Lovecrafter Online – Über Pilze vom Yuggoth: Die Entstehung eines Gedichtbandes


Vom 07. bis zum 13. November fand im niedersächsischen Braunschweig die mittlerweile 36. Ausgabe des renommierten International Film Festival (BIFF) statt. Das reichhaltige Programm bot aus der Lovecraft-Perspektive auch dieses Mal wieder einige Anknüpfungspunkte.
Zum Auftakt wurde es im Wolfsburger Scharoun-Theater schaurig, als Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von 1922 über die Leinwand flimmerte. Dazu brachte das Metropolis Orchester Berlin unter Leitung des Gründers Burkhard Götze den originalen Score von Hans Erdmann zu Gehör. Vorab hatte der Musikwissenschaftler Martin Weller kundig in Bild- und Tonwerk eingeführt (zu Götze und Weller siehe auch Lovecrafter Online #94). Der Adaptions-Skeptiker Lovecraft übrigens hatte den Film seinerzeit wohl nicht gesehen. Nach allem, was wir über seine Urteile über ähnlich gelagerte Stoffe wissen, fallen Spekulationen über sein potenzielles Urteil schwer. Zwar bedauerte er es sehr, Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) im Kino verpasst zu haben, sein Urteil über Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (ebenfalls 1920) fiel wiederum insgesamt ambivalent aus (siehe hierzu gleichfalls Lovecrafter Online #94). So oder so bleibt Nosferatu – A Symphony of Horror (so der US-Titel) ein künstlerisch wertvoller Genre-Meilenstein erster Güte, dessen Jubiläum zurecht opulent begangen wurde.
Der Europäische Schauspielpreis Die EUROPA ging in diesem Jahr an Senta Berger, eine der erfolgreichsten Vertreterinnen des deutschen, europäischen und internationalen Films. In der filmischen Adaption von Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter (Der scharlachrote Buchstabe) verkörperte Berger 1973 unter der Regie von Wim Wenders die zentrale Rolle der Hester Prynne – einer von der Obrigkeit drangsalierten Frau, der es auferlegt ist, ihren Ehebruch öffentlich zur Schau zu stellen. Dazu muss sie ein rotes „A“ ostentativ auf ihrer Kleidung tragen. Das Buch, das zur Zeit des Puritanismus’ in Neuengland spielt, zählt als eines der bedeutendsten Werke der nordamerikanischen Literatur und erschien erstmals 1850.
H. P. Lovecraft nicht an diesem literarischen Meilenstein vorübergehen. Sowohl der geschichtliche Hintergrund als auch das neuenglische Setting sprachen ihn an. Kein Wunder, dass Nathaniel Hawthorne – daselbst geboren in der Hexenstadt Salem – einen festen Platz in seinem maßgeblichen Essay Supernatural Horror in Literature (Die Literatur der Angst) einnimmt. Obwohl er dort The Scarlet Letter nicht erwähnt, gilt sein Urteil exemplarisch auch für diesen Roman: „Hawthorne war in überaus starkem Maße vom spezifisch amerikanischen Erbe des Unheimlich-Übernatürlichen durchdrungen und nahm hinter den gewöhnlichen Phänomenen des Lebens eine bedrückende Menge unbestimmter Gespenster wahr, doch er war nicht objektiv und unvoreingenommen genug, um Eindrücke, Empfindungen und erzählerische Schönheiten um ihrer selbst willen zu schätzen.“ Zurecht betont Lovecraft, dass die Schilderung übernatürlichen Grauens nie Hawthornes vorrangiges Ziel gewesen sei.
Naturgemäß konnte auchGerade diese unübersehbare, wenn auch symbolisch gemeinte Gespensteratmosphäre, bleibt Wenders der literarischen Vorlage schuldig. Die unerbittlichen Geister der Ahnen, das schwarze Kraut, das auf dem Grab eines Unbekannten wächst, der Schwarze Mann im Wald … all jene Erscheinungen, die das Buch heimsuchen, fehlen im Film. Freilich arrangiert Wenders einige beeindruckende Landschaftsaufnahmen (die allerdings in Spanien und nicht in Neuengland gedreht wurden) und auch seine AkteurInnen wissen zu überzeugen. Allen voran Senta Berger, die größtenteils mit stiller Zurückhaltung agiert und dadurch eine erhabene Präsenz erzielt: durchaus im Einklang mit der Hester Prynne der Vorlage.
Ausgerechnet der Regisseur selbst hat sich jedoch als scharfer Kritiker dieses seines Zweitwerks erwiesen. Zwar bezeichnet Wenders den Roman als eines seiner Lieblingsbücher, doch stellte sich während der Produktion heraus, dass ihm die Art historischen Kostümfilms nicht lag. Zudem galt es, bei der sparsam budgetierten Requisite Abstriche zu machen, was die Innenaufnahmen recht statisch wirken lässt. So schwelgt der Streifen in stimmungsvollen Bildern der Meeresküste und orientiert sich in puncto Ausstattung – jede moderne Interpretation vermeidend – eng am zeitgenössischen Background. Ob es Wim Wenders gelungen ist, die geschichtliche Tragweite des Stoffs adäquat umzusetzen, bleibt zumindest fraglich. Preisträgerin Senta Berger indes gab Der scharlachrote Buchstabe die Möglichkeit, sich von Publikum und Kritik neu entdecken zu lassen und ihrer Laufbahn eine Wendung hin zu tieferen Charakterdarstellungen zu geben, wobei die starke, auch von feministischer Seite oft hervorgehobene Frauenfigur aus Hawthornes Roman besonders geeignet erscheint – sowohl rückblickend als auch aus heutiger Sicht.
Den kultistischen Höhepunkt des Programms bildete das Stummfilmkonzert zum schwedischen Häxan. Gezeigt wurde der kontroverse und später vor allem von der Gegenkultur verehrte Hexen (so der deutsche Titel) aus dem Jahr 1922, begleitet von einem eigens komponierten Klangkunstwerk des Dark-Ambient-Projekts Vortex. Doch halt: Wurde hier durch BIFF-Organisator Clemens G. Williges und Vortex-Kopf Prof. Dr. Marcus Stiglegger wirklich „nur“ zu einem allseits bekannten Format geladen? Mitnichten, wie alle wissen konnten, die bereits im Vorfeld die Entwicklungen um die Uraufführung verfolgt hatten. Bereits der Titel ließ aufhorchen – Vortex Samhain Ritual: A Tribute to Häxan. Ein keltisches Ritual also und gleichsam ein Tribut an einen Skandalfilm über christlichen Aberglauben und damit zusammenhängende Untaten. Stiglegger und Williges wiesen in ihren Einführungen im LOT-Theater Braunschweig entsprechend darauf hin, dass hier kein bloßes Stummfilmkonzert geboten werde. Auf dem Programm standen vielmehr 45 Minuten Vortex live sowie eine eigens von Filmwissenschaftler Stiglegger angefertigte Häxan-Schnittfassung. Eine überaus gelungene, atmosphärisch dichte Kombination, die den ehedem als Dokumentarfilm mit aufklärerischem Anspruch gedrehten Film des Dänen Benjamin Christensen (der im Film selbst als Teufel auftritt) in einen ganz eigenen Kontext aus Reflexion und Unterhaltung stellte.
Dagon von Herbert Gorman, der seine Spannung aus der Verschwörung eines magischen Zirkels bezieht, schätzte er durchaus. Zudem findet sich hier wiederum eine Verbindung zum oben genannten Nathaniel Hawthorne, dessen Hexen-Story Das Haus der sieben Giebel (The House of the Seven Gables) ausführlich Erwähnung in der Literatur der Angst findet. Wie meist bei Lovecraft ist aber auch die zeitgenössische Wissenschaft von Belang, hier namentlich die britische Anthropologin Margaret Murray. Diese legte 1921 mit The Witch-Cult in Western Europe eine sogleich umstrittene und in ihren Kernthesen heute eindeutig widerlegte Untersuchung vor. Sie behauptet dort u. a. die langwährende Existenz untergründiger Hexen-Kulte und schwarzmagischer Zusammenrottungen, die auch die Ausbreitung des Christentums überdauert hätten; eine Schimäre, die gewiss auch die frommen ZuschauerInnen von Häxan – der das Handwerk der Hexerei ebenso drastisch illustriert wie Teufelsanbetung und Besessenheit – umgetrieben haben dürfte. Was damals konfrontativ erklären wollte, macht den Film heute zu einem Proto-Horror-Klassiker des expressionistischen Films. Der Blackwood- und Machen-Leser Lovecraft jedenfalls ließ sich von Murrays Aussagen inspirieren, was sich an ihrer konkreten Nennung in Das Grauen in Red Hook (The Horror at Red Hook) belegen lässt. Gewiss aber zehren auch Erzählungen wie Träume im Hexenhaus (Dreams in the Witch-House) und Das Grauen von Dunwich (The Dunwich Horror) von entsprechenden Resonanzen. Ausführliche Auseinandersetzungen hiermit finden sich in Lovecrafter 7/21 unter dem Titel „Von Hexen und Hexerei“.
Der Themenkomplex Hexen / Hexerei / Schwarze Magie / Okkultismus spielt bei Lovecraft keine geringe Rolle. Natürlich kannte er die thematisch einschlägige Literatur zum Thema. So bewunderte er M. R. James, der mit Der Eschenbaum (The Ash-Tree) einen waschechten englischen Hexenschocker entwarf, und auch den heute weniger bekannten Roman The Place CalledObgleich der skandalumwitterte und mit allerlei Zensur bedachte Häxan durch maßgebende Tricktechnik und herausragende Inszenierung einen hohen Unterhaltungswert generiert, ist der Film auch von historischem Wert und ermöglicht einen kritischen Blick auf bestimmte gesellschaftliche Konstruktionsformen. In einem Interview mit http://www.stummfilm-magazin.de, welches bereits im Frühling erschien, weist Marcus Stiglegger z. B. auf Schnittstellen zu psychologischer Phänomenologie hin mit besonderem Blick auf Darstellungen von Weiblichkeit und Sündhaftigkeit im Film. Auch filmhistorisch, so stellt der Dozent für Filmwissenschaft dort heraus, ist Häxan von hoher Bedeutung insofern, als dass er große Regisseure wie F. W. Murnau und Carl Theodor Dreyer beeinflusste und sich somit tief ins Genre einschrieb.
Für A Tribute to Häxan hat sich Stummfilmkenner Stiglegger – der u. a. bereits Dreyers Vampyr von 1932 vertonte – denn auch besonders intensiv vorbereitet, wie er im Interview mit 35MM-Chefredakteur Clemens G. Williges verriet: Wo er sonst die Improvisation schätze, habe er sich hier minutiöse Notizen gemacht und durch das Erstellen der eigenen Schnittfassung die Soundentwicklung eng ans Material angepasst (das komplette Interview findet sich in 35MM #46) Bemühungen, die sich auszahlten, wie die ZuschauerInnen im ausverkauften LOT-Theater an der Braunschweiger Kaffeetwete begeistert feststellen durften. Das Samhain-Ritual von Vortex bot eine knappe Stunde atmosphärischen Hochgenusses, bestehend aus einer einmaligen Synthese dräuender Klangteppiche, kehliger Intonationen und treibender Rhythmen mit einer besonders auf Effekt getrimmten Schnittfassung des Films. Wer in Zukunft Gelegenheit haben sollte, diesem intermedialen Gesamtkunstwerk live beizuwohnen, sollte nicht zögern. Alle anderen kann ggf. die Tatsache trösten, dass das Label XCess eine Veröffentlichung auf Blu-ray angekündigt hat.
Natürlich gibt es auch schon jetzt viel im Häxan-Kontext zu entdecken; zu nennen wäre u. a. die auch für Stiglegger bedeutsame ‘68er-Fassung des Films, die unter dem Titel Witchcraft through the Ages kursiert, mit psychedelischem Jazz unterlegt ist und von niemand geringerem als William S. Burroughs erzählt wird. Für Lovecraft war an der ganzen Sache – entgegen einiger Behauptungen August Derleths – besonders der pseudo-mythologische Aspekt reizvoll, den er immer wieder für eigene Werke und Werke von befreundeten AutorInnen fruchtbar machte. So bezieht er sich in einem Brief an Emil Petaja, der ihn diesbezüglich um Rat gebeten hatte, neben Murray in einem Atemzug auch auf den dekadenten Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, den Okkultisten Rev. Montague Summers und den Philsophen Roger Bacon als mögliche Quellen für einschlägiges Wissen. Eine ähnliche Diskussion findet sich in einem Brief an Natalie H. Wooley, wo Lovecraft noch den Schotten Walter Scott ins Spiel brachte. Gleichwohl er die Thesen Margaret Murrays ernst nahm, so zeigt sich dort, dass Hexen, Hexerei und sonstiger Schabernack für ihn doch vor allem eines blieben: „impressive-sounding folklore or pseudo-folklore“.
- Nils Gampert & Axel Weiß
Braunschweig International Film Festival: https://www.filmfest-braunschweig.de/
Scharoun Theater Wolfsburg: https://theater.wolfsburg.de/
Metropolis Orchester Berlin: https://www.metropolis-orchester-berlin.eu/
LOT-Theater Braunschweig: https://www.lot-theater.de/
Prof. Dr. Marcus Stiglegger: https://stiglegger.de/
XCess Entertainment: https://de-de.facebook.com/xcessent/
35MM – Das Retro-Film-Magazin: https://35mm-retrofilmmagazin.de/
Stiglegger im Interview mit dem Stummfilm-Magazin: https://www.stummfilm-magazin.…benjamin-christensen.html
Lovecrafts Briefwechsel mit Emil Petaja: https://www.hippocampuspress.c…donald-wandrei-and-others
Lovecrafts Briefwechsel mit Natalie H. Wooley: https://www.hippocampuspress.c…7vqat6v9680h2krl8bl3155l6