritt zurück und rutschte aus. Mit einigen heftigen Armbewegungen gelang es ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden. „Was war das denn?“
Endlich traten die Taschenlampen in Aktion. „Seht mal, überall Spuren einer Flüssigkeit. Was …“ Holger senkte seine Nase bis dicht über die fragliche Entdeckung. Dann fuhr er wie von der Tarantel gestochen hoch. „Baah, was für ein Gestank!“ Ein Bestatter oder Gerichtsmediziner hätte ihn sofort einzuordnen gewusst, aber Holger gehörte zu keiner dieser Berufsgruppen und wusste folglich nicht, wie Verwesung riecht.
Seine Kameraden hatten inzwischen weitere Tropfen gefunden, die in unregelmäßigen Abständen den Asphalt verzierten. Sie nahmen alle Mut zusammen und bildeten sozusagen eine Phalanx, um jedwedem Feind gemeinsam entgegenzutreten, fanden aber gleichwohl nichts mehr, vor allem keine noch so entstellte Gestalt. Kurz nach Mitternacht strebten sie nach Hause und blieben dabei zusammen, solange es ging.
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Friederike wurde es immer unheimlicher zumute, ohne dass sie zu sagen gewusst hätte, woher dieses Gefühl rührte. Früher hatten die Dulingers ihre Hintertür offen gehalten, da im bewussten Dorf keine Einbrüche zu befürchten waren und den Bewohnern eine Reserve blieb, wenn sie ihre Haustürschlüssel vergessen oder von innen steckengelassen hatten.
Seit einiger Zeit verzichtete Friederike auf ihren Noteingang und sah sich im Gegenzug gezwungen, beim Verlassen ihres Hauses die Gedanken zusammenzuhalten. Jetzt drangen von dort – dem Hintereingang – schlurfende Schritte und ein Geräusch an ihr Ohr, das sich wie ein Platschen nasser Badelatschen anhörte und doch wieder nicht. Sie wagte nicht zu atmen. Wer – oder was – mochte eingedrungen sein und sie bedrohen? Eins wusste sie: Ein normaler Einbrecher aus Fleisch und Blut war es nicht.
Ein Dorf bietet einen Nachteil und einen Vorteil. Der Nachteil besteht darin, dass jeglicher Datenschutz am Ortsschild aufhört. Alle wissen von allen alles. Jugendliche stehen dieser verdeckten Überwachung skeptisch gegenüber, während Ältere zu schätzen wissen, dass sie garantiert nicht wochenlang tot in ihrer Wohnung liegen, bevor ein Zufall sie entdeckt.
Der gellende Schrei, der aus Friederikes Wohnung drang, überlagerte die ganze Straße. Alle Nachbarn sprangen auf, wie sie gerade waren, bewaffneten sich mit dem, was sie gerade zur Hand hatten wie Stockschirmen, Brotmessern, Äxten und Gardinenstangen, und rannten zu der fraglichen Adresse. Der mit der Axt wollte bereits die Haustür einschlagen, als ein anderer rief: „Warte, vielleicht ist hinten auf!“
Hinten war auf. Die Männer brauchten nicht lange zu suchen, bis sie der Ursache des unartikulierten Ausrufs gewahr wurden. Im Flur lag Friederike mit weit aufgerissenen Augen, offenbar einer Herzattacke erlegen. Das war aber nicht das Entsetzliche, das in allen Zeugen jenes Abends einen Brechreiz auslöste und das bis heute keiner von ihnen verwunden hat.
Nur einen Meter entfernt lag eine grotesk verrenkte Leiche in fortgeschrittenem Zustand der Zersetzung, bereits auf Kindergröße geschrumpft. An gewissen Anzeichen, nicht zuletzt am mittlerweile viel zu voluminösen orangefarbenen Overall, der sich an einigen Stellen mit seinem Träger zu einer unheiligen Symbiose vereinigt hatte, war erkennbar, dass die gallertartige, übelriechende Masse dort auf dem Boden einst Detlef Dulinger geheißen hatte.
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Ein Interview mit dem Autor: KLICK
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