Lovecrafter Online – Filmkritik: Chapelwaite
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Michael H. -
16. Oktober 2023 um 12:00 -
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Zu den gelungensten Lovecraft-Pastiches dürfte die Stephen King-Geschichte Jerusalems Lot (dt.: Briefe aus Jerusalem) aus der Anthologie Nachtschicht zählen. Stephen King hat darin viele Lovecraft-Motive in Form eines Briefromans als Liebeserklärung für sein Vorbild verarbeitet. Der Stoff diente den Serienschöpfern Jason und Peter Filardi als Grundlage für die zehnteilige Miniserie Chapelwaite aus dem Jahre 2021.
Handlung
Wir befinden uns im Jahre 1850. Kapitän Charles Boone hat gerade seine Frau verloren und trauert mit seinen drei Kindern Honor, Loa und Tane. Ein Brief seines kürzlich verstorbenen Cousins Stephen eröffnet ihm die Möglichkeit eines Neuanfangs auf dem reichen Familiensitz Chapelwaite in Maine. Allerdings hängen tragische Ereignisse aus der Vergangenheit um Wahnsinn, Mord und mysteriöse Todesfälle über dem riesigen Grundstück - auch in Charles eigener Kindheit. Sein Vater versuchte dort, ihn mit den Worten "Blut ruft Blut" zu töten. Doch die privaten wie auch geschäftlichen Möglichkeiten des Grundstückes mit der nahegelegenen Mühle ermöglichen eine Zukunft im Schiffbau.
Die Familie wird kühl bis abweisend in der kleinen Gemeinde Preacher´s Corner empfangen. Vorurteile gegen die gemischten Ethnien seiner Kinder und der schlechte Ruf der Familie Boone erschweren den erwünschten Neuanfang. Es gehen Gerüchte über die sogenannte Boone-Krankheit um, welchee die Dorfbewohner dezimiert. Charles hört auf Chapelwaite Ratten in den Wänden und beginnt unter bizarren Visionen und Alpträumen, die sich um Würmer ranken, zu leiden. Es gibt eine Totgeburt im Dorf, ein missgestaltetes Kind kommt zur Welt und Menschen verschwinden. Boone ist gezwungen, Nachforschungen um seine Familie und deren Vergangenheit anzustellen. Um Gewissheit zu erlangen exhumiert er seine Verwandten, findet aber leere Gräber vor.
Er beginnt, an sich und seinem Verstand zu zweifeln. Boone muss die Rätsel um das Anwesen und ein geheimnisvolles Buch, das de Vermis Mysteriis (die Geheimnisse des Wurms) lösen. Dies scheint der Schlüssel zu den Ereignissen zu sein, reicht seine Spur doch weit in die Vergangenheit zurück und bestimmt sein Schicksal wie das des Dorfes und seiner Einwohner. Seine offenbar untoten Verwandten wollen das Buch haben, soll es doch eine uralte Gottheit heraufbeschwören können. Der geheimnisvolle Jakub, der das Buch ebenfalls unbedingt in seinen Besitz bringen will, fordert Charles auf, in das nahegelegene, verfallene und verlassene Jerusalems Lot zu kommen. Dieses erweist sich als Zentrum des Bösen und ist bei weitem nicht mehr so verlassen wie gedacht. Hier erfährt Charles von Jakub die Geheimnisse seiner Vergangenheit und der familiären Verbindung zu dem Buch. Mit seinen wenigen Verbündeten muss er sich dem Bösen entgegenstellen, um das Dorf und seine Familie zu beschützen und das Vordringen einer uralten Wesenheit in diese Welt zu verhindern. Denn dies würde das Ende der uns bekannten Welt einleiten.
Lovecrafteske Momente
Stephen King ist ein großer Bewunderer von Lovecrafts Werk. Er hat dies oft genug in Interviews erklärt nirgends tritt es so deutlich in seinem Werk zutage wie in der Geschichte Jerusalems Lot aus dem Kurzgeschichtenband Nachtschicht (vielleicht noch im Finale des Romans Revival). Zwar hat er das Werk quasi als Prequel zu Salem's Lot angelegt - und damit ein wenig Vampirmythos eingebracht - ansonsten ist die Geschichte ein sehr lovecrafteskes Werk. Schon die Form der Geschichte als eine Art Briefroman, ihr zeitliches Setting und die Beschreibungen von Zeit, Landschaft und Stimmung sind purer Lovecraft.
Es gibt einen schwächlichen Helden, der die Gefahr kaum erträgt. Diese lauert auch nach dem Finale weiter im Dunklen und kann jederzeit wieder in diese Welt hervorbrechen. Uralte Gottheiten, lauern in alten, verfallenen Kirchen, in Tunneln unter der Erde, hervorgerufen durch alte, mysteriöse Beschwörungen aus antiken Büchern, älter als alle bekannten Zivilisationen… Diese Liste ließe sich für diese Geschichte beliebig lange fortführen. Sie finden sich in der Miniserie wieder und werden gelungen verwoben. Die meisten Qualitäten der Vorlage sind in schöne, stimmungsvolle Bilder übersetzt worden.
Es finden sich natürlich Referenzen zu The Rats in the Walls, The Case of Charles Dexter Ward und im Finale Anklänge an Nyarlathotep. Auch wurden die - unter anderem - aus The Dunwich Horror bekannten Ziegenmelker hier als Unglücksboten effektiv eingesetzt und auch als alptraumhafte Geräuschquelle für die Soundkulisse genutzt. Ihr Geschrei schwillt effektiv nervenzehrend an, wenn das Böse zuschlägt. Das Motto "Blut ruft Blut", also die Idee der verdorbenen Blutlinie, ist hier wie im Werke des Autors aus Providence allgegenwärtig. Erinnert sei nur stellvertretend an The Facts concerning the late Arthur Jermyn and his Family.
Die Idee Lovecrafts, dass der Mensch gegebenenfalls als Nahrungsquelle für dämonische Wesen dienen könnte, wird in Chapelwaite effektiv zur Realität. Themen wie Religion, Vererbung und Kultanhängerschaft sind zentrale Handlungselemente bei King und Lovecraft und finden hier Einzug in die Handlung der Serie. Der Einsatz des de Vermis Mysteriis von Ludwig Prinn, welches 1935 von Lovecrafts Epigonen Robert Bloch erfundene Grimoire, wurde als Verweis auf den Cthulhu-Mythos eingebaut und ist ein zentraler Triebmotor der Handlung und des Finales.
Insgesamt ist die Serie - wie die Geschichte - betont ruhig, langsam aufbauend und "altmodisch" erzählt. Sie hält aber mit einer ständig vorhandenen Grundspannung bei Laune und überzeugt durch Stimmungsaufbau, hochwertige Ausstattung und wundervoll atmosphärische Bilder. Die Visualisierung des beginnenden Untergangs des bekannten Universums in der letzten Episode ist phantasievoll, visuell wirklich gelungen und atemberaubend umgesetzt. Wenn die Sterne verlöschen…
Cinematographische Notizen
Peter und Jason Filardi haben bereits vorher an Adaptionen von Stephen King-Stoffen wie Nightmares and Dreamscapes und - passenderweise - Salem's Lot mitgeschrieben. Da es eine Fernsehserie mit zehn Episoden werden sollte, mussten die knapp fünfzig Seiten der Vorlage reichhaltig ergänzt werden. Dies geschah mehr in der Tradition Stephen Kings denn in der Lovecrafts, sind hier doch vor allem familiäre und vampirische Elemente ergänzt worden. Die Stationen der Geschichte werden dabei aber alle eingefügt. Insgesamt wurde Wert auf einen langsamen Aufbau von Geschichte und Atmosphäre gelegt. Dies zeigt sich im sehr guten Produktionsdesign von Matt Likely, der zuvor schon The Witch und The Lighthouse für Robert Eggers ausstattete.
Vor allem die gewählten Schauspieler müssen - neben den gelungenen Kostümen und Effekten - hervorgehoben werden. Neben der Genre-erfahrenen Emily Hampshire (The Rig/Schitt's Creek) sind bis in die Nebenrollen erinnerungswürdige Charaktere entstanden, die um die Hauptfigur von Charles Boone glaubwürdig den Hintergrund liefern. Dieser wird charismatisch von Oscar-Preisträger (The Pianist) Adrien Brody verkörpert, der facettenreich Trauer, Entsetzen, Wahnsinn und Wut darstellen darf und als das zentrale emotionale Element der Serie glänzt.
Die stimmungsvollen Bilder und Kulissen entstanden in Halifax auf der kanadischen Halbinsel Nova Scotia, wo mit einer - coronabedingten - halbjährigen Unterbrechung 2020 gedreht wurde. Stephen King war nicht an der Umsetzung beteiligt, lobte sie aber nach der Ausstrahlung als: "…very,very good. Balls-to-the-wall Gothic Horror. All Thriller, no Filler."
Obwohl die Geschichte in sich abgeschlossen ist, wurde vor dem Autorenstreik in Hollywood eine zweite Staffel bestätigt. Es bleibt abzuwarten, was dort wie erzählt werden soll…
Bewertung
H.P. Lovecraft dürfte die Geschichte kennen, enthält sie doch gute Elemente aus beiden Autoren-Welten. Diese kleine Geschichte eins zu eins umzusetzen wäre natürlich nicht Stoff genug für eine lange Miniserie, eher für einen Spielfilm. Den Autoren ist es allerdings gelungen, die Geschichte interessant und der Vorlage angemessen zu erweitern. Vampire und Themen wie religiöser Wahn, Konflikte in kleinen Gemeinden sowie Trauer und deren Bewältigung sind klassische King-Themen. Sie wurden für Chapelwaite in den Lovecraftmythos um ein verbotenes Buch, Kultanhänger und den drohenden Weltuntergang eingewoben.
Jeder Fan von Stephen King und/oderDer unterhaltsame Mix kommt hier in optisch schönen, an die Gothikgruseler der Hammerstudios erinnernden Bildern daher. Die Serie braucht ihre Zeit, versteht es aber, die Spannung konstant zu steigern und damit den Zuschauer bei Laune zu halten. Die Charaktere füllen sich schnell mit Leben und man beginnt mit ihnen mitzufiebern, so wie es King in seinen besten Werken vormacht. Persönlich empfand ich die Serie als nostalgische und heilsame Erinnerung daran, wie gut man durch charakter- und handlungsgetriebene Spannung unterhalten werden kann. Der größte angeführte Kritikpunkt ist zumeist die Länge, wären doch acht Episoden nach Meinung mancher Kritiker besser gewesen. Die Zeichnung der Personen und ihrer Motivationen braucht diesen ausführlichen, ruhigen Aufbau jedoch, um zum Finale seine Tragweite zu entfalten. Und niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, Stephen Kings Romane seien zu lang, oder?
Fazit
Chapelwaite ist phantastische Unterhaltung alter Schule, eine klassische, tragische und schön bebilderte, in sich abgeschlossene Miniserie. Vom hervorragenden Cast um Adrien Brody getragen, liefert sie eine spannende Adaption des Lovecraft-Pastiches Stephen Kings. Eine Empfehlung.
Chapelwaite gibt es momentan bei Disney+, MagentaTV und auf Bluray.