Lovecrafter Online – Musik: Cradle of Filth und Lovecraft
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SimonG -
1. Mai 2023 um 12:00 -
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Großbritannien kann auf eine lange Tradition gruseliger Literatur zurückblicken: Schon die erste Gothic Novel, Horace Walpoles The Castle of Otranto, ist ein britischer Text, und Legion sind seine Nachfolger, von Ann Radcliffes Schauerromanen bis zu Matthew Gregory Lewis‘ berühmt-berüchtigtem Monk. Vielleicht war es Dani Filth, Frontmann der britischen Band Cradle of Filth, bei dieser Nationalgeschichte schon in die Wiege gelegt, sich in seinen Texten häufig mit beunruhigenden und gruseligen Stoffen zu befassen. Die Untaten der „Blutgräfin“ Erzsebeth Bathory sind Thema des Albums Cruelty and the Beast, auf dem ihnen ein deutlich vampirischer Einschlag verliehen wird. Die literarischen Vampire Dracula (Queen, of Winter, Throned; Lovesick for Mina) und Carmilla (Queen of Winter, Throned; Carmilla‘s Masque) werden zitiert oder erwähnt, der Name der Hauptfigur von Edgar Allan Poes Ligeia wird in einem Song erwähnt (A Gothic Romance), Lord Byron gar ein ganzer Song gewidmet (The Byronic Man) – die Liste der Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen.
Kosmische Kulminationspunkte
Einer der blutroten Fäden im lyrischen Schaffen von Frontmann Dani Filth sind H. P. Lovecraft und der Cthulhu-Mythos. So gibt es ein Compilation-Album mit dem Titel Lovecraft & Witch Hearts, einen Song namens Cthulhu Dawn, einen, der mit der Invokation „Iä! Cthulhu fthagn!“ eröffnet (Mother of Abominations) und einen mit dem Titel Crawling King Chaos. In verschiedenen Interviews weist Dani Filth auf seine Beziehung zu Lovecraft und dessen Werk hin, macht aber auch deutlich, dass dieses ein Einfluss von vielen für das lyrische und musikalische Schaffen der Band ist. Trotzdem ist es spannend, wie Lovecraft und seine Geschichten in den Texten von Cradle of Filth verarbeitet werden, denn die Auseinandersetzung mit ihnen geht, von Lovecraft & Witch Hearts einmal abgesehen, weit über bloßes Namedropping hinaus. Der Titel von Crawling King Chaos spielt auf Nyarlathotep an, aber der Text des Songs deckt weit mehr ab als jene enigmatische Gottheit – die sieben Engel der Offenbarung des Johannes werden schon in der ersten Strophe erwähnt und künden von dem, was in den folgenden Versen kommt: der Apokalypse, die mit der Rückkehr der Menschheit ins Nichts endet. Im Refrain wird die altägyptische Gottheit Apophis angerufen, die mindestens genauso sehr der Kriechende König Chaos ist wie Nyarlathotep.
Lovecrafts Mythos steht hier (wenn auch nicht ganz gleichberechtigt) neben religiösen Texten von Auslöschung und Negation, Nyarlathotep ist eine von vielen Verkörperungen eines apokalyptischen Prinzips. Dass Lovecrafts Texte eine nicht zu leugnende religiöse Komponente haben, bemerkt schon Michel Houellebecq und nach ihm Joachim Kalka. Die Gesellschaft, in der Nyarlathotep sich in Crawling King Chaos befindet, ist also nicht willkürlich, sondern schon in Lovecrafts Texten angelegt – christliche Symbolik einerseits, altägyptische Religion andererseits.
Die Verbindung von Christentum und Lovecrafts Werk im Schaffen von Cradle of Filth beobachtet Joseph Norman schon für das Album Midian, auf dem sich der Song Cthulhu Dawn befindet. Sterne verlöschen und furchtbare Monster brechen aus der Erde hervor – die Hölle breitet sich in der Welt der Menschen aus, weil ein Siegel gebrochen wurde (man denke an die Siegel der Johannes-Offenbarung. Mutmaßlich mit dem Aufbrechen des Siegels eingetreten und, so Norman, die Ursache dieses Höllenreigens, ist das Erwachen Cthulhus. Schreckliche Bilder, die mitunter entfernt an Szenen aus Lovecrafts The Call of Cthulhu erinnern, reihen sich aneinander und lassen keine Hoffnung auf ein glückliches Ende: Ist sie in Lovecrafts The Call of Cthulhu noch eine Drohung aus der fernen Zukunft, ist die Apokalypse in Cthulhu Dawn längst in vollem Gange.
Dass der Text von Mother of Abominations nach einem Cthulhu anrufenden Crescendo sich wie eine Fortsetzung von Cthulhu Dawn liest, ist kein Zufall, denn der Song ist laut Dani Filth als eine solche konzipiert. Tatsächlich aber handelt es sich viel eher um eine Variation des gleichen Themas: Cthulhu als Wesen, das durch sein Erwachen das kosmische Ende einläutet. Eine Besonderheit von Dani Filths Cthulhu-Bild ist laut Norman, dass er den Großen Alten als weiblich versteht, was es ihm auch erlaube, Cthulhu und die Hure Babylon miteinander zu parallelisieren.
Sexuapokalypse
Die in verschiedenen Texten von Cradle of Filth zu erkennende Faszination mit Lovecrafts Mythos konzentriert sich vor allem auf dessen annihilierende Aspekte. Cthulhu und Nyarlathotep werden als Prinzipien des Chaos und der Zerstörung verstanden, die neben entsprechende Wesenheiten verschiedener Religionen gestellt werden. Besonders auffällig sind dabei die sprachlichen Bilder und Metaphern, die Dani Filth verwendet. Statt auf naheliegende Formulierungen von Schleim, Gestank und Tentakeln zurückzugreifen, konzentriert er sich zum einen auf den apokalyptischen, zum anderen auf den kosmischen Aspekt von Lovecrafts Schaffen: Sterne fallen oder verlöschen, unbekannte Bestien brechen aus ihren Gefängnissen hervor – das Geschilderte übersteigt den kleinen, zerbrechlichen Menschen in unvorstellbarem Ausmaß.
In The Abhorrent vom Album The Manticore and Other Horrors verbirgt sich eine Anspielung auf The Outsider, wenn es heißt: „I‘m climbing up the years to get you/From a dark abyssic scheme/Lovecraftian, part-Martian/To be the beast I used to be“ – hier schlüpft Filth in die Rolle des Monstrums, das einen schier endlosen Turm hinaufsteigt und schließlich eine Festgesellschaft durch seinen bloßen Anblick auseinandertreibt. Aber jeder, der den Text in seiner Gesamtheit liest, wird schnell merken, dass es sich hier nicht um eine Nacherzählung von Lovecrafts Geschichte handelt, sondern dass diese eines von vielen Bildern in einer Galerie des Schreckens ist.
Gemeinsam haben alle Anspielungen auf Lovecrafts Werk in den Texten von Cradle of Filth, dass sie idiosynkratische Interpretationen sind. Kulturwissenschaftlich ließe sich wahrscheinlich durchaus für eine Aufnahme früherer religiöser Bilder der Zerstörung in Lovecrafts Großen Alten argumentieren, anders jedoch sieht es mit den Metaphern aus, die Filth verwendet, um Cthulhu und andere Schrecken aus Lovecrafts Mythos zu umschreiben: Sie sind mitunter in den Geschichten angelegt (verlöschende Sterne, übler Gestank), häufig aber Hinzufügungen, die dem Mythos neue Aspekte verleihen oder ihn in ein neues Licht rücken.
Fazit: Aus Alt mach Neu
Literarische Vorlagen geben Dani Filth Anlass zu wirbelnden Sprachspielen, die seine Texte auch für den an der Musik seiner Band nicht Interessierten zu einem wahren Vergnügen machen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sich nicht zwanghaft am kanonischen Text von Geschichten und Romanen festkrallt, sondern eigenwillige, auf den ersten Blick mitunter befremdlich erscheinende Vergleiche und zugeschriebene Eigenschaften als Chance auffasst, Neues an Altbekanntem zu entdecken.
Bildnachweis
Das Artikelbild ist von James Gray-King auf flickr.
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