Lovecrafter Online – Comic-Rezension: Das Traumbestiarium des Mr. Providence

Der Abstieg in den Wahnsinn ist eines der zentralen Themen des Werkes von H.P. Lovecraft. Seit Dagon ist der durchschnittliche Lovecraftprotagonist gefährdet, mindestens der Ohnmacht, wenn nicht schlussendlich dem Verfall seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit anheim zu fallen. Auf eine solche Achterbahnfahrt in die Untiefen der menschlichen Psyche entführt uns der letztjährige Horror Blockbuster Smile des Regisseurs Parker Finn.
Dr. Rose Cotter ist eine sehr engagierte, sehr fähige und chronisch überarbeitete Traumatherapeutin in der psychiatrischen Notaufnahme einer Klinik. Eines Tages erklärt ihr die schwer verstörte, neu eingelieferte Patientin Laura, das sie von einem Wesen verfolgt werde, welches das Aussehen anderer Menschen übernehmen könne und sie mit einem unmenschlichen, alptraumhaften Lächeln in den Wahnsinn treibe. Nachdem Laura vor Roses Augen auf brutale Art Selbstmord begeht, beginnt die Ärztin ebenfalls in ihrem Umfeld dieses Lächeln zu sehen und fühlt sich zunehmend, als sei sie jetzt verflucht.
Ihre Nachforschungen führen immer tiefer in den Abgrund, scheint es doch eine lange zurückreichende Spur ähnlicher Fälle zu geben, die alle im öffentlichen Selbstmord der Opfer endeten.
Rose verzweifelt immer mehr, hört Stimmen, leidet an Visionen, Schlafmangel und einer verzerrten Wirklichkeit. Ihr Umfeld inklusive der Kollegen, ihrer Schwester und dem Verlobten stempeln sie zunehmend als gestört und schließlich sogar als gefährlich ab. Ihre Ermittlungen mit der Hilfe ihres Exfreundes bringen sie auf eine Spur, die in ihre eigene, tragische und unverarbeitete Vergangenheit führt. Der Freitod ihrer Mutter hat bei der jungen Rose ein Trauma gesetzt, ein Zustand, den die böse Entität offenbar braucht und nutzt, um ihre Opfer zu übernehmen. Rose versucht dem Fluch zu entkommen, indem sie sich der Vergangenheit und der Entität stellt ...
Der Film behandelt viele der klassischen Lovecraftthemen. Der Abstieg in den Wahnsinn ist das zentrale Thema des Filmes. Roses Sinne werden zunehmend in Frage gestellt. Die Wirklichkeit ist im Fluss, jeder kann plötzlich zu einer grinsenden Gefahr werden. Dagon oder The Rats in the Walls sind nur einige Texte, die die Helden von Lovecrafts Geschichten in den geistigen Verfall führen und die eigene Wahrnehmung in Zweifel ziehen lassen. Der Fluch aus der Vergangenheit ist zentrales Motiv bei Charles Dexter Ward und führt auch hier in Richtung Untergang.
Der Film baut vor allem Stimmung auf und versucht, Unbehagen und Paranoia zu erzeugen. Immer wieder wird eine Vogelperspektive eingenommen, die die Personen klein und unwichtig erscheinen lässt. Um das Gefühl der Verunsicherung zu kreieren, wird die Kamera dabei kreisend und kippend geführt, um uns den Boden unter den Füßen zu entreißen. Dass das um Objektivität bemühte Milieu der Ärzteschaft zu einem Hort des Wahnsinns wird, ist ebenfalls bei Lovecraft zu finden, sei es bei From Beyond oder Herbert West, Re-Animator. Auch Dr. Whipple als Kämpfer gegen einen alten Fluch Josef Curvens in The Case of Charles Dexter Ward kommt dem Lovecraftjünger da automatisch in den Sinn.
Die Maske als Metapher für die zu wahrende Scheinwelt und das letztlich darunterliegende, lauernde Böse zelebriert der Film ebenso wie Lovecraft es schon in The Festival tat und später in The Whisperer in Darkness weiterführte. Die Entität selbst, die versucht, andere Personen letztlich vollständig zu übernehmen, erinnert an Asenath Waite aus The Thing at the Doorstep. Das Wesen in seiner vollen Pracht im Finale hat statt der vielen Augen der Shoggothen dann eine andere “Überzähligkeit”, die nicht weniger schaurig anmutet und gelungen genannt werden darf. Das Trauma des Todes der Mutter ist eine - sicher ungewollte - Parallele zu Lovecrafts eigener Kindheit mit der schwierigen und früh verstorbenen Mutter Sarah Susan Phillips Lovecraft.
Der Film ist der erste Langfilm von Parker Finn und darf alleine dadurch schon als gelungen bezeichnet werden. Er basiert auf einem - auf Youtube verfügbaren - Kurzfilm namens Laura hasn't slept, der eine Art Vorgeschichte des ersten Opfers in Smile zeigt (und die gleiche Darstellerin zurückbringt). Der Kurzfilm war hoch gelobt und beeindruckte so sehr, dass der Regisseur mit einem Horror-Langfilm beauftragt wurde. Zunächst sollte dieser auf Paramount plus direkt verstreamt werden, eine Trailer-Kampagne vor Top Gun: Maverick und eine virale Kampagne mit Live-Events (Sportereignisse mit Live-Kamerabildern der Zuschauer, bei denen im Hintergrund “smilende” Statisten auftauchten) ließen die Verantwortlichen eine Kinoauswertung durchführen, die letztlich sehr erfolgreich wurde.
Die Ausstattung verfolgt den Verfall der Psyche von Rose genauso aufmerksam über ihre Kleidungsstile wie die Farbgestaltung und das Setdesign. Beginnt der Film noch in einer sterilen, hellen und in pastelligen Einheitsfarben gehaltenen Klinik, endet er in der Dunkelheit des verfallenen Elternhauses. In keiner Umgebung kann man sich dabei jemals sicher fühlen. Das titelgebende Lächeln bzw. Grinsen wurde ohne meist lächerlich wirkende digitale Verstärkungen umgesetzt, was es beängstigender und realer macht als in ähnlichen Werken üblich (z. B. Blumhouse' Truth or Dare von 2018).
Die Darstellung der wahnhaften Erkrankungen innerhalb des Filmes ist geeignet, zumindest mehr Mitgefühl für die Betroffenen und vielleicht etwas Verständnis im Umfeld zu erzeugen, damit eben keine Isolation erfolgt, die alles nur verschlimmert. Regisseur Finn wollte “einen immer schlimmer werdenden Alptraum” und einen “ständigen Abstieg in den Wahnsinn” bebildern. Dazu hat er alle Mittel aus dem Katalog des Horrorfilmes eingesetzt. Es gibt ruhigen Spannungsaufbau mit eher hintergründigem Grauen ebenso wie die klassischen Jump Scares (einige der besten leider schon im Trailer, daher besser vermeiden!).
Rose: ”This isn't real, you're not real.”
Monstrosity: ”Your mind makes it real.”
Dieses Filmzitat fasst den Film wunderbar zusammen. Wer sich auf die Geschichte einlässt und mit Rose alle Tiefen durchschreitet, wird mit einem kompetenten Schocker belohnt, der mitreißend unterhält und atmosphärisch gelungen an den Rand des Wahnsinns führt. Für einen Debütfilm sehr kompetent, getragen von guten Leistungen aller Beteiligten, vor allem einer grandiosen Hauptdarstellerin.
Zeit zum Hinterfragen hat man allerdings ohnehin kaum. Der Film feuert alles ab, was er an Mitteln zur Verfügung hat, um durch seine Reizüberflutung eine Stressreaktion beim Zuschauer zu triggern; laut, schnell, grell und surreal. Schon die Titelkarte des Films vermittelt Stress pur. Das ist nichts für Freunde des ruhigen, in Andeutungen schwelgenden Stimmungsfilms oder des intellektuellen Arthouse Kino. Hier regiert nicht die feine Klinge, sondern ein Vorschlaghammer, der effektiv die Deckung des Zuschauers niederreißt. Eine verfilmte Pulp-Horror-Geschichte mit Sogwirkung, die im Wahnsinn endet.
Der Film ist eine gefilmte Panikattacke, die immer schlimmer wird. Den für den Lovecraftjünger bekannten Abstieg in den Wahnsinn vollzieht der Zuschauer wirkungsvoll, wenn auch wenig subtil an der Seite von Hauptcharakter Rose mit. Wer sich darauf einlassen kann, sitzt in der richtigen Achterbahn und erlebt bis zum Ende eine unterhaltsame Höllenfahrt.