Lovecrafter Online – Die dLG auf dem Braunschweig International Film Festival 2023
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Arkham Insider Axel -
27. November 2023 um 12:00 -
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Doppelgänger: Wie du mir, so ich dir
Das Motiv des Doppelgängers gehört zum Standardrepertoire der Phantastik. Denken wir an E. T. A. Hoffmanns so benannte Erzählung Der Doppelgänger, an E. A. Poes William Wilson oder Robert Louis Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Auch Lovecraft faszinierte dieses vielschichtige Phänomen: In Der Fall des Charles Dexter Ward übermannt die unsterbliche Psyche des Hexenmeisters Joseph Curwen seinen Nachfahren Charles Dexter Ward, um in dessen Gestalt fortwirken zu können. In Das Ding auf der Schwelle unterliegt der Protagonist Edward Pickman Derby dem Willen seiner Ehefrau Asenath (freilich selbst schon eine Verkörperung ihres diabolischen Vaters), bis diese endgültig von ihm Besitz ergreift. In beiden Geschichten spitzt Lovecraft die für das Doppelgängermotiv typische Frage: "Wer bin ich?" bedrohlich zu. Selbstzweifel quälen die Protagonisten, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher sein können. Den gegen sie geführten telepathischen Manipulationen halten sie im Endeffekt nicht stand und werden Opfer eines Identitätsraubs.
Um einen solchen identitären Raub und seine unabsehbaren Folgen geht es auch in Doppelgänger (2023), einem Psychothriller des polnischen Regisseurs Jan Holoubek, der auf dem BIFF Deutschlandpremiere feierte. Darin verfolgen wir die Laufbahn des jungen Polen Hans Steiner (Jakub Gierszał), der Ende der 1970er Jahre nach Straßburg reist und sich bei seinem Onkel einquartiert. Dort lernt er auch seine Mutter Helga (Nathalie Richard) kennen, die ihn rund 30 Jahre zuvor zur Adoption freigegeben hatte. Die vermeintlich glückliche Familienzusammenführung basiert jedoch auf einer Lüge. In Wahrheit trägt Hans einen anderen Namen, ist ein hochrangiger polnischer Spion und bedient sich rücksichtslos der Biografie eines Landsmanns, des Danziger Werftarbeiters Jan Bitner (Tomasz Schuchardt). Dieser – Helgas tatsächlicher Sohn – findet zeitgleich heraus, dass er adoptiert wurde. Von Polen aus versucht er, an Informationen über seine leibliche Mutter zu gelangen. Die hindernisreiche Recherche wird für Jan zur Zerreißprobe, er selbst zusehends unglücklich. Doch auch der falsche Hans kommt in Straßburg ins Schlingern, als er sich in Nina (Emily Kusche), die Tochter seines Onkels, verliebt und aus seiner Rolle ausschert. Mit wachsendem Unmut registriert der polnische Geheimdienst, wie ihr Mann in Straßburg ins Wanken gerät.
Identitätskrisen also im Osten wie im Westen. Mit Sinn für Lifestyle und Zeitkolorit bettet Holoubek die Schicksale seiner beiden Hauptdarsteller in die beginnende Endphase des kalten Krieges ein. Dabei kontrastiert der eher grau gezeichnete Alltag Polens mit dem beschwingten Leben in der elsässischen „Hauptstadt Europas“. Während hier der neue James-Bond-Film ins Kino lockt, treibt dort die sich formierende Solidarność-Bewegung die Leute auf die Straße. Treffsicher setzt der Film von Beginn an auf die Kollision zwischen persönlichen und ideologischen Konflikten; ein Crashkurs, der existentielle Fragen aufwirft und in mehr als einem Fall tödlich endet.
Der Engel im Gemäuer
Für alle Freunde des Seltsamen und Unheimlichen musste The Angel in the Wall (2021) des Regisseurs Lorenzo Bianchini ein Höhepunkt des diesjährigen Programms darstellen. Der Italiener hatte sich bereits in Across the River (2013) als ein Meister des auf leisen Sohlen kommenden Grusels gezeigt. Sein aktueller Film ist, gleichwohl erkennbar angesiedelt in der norditalienischen Hafenstadt Triest, ein psychogeographisches Kammerspiel. Die brandaktuellen sozialen Themen der Wohnungsnot und der Vereinsamung werden zur Folie genommen, um davor ein höchst deutungsoffenes biographisches Drama sich abspielen zu lassen.
Das Publikum erlebt den Film aus der Sicht des alten Pietro, der allein in einer opulenten Altbauwohnung in einem Eckhaus mit Meerblick lebt. Eines Tages erhält er einen Zwangsräumungsbescheid – binnen Wochenfrist hat er seine Heimstatt, die er offenbar schon lebenslang bewohnt, zu verlassen. Scheinbar ist ein neuer Investor zur Haussanierung angetreten. In seiner Not greift Pietro zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er mauert sich am Ende eines Flurs ein und beginnt eine kärgliche Existenz in den Wänden. Kurz darauf werden vom neuen Besitzer, der Pietro ausgezogen wähnt, neue Mieter gesucht. Eine alleinerziehende Mutter zieht nebst ihrer blinden Tochter in die noch möblierte Wohnung ein. Die kleine Sanja erspürt die Anwesenheit Pietros bald. Für sie ist klar: In den Wänden ihrer Wohnung wohnt ein Engel.
Bianchini ist hier ein modernes Märchen allererster Güte gelungen. In atmosphärisch dichten Bildern und gesetztem Tempo breitet sich eine teils unheimliche, teils ergreifende Geschichte aus. Nicht Realismus ist hier die Prämisse, eher die explorative Ausweitung und Überschreitung unserer Wahrnehmung. Ein Modus des Erzählens, den in der Weird Fiction Autoren wie Walter de la Mare oder Robert Aickman besonders zu meistern wussten. Auch die konkreten Handlungselemente erinnern natürlich an die Phantastik: Poes Die schwarze Katze und Das Fass Amontillado klingen an, wenn der alte Pietro die Maurerkelle ansetzt. Aber auch Lovecrafts Die Ratten im Gemäuer und Kalte Luft bzw. Träume im Hexenhaus sind mögliche Querverbindungen, spielen hier doch immerhin Gebäude und ihre Wohnungen oder Verwinkelungen eine zentrale Rolle. Pietros Wohnung ist groß und voller Schatten, die Psyche des Bewohners und die Geographie des Ortes scheinen immer wieder eine seltsame Melange zu bilden. Schließlich verlieren wir die Orientierung. Die Wohnung wird zur Protagonistin.
Getragen wird The Angel in the Wall vom Hauptdarsteller, der über eine ganze Welt des Mienenspiels verfügt und keine einzige Dialogzeile hat: Es handelt sich ausgerechnet um Frankreichs einstige Blödel-Ikone Pierre Richard, heuer fast 90 Jahre alt. Vom großen Blonden ist im Film nurmehr ein gramgebeugtes Hutzelmännchen geblieben, doch Richard vermag es allein durch seine Präsenz und seine zur Schau getragene Gedankenschwere, der Inszenierung die nötige Tragik und einen nostalgischen Schwung zu geben. Auch Gioia Heinz und Iva Krajnc, die Tochter und Mutter spielen, sind bestens besetzt. Nicht zuletzt trägt zur Wucht des Films, der über weite Strecken von Stille und Geräuschemphase lebt, auch die hervorragende Filmmusik bei. Komponistin ist Vanessa Donelly, die nach der Vorführung Rede und Antwort stand – und die zurecht den Heimspiel-Preis des BIFF zugesprochen bekam.
BIFF At Midnight: Der Kinosaal wird zum Gruselkabinett
Das BIFF ist nicht vorstellbar ohne die Reihe „At Midnight“. Unter diesem programmatischen Titel geleitet Kurator Clemens Williges sein erlesenes Publikum regelmäßig auf die Schattenseite des Lebens. Die cineastischen Connaisseure des Grauens folgen ihm ergebenst, das Risiko schlafloser Nächte billigend in Kauf nehmend. Dankbar denken wir vor allem an Lovecraft At Midnight (2015) zurück. In jenem Jahr stellte Clemens nicht nur eine exzellente Auswahl an Lovecraft-Adaptionen zusammen, sondern brachte auch engagierte Filmschaffende und Kreative rund um den Horrorautor in der Löwenstadt zusammen.
„New French Extremity At Midnight“ lautete die diesjährige Stoßrichtung und bot eine repräsentative Zusammenstellung des extremen französischen Horrorkinos der 2000er Jahre. Darunter zwei Streifen, die verschwiegen als „Überraschungsfilme“ angekündigt wurden – aus Gründen des Jugendschutzes … Highlight des fünfteiligen Programms war indes der Psychoschocker High Tension (2003) mit Cécile de France in der Hauptrolle. Die belgische Darstellerin konnte nicht nur auf der Leinwand bewundert, sondern auch vor Ort begrüßt werden: Als aktuelle Preisträgerin nahm sie in Braunschweig den mit 25.000 Euro dotierten Europäischen Schauspielpreis Die EUROPA entgegen. Chapeau!
Maschinenmoloch
Als Abschluss außerhalb des regulären Programms fungierte dieses Jahr Fritz Langs Science-Fiction-Klassiker Metropolis (1927). Am 13. November führte der Weg dafür ins Scharoun-Theater Wolfsburg, wo das Staatsorchester Braunschweig unter der Leitung von Burkhard Götze die rekonstruierte Fassung der Filmmusik parallel zur Filmvorführung zu Gehör brachte. Auch beim Film selbst handelt es sich um eine durch die Murnau-Stiftung restaurierte Fassung. Nachdem BIFF-Besucher zuletzt schon Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) und Nosferatu (1922) in entsprechenden Formaten genießen konnten, zeigte Götze hier einmal mehr seine Qualitäten.
Lovecrafts eher ablehnende Haltung dem Film gegenüber ist bekannt. Viele literarische Adaptionen kasteite er als unzureichenden Abklatsch, einmal verließ er vor Empörung sogar vorzeitig den Kinosaal. Manchmal bedauerte er es aber auch, einen Film verpasst zu haben, so z. B. Das Kabinett des Dr. Caligari (1920), und manchmal fehlt für Filme, die er sich ansah, ein Urteil zur Qualität, wie z. B. im Falle es Effekt-Pioniers The Lost World (1925). Bezüglich Fritz Langs modernistischem Stummfilm gibt es bemerkenswerterweise keine Äußerung, und so schreibt S. T. Joshi in seinem Aufsatz „Lovecraft and the Films of His Day“: „Man könnte meinen, Lovecraft müsste an den albtraumhaften Zukunftsvisionen, die Fritz Lang in Metropolis entwirft, durchaus Gefallen gefunden haben. Schließlich stimmen sie auffallend überein mit seinen eigenen Perspektiven auf eine Zukunft, die von seelenlosen Apparaten dominiert wird“. Wie prekär solche Spekulationen auch immer sein mögen, so mag einem auch der Gedanke gefallen, sich Lovecraft in der heutigen Zeit als eifrigen Stummfilmkonzertgänger zu imaginieren. Ganz bestimmt, wenn diese so hochwertig veranstaltet werden, wie das Internationale Filmfest Braunschweig dies tut.
Internetquellen von Interesse
Braunschweig International Filmfestival: https://www.filmfest-braunschweig.de/
Trailer:
- Doppelgänger:
- The Angel in the Wall:
- High Tension:
- Metropolis:
Komponistin Vanessa Donelly: https://www.donellymusic.com/
Scharoun-Theater Wolfsburg: https://theater.wolfsburg.de/
Dirigent Burkhard Götze: https://www.burkhard-goetze.eu