Lovecrafter Online – Rezension: Diese alten und dreckigen Götter
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AndreasGiesbert -
20. November 2023 um 12:00 -
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Hinter dem vielversprechenden Titel Diese alten und dreckigen Götter verbergen sich vier Erstübersetzungen früherer Geschichten des in Los Angeles lebenden Weird-Fiction-Autors T. E. Grau. Grau ist in englischsprachigen Weird-Fiction-Kreisen nicht ganz unbekannt. Nach einer ersten Übersetzung im Next Weird, stellen ihn die vier erstklassigen Übersetzungen von Eschenfelder nun einem deutschsprachigen Publikum vor.
Die Geschichten
Den Einstieg macht das Buch mit der kurzen Geschichte “Tief hängende Wolken”. Diese überzeugt durch viel Lokalkolorit und einen Fokus auf die einfache Bevölkerung, die sich mit den Folgen der Klimakrise auseinandersetzen muss. Die schlägt schließlich in eine handfeste Katastrophe um, die ins Übernatürliche hinübergeht. Leider bricht die Erzählung dort ab, wo sie uns gerade gepackt hat und lässt die spannende Katastrophe in einem unbestimmten Raunen enden. Solche offenen Enden nutzt Grau für alle vorliegenden Geschichten, womit er ganz die Horrorerwartungen erfüllt. Sie fühlen sich für mich jedoch etwas konstruiert an und verschenken etwas Potenzial. Für meinen Geschmack hätte er noch einen Schritt weiter gehen können.
Wesentlich umfangreicher und um einiges mystischer ist “In der Höhle sang sie”. Hier geht es um einen vermutlich peyoteinduzierten Selbstfindungstrip von Charlie, der in eine Höhle hinabsteigt, die zunehmend mit seinen psychedelischen Visionen verschmilzt. Zeitlich angesiedelt in dem, was Grau den “jahrelangen Sommer der Liebe” nennt, greift er auf surreale Weise die Ängste und (sexuellen) Sehnsüchte einer zwischen Love, Sex und Napalm zerrissenen Generation auf. Die gewählten Bilder sind extrem stark und die Widersprüchlichkeit der Generation wurde wunderbar eingefangen. Auch inwieweit die einfließenden Aspekte des kosmischen Grauens Realität oder Vision sind, bleibt dabei wohltuend offen.
In der darauf folgenden Geschichte “Flöten” scheinen diese mystischen Elemente zunächst im Hintergrund zu stehen. Hier haben wir es mit einem rotzigen, erzkonservativen FBI-Agenten zu tun, der zu einem vereitelten Terroranschlag im CERN “Red Hook” gerufen wird. Auch hier sind Lokalkolorit und Charakterzeichnung stark, aber besonders beeindruckend ist, wie sehr sich diese Geschichte vom Genre her von den ersten beiden unterscheidet. In seiner Ähnlichkeit zu einer Krimiserie im Stile von True Detective merkt man hier besonders deutlich Graus Erfahrung als Drehbuchautor, die ohnehin in seinem schnellen und bildreichen Stil zu erkennen ist.
Am nachhaltigsten hat mich die abschließende “Mission” beeindruckt. Hier haben wir es mit einer Mischung aus Western und Abenteuerreise zu tun. Eine Truppe von US-Soldaten verfolgt zwei Native Americans in unbekanntes Gebiet und verhandelt auf der Reise die Nachwehen des Bürgerkriegs und die Konflikte zwischen Schwarzen, Weißen und amerikanischen Ureinwohner*innen. Dabei wird die ohnehin schon harte und explizite Sprache des Buches noch rauer und schwieriger. Nahe an dem vermeintlichen Sprachstil der damaligen Zeit wird hier “gepisst”, “gekotzt” und geflucht, und es kommt noch einiges an rassistischer Terminologie hinzu. Die Geschichte ist trotz (oder wegen?) dieser Sprache schnell und spannend erzählt und nimmt mit der Zeit einen immer beunruhigenderen Ton an. Der Entdeckungsaspekt und das kosmisch Fremde verschmelzen hier auf einzigartige Weise zu einer spannenden Erzählung, die deutlich cthuloide Motive aufgreift, diese aber durchaus originell interpretiert.
Zwischen Pulp und Lovecraft
Sowohl der Titel als auch die Reihe, in der die Sammlung erschienen ist - Lovecrafts Schriften des Grauens - lassen einen Bezug zu Lovecraft erwarten. Der Einfluss wird dann auch bereits im Vorwort deutlich, in dem der Autor unter den frühen Meistern des “Kosmischen und des Pulp” Lovecraft als besonderen Einfluss hervorhebt. Allerdings wird dieser Einfluss zu Recht neben fast 10 anderen Autoren genannt. In den ersten Geschichten bleibt Lovecraft für mich eher im Hintergrund. In den Themen Wahnsinn und kosmisches Unheil kann man seinen Einfluss sicherlich lesen, aber das sind ehrlich gesagt viel zu grobe Themen, um hier eine besondere Nähe zum kosmischen Horror zu konstatieren. Deutlicher wird das in den letzten beiden längeren Geschichten, die auch konkrete Bezüge zu Mythoskreaturen herstellen. Aber auch hier betritt das lovecraftsche Pantheon erst spät die Bühne. Das erlaubt einen erfrischend anderen Umgang mit dem Mythos, in dem cthuloide Elemente gewissermaßen an andere Genres angedockt werden. Mit anderen Worten: Wir lesen hier keine Pastiches, die versuchen, Zeit, Stil und Genre Lovecrafts zu reproduzieren, sondern genuin eigene Geschichten in diversen Genres mit einem lovecraftschen “Twist”.
Auch in einer anderen Hinsicht wandelt der frühe Grau noch einen halben Schritt in Lovecrafts Fußstapfen, und zwar in Bezug auf dessen Rassismus und Sexismus. Anders als beim großen Alten aus Providence bleibt dies zwar auf Ebene der Charaktere und ist sicher nicht mit Graus eigenen Positionen zu identifizieren, sorgt aber zumindest bei mir für etwas Bauchgrummeln. Zum einen wäre da der recht heftige und allzu explizite misogyne Protagonist aus „In der Höhle sang sie“. Hier kann man vermuten, dass der von Minderwertigkeitskomplexen zerfressene Frauenhasser in seinen Erniedrigungen von Frauen zu (vermeintlich) wertlosen Sexobjekten als Kritik gemeint ist. Ganz so deutlich wie in anderen Werken fällt das aber nicht auf. Man muss schon etwas tiefer in den Text eintauchen, um die Frage zu klären, wie dieser durchaus zentrale Aspekt der Geschichte genau zu deuten ist. Für mich bleibt ein fader Beigeschmack.
Dieser stellt sich auch im abschließenden Western ein. Hier ist die Sprache genretypisch rau und lehnt sich klar an die Konventionen des Genres an. Neben den fast schon erwartbaren „Wilden“, „Rothäuten“ und „Indianern“ nimmt sich aber leider auch das N-Wort in beiden Variationen Raum. Insbesondere die heftigeren Worte fallen zwar ausschließlich in Dialogen und können so als Versuch authentischer zeitgemäßer Sprache verstanden werden, hier wären aber dennoch bessere Umgangsformen möglich gewesen. Zwar kontrastiert der Autor diese Worte mit einzelnen starken antirassistischen Nuancen, der ins Sprachgewebe eingeflochtene Rassismus bleibt der Geschichte aber nicht äußerlich. Ich hätte mir hier einfach einen moderneren und etwas distanzierteren Umgang mit rassistischer Sprache gewünscht.
Man muss nicht zu sehr auf diesem Punkt verharren, es sollte nur allen Leser*innen klar sein, dass es hier etwas explizitere Inhalte und Sprache gibt als im Lovecraftkosmos üblich und dabei auch Worte verwendet werden, die zu Recht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen über rassistische Sprache stehen. Für mein Lesevergnügen war das zumindest in der letzten Geschichte ein deutlicher Dämpfer. Wer stärker davon betroffen ist, findet aber genug andere gute Literatur, um sich die Worte ersparen zu können.
Mehr als Lovecraft
Der Titel Diese alten und dreckigen Götter ist Programm. Die Geschichten weisen eine Nähe zum Cthulhu-Mythos auf, der hier auf eine „dreckige“ Weise umgesetzt wird. Die Geschichten arbeiten allesamt mit direkter und starker Sprache, die dem Gentleman aus Providence vermutlich nicht über die Lippen gekommen wäre. So findet eine durchaus legitime Erweiterung des Mythos statt, die durch die direkte Darstellung von Sex und Gewalt neue Facetten in den eher prüden lovecraftschen Horror trägt. Dadurch finden diese frühen Geschichten Graus eine interessante Mischung aus pulpigen Horror und lovecraftschen Grauen. Das gelingt für mich gut, bleibt aber etwas zu deutlich in - immerhin vier verschiedenen - Genrekonventionen hängen. Die alten dreckigen Götter sind unterhaltsam und bereichern den Cthulhu-Mythos. Man merkt jedoch, dass Grau noch nicht ganz zu seiner Stimme gefunden hat und sich an Genrekonventionen abarbeitet, die er im Gegensatz zu seiner Wortwahl etwas zu zimperlich aufbricht.
Diese alten und dreckigen Götter
Blitz-Verlag, 2023
Softcover, 130 Seiten, 12,95 €