Lovecrafter Online – 108 – Filmkritik: Midsommar


Howard Phillips Lovecraft veröffentlichte seine Geschichten hauptsächlich in den Pulp Magazinen seiner Zeit. Vor allem in seinem geliebten Weird Tales-Magazin erschienen seine Horrorgeschichten und er las diese Art von Heftmagazinen mit Leidenschaft, auch wenn er ihre reißerische Aufmachung oft verachtete und kritisierte. Scott Derrickson drehte für den Streamingdienst Apple TV+ mit The Gorge einen Film, dessen Geschichte direkt aus einem solchen Magazin entstammen könnte und baute dabei einen gehörigen Lovecraft-Vibe in seinen wilden Genremix ein.
Handlung
Levi ist ein hervorragender Scharfschütze und wird verfrüht aus der Ruhepause geholt, um einen Spezialauftrag zu erfüllen. Er soll für ein Jahr lang am Westende einer abgelegenen Schlucht stationiert werden, ohne jeden Kontakt zur Außenwelt, streng geheim geführt von den westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. In der Tiefe des Abgrunds lauert etwas Grauenvolles, erklärt ihm kurz und knapp die nebulöse Chefin Bartholomew, die ihn rekrutiert. Alle Versuche, die Schlucht auszuräumen, seien schon in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gescheitert, deshalb werde die Gefahr nun nur noch eingedämmt. Sein Vorgänger J.D. erklärt Levi vor Ort, kurz bevor er abreist, seine Theorie zu dieser Schlucht: „Wir bewachen das Tor zur Hölle.”
Levi soll die automatischen Maschinengewehre warten und laden, Minen erneuern, Schäden beheben und vor allem das Gerät zur Radartarnung der Anlage überwachen. Von seinem Aussichtsturm aus muss er jede Flucht aus dem Inneren der nebelverhangenen Schlucht verhindern. Es gibt nur monatliche Kontrollmeldungen per codiertem Funk, eine Kontaktaufnahme ist sonst nicht erlaubt. Dies gilt auch für die Ostseite der Anlage, die von Russland im Einvernehmen gemanagt wird. Hier ist ebenfalls eine Aufsicht vor Ort, es handelt sich um die litauische Scharfschützin Drasa. Es kommt bald zu einer ersten, verbotenen Kontaktaufnahme über auf Tafeln geschriebene Nachrichten und bald schon vertreibt man sich die zunächst ruhige Zeit mit etwas spezielleren Flirtereien unter Scharfschützen.
Beide beweisen sich beim ersten echten Angriff aus der Schlucht und bilden ein hervorragendes Team, als seltsame Kreaturen, genannt die Hollow Men, aus den finsteren Tiefen emporklettern und angreifen. Die Verbundenheit wächst im Laufe der Wochen stetig. Schließlich feuert Levi ein Seil über die Schlucht und es kommt zum direkten Kontakt der beiden seelenverwandten Profis. Das zarte Glück währt nur kurz, bei der Rückreise auf dem Ost-West-verbindenden Seil kommt es zu einem neuen Angriff aus The Gorge, dabei explodieren einige automatische Minen und lassen das Kabel reißen, bevor Levi das sichere andere Ende erreicht. Er stürzt in die Tiefe, gerettet von seinem Fallschirm verschwindet er im unheimlichen Nebel. Drasa zögert nicht, bewaffnet sich und springt beherzt hinterher.
Auf dem Grund der Schlucht müssen sich die beiden alptraumhaften Gefahren im dichten Nebel stellen. Eine völlig fremdartige und angriffslustige Flora und Fauna erwartet sie, die direkt aus den Träumen eines Wahnsinnigen zu entstammen scheint. Die beiden kampferprobten Profis stoßen dabei tiefer in das Mysterium dieses Ortes vor und entdecken, dass ihre Auftraggeber ihnen einiges über die wahre Natur der Anlage verschwiegen haben. Für ihre Erkenntnisse und Pflichtverletzungen drohen an der Oberfläche tödliche Konsequenzen. Der Weg zurück erscheint unmöglich, die Zeit drängt, dem gefährlichen Nebel und allem, was in dieser bizarren Welt die Jagd auf die beiden eröffnet hat, zu entkommen.
Lovecrafteske Momente
„Shape without form, shade without colour. Paralysed force, gesture without motion.”
- T.S. Elliot / The Hollow Man
Wenn man ehrlich ist, würde die Liebesgeschichte und vieles im Umfeld des Filmes Lovecraft wohl wenig glücklich machen. Zu leicht im Tonfall, zu wüst im Actionbereich und zu hemdsärmelig in der Konsequenz der Handlung präsentiert sich The Gorge insgesamt. Immerhin versteht es der Film aber, das Mysterium um die Schlucht und die Andeutungen um die wahre Natur der ihr inneliegenden Gefahr schön lange im Unklaren zu lassen. Der Bezug auf Lovecrafts englischen Zeitgenossen, den Lyriker und Dramatiker T. S. Elliot als ein den mythologischen Hintergrund lieferndes Puzzlestück ist ein gelungenes Element in dem Referenzen-Flickenteppich des Filmes. Genau wie es die Pulpgeschichten aus der Lovecraft Ära, die Astounding- und Amazing Stories oder eben Weird Tales präsentierten, liegt hier eine im Grundsatz eigentlich hanebüchene Geschichte zugrunde. So etwas würde heute eher in Comicform, als Graphic Novel erscheinen, oder früher bei den EC-Comics oder Gespenster-Geschichten. Man könnte The Gorge also nach allen Regeln der Kunst verreißen - vielleicht ganz im lovecraftschen Geiste.
Allerdings erhält man objektiv betrachtet genau das, was man bei dieser Prämisse der Geschichte erwartet. Und das professionell umgesetzt, ausgestattet und hervorragend gespielt. Ein B-Movie im Gewand eines Blockbusters, der durchaus eine große Leinwand verdient hätte. Der Film ist sich seiner Campyness bewusst und zieht die Bebilderung der Groschenroman-Geschichte selbstbewusst und konsequent durch, wie es der Autor aus Providence auch bei manch eigener, nüchtern betrachtet wilden Geschichte tat. Und dann ist da noch der Abschnitt im Graben selbst. Das ist lovecrafteskes Alptraum-Kino in Hollywood-Version. Bizarre Kreaturen, wahnsinnige Mutationen und an die Urängste appellierende Gräuel sieht man selten so liebevoll umgesetzt auf der Leinwand. Die phantasievolle Darstellung der degenerierten Natur und der mutierten Kreaturen in der Schlucht, ständig von giftig-farbigen Nebeln umhüllt, trägt viel zur Fremdartigkeit des Handlungsortes und somit zur Stimmung und Anspannung bei. Wenn Bäume und das Innere von Gebäuden zur Gefahr werden, entfaltet sich eine effektive Stimmung der Verunsicherung und wohligen Grauens.
Wo Lovecraft auf Mutationen durch die Degeneration wie in The Beast in the Cave oder Inzucht bei The Shadow over Innsmouth setzt, bildet der Film als Ursache eine genetische Rekombination bzw. Verschmelzung als Ursache an, erzeugt durch eine biologisch-chemische Waffe des Militärs. Das Ergebnis ist in beiden Fällen etwas genuin Grauenvolles, Unvorstellbares. Die Pflanzen-Mensch-Insekten-Kreuzungen im Graben sind erschreckend und trotz CGI-Ursprungs furchteinflößend genug. Das Setting in der abgelegenen Schlucht entspricht dabei dem lovecraftesken Verbotene-Orte-Narrativ wie die versteckten Geheimnisse in den Tunneln und Forschungslaboren der weiten Anlagen in der Tiefe. Die Enthüllungen durch liegengebliebene Aufzeichnungen und die weltweite Verschwörung im Hintergrund erinnern an The Call of Cthulhu.
So erfüllt der Film seine vom Mythos-Meister gestellte Aufgabe, wenn man den Brief Lovecrafts von 1926 an den Herausgeber der Weird Tales zitiert: „...Meine einzige Absicht ist, so viel Vergnügen wie möglich daraus zu ziehen, gewisse bizarre Bilder, Situationen oder atmosphärische Effekte zu schaffen…” und „ …Die meisten Geschichten darin (Weird Tales) sind von ihrer Machart her natürlich mehr oder weniger kommerziell - oder sollte ich sagen konventionell - aber alle haben lesenswerte Aspekte.” (zitiert nach S.T. Joshi / H.P. Lovecraft: Leben und Werk Band I / Golkonda). Im Sinne dieses Zitates ist The Gorge sicher konventionell und kommerziell erzählt, hat aber genügend der geforderten bizarren Bilder, der fremdartigen Atmosphäre und an sehenswerten Sequenzen.
Cinematographische Notizen
The Gorge entstand für Apple TV+ und ist auf diesem Streaming-Dienst kostenlos im Abo zu sehen. Regisseur Scott Derrickson ist für seine Horror- und Lovecraftliebe bekannt, stammen von ihm doch beachtliche Werke im Genre wie Sinister, The Black Phone und The Exorcism of Emily Rose, oft unter seiner Beteiligung am Drehbuch.
Der Hauptteil des Filmes ist ein Zwei-Personen Stück, daher wurden hier hochdekorierte Schauspieler verpflichtet, Miles Teller (Whiplash) und Anya Taylor-Joy (The Witch), um die Liebesgeschichte und den Actionpart gleichermaßen gekonnt darstellen zu lassen. Dazu kam als mysteriöse Hintergrund-Figur und Levi-Boss Sigourney Weaver (Alien). Wer darauf achtet, kann in der unterirdischen Forschungsanlage in der Schlucht übrigens einen Facehugger im Hintergrund finden, eine kleine Referenz an die Genre-Ikone.
Die wunderbar stimmungsvoll eingefangenen Bilder des Filmes schoss Dan Laustsen, der schon Guillermo del Toro’s The Shape of Water und den ersten Silent Hill ablichtete. So erklären sich visuelle Ähnlichkeiten zu letztgenanntem Film. The Gorge erinnert optisch an Alex Garlands Annihilation, vor allem wenn es um die gleichzeitige Darstellung von Schönheit, Fremdartigkeit und Grauen in den Bildern geht.
Die Landschaft und die Kreaturen am Boden der Schlucht wurden unter anderem vom polnischen Maler Zdzislaw Beksinski inspiriert, dessen Kunstwerke geneigten Lovecraftianer*Innen sehr zum Genuss empfohlen werden können. Dazu baute man die Beschreibungen aus dem Gedicht des Lyrikers T. S. Eliot in die Gestaltung der filmischen Hollow Man mit ein („Headpiece filled with Straw”).
Musikalisch wird das Ganze neben den passend ausgewählten Songs von einem Score untermalt, der von den SF-Filmen der 30er-50er Jahre inspiriert ist, kreiert von Trent Reznor und Atticus Ross.
Der Film ließ sich sicherlich sehr großzügig inspirieren, man denkt beim Horroranteil an Werke von Stranger Things bis The Fly oder von Cold Skin bis Pitch Black mit ein wenig Silent Hill und The Mist. Gerade der Abschnitt im Inneren der Schlucht weckt Erinnerungen an die lange verschollen geglaubte Sequenz in der Schlucht auf Skull Island im klassischen King Kong von 1933, die heute auf YouTube bestaunt werden kann und für ihre Zeit grausam und alptraumhaft ausfiel (Peter Jacksons King Kong enthält eine neuere Version davon). So ist The Gorge eine wilde Mischung aus SF/Horror- und Liebesgeschichte, Militäraction und Abenteuerfilm mit einem Hauch Verschwörungsthriller abgeschmeckt.
Miles Teller und Anya Taylor-Joy wollten ihre Flirtereien allerdings kürzen, als sie sahen, dass Drasa Schach und Levi Schlagzeug spielen sollten. Obwohl diese kleinen Charakterisierungen bereits vor der Rollenverteilung existieren, empfanden sie diese als zu platte Insider-Anspielung auf ihre Durchbruchswerke The Queen’s Gambit (Taylor-Joy) und Whiplash (Teller), setzten sich glücklicherweise jedoch nicht damit durch.
Bewertung
Wer hier eine Lovecraftadaption oder eine rein lovecrafteske Geschichte erwartet, wird eher enttäuscht werden. Viel Liebesgeschichte mit Agenten- und Actiongehalt wird hier erzählt, es dauert bis der erste Hollow Man auftaucht knapp dreißig Minuten, in die Gorge selbst geht es erst nach über einer Stunde. Man muss sich auf den wechselhaften Genremix einlassen können, deshalb ist der Verweis auf Weird Tales und die erwähnten Graphic Novels hilfreich für das Erwartungsmanagement.
Man folgt einer oft den Ton wechselnden Geschichte, vermittelt von guten Schauspielern. Es wird Lust und Neugier auf das Mysterium erzeugt bis man letztlich bei einer wild-bizarren Achterbahnfahrt in einem Alptraumszenario ankommt. Das ist größtenteils frei von Albernheiten, wird erfreulich ernst verkauft und vermittelt sanfte Lovecraft-Vibes in Hollywood-Manier. Zu hohe Ansprüche an die Logik sollte man dabei nicht stellen. Nicht blutig oder explizit, hier ist die innovative Mischung die Neuerung, alle Zutaten sind bereits bekannt und bewährt. Videospieler*Innen dürften die Inspirationsquellen aus ihrer Welt schnell identifizieren und sich so wohlig zuhause fühlen bei diesem filmisch ausgeführten Walk-Through.
Bei The Gorge werden lovecrafteske Tropen an ein breites Publikum herangetragen, das über den unterhaltsamen Cocktail einen kleinen Einblick in das unvorstellbare Grauen erhält, wie es der Autor aus Providence gerne in die Welt gesendet hat. So etwas bekommt man auch nicht jeden Tag zu sehen. Leider.
Fazit
Mit der richtigen Erwartungshaltung macht die chaotisch-unterhaltsame Mischung von The Gorge viel Spaß. Für einen entspannten Abend erhält man einen hervorragend gemachten Hollywood-Kintopp mit einem Hauch von einsteigerfreundlichem Lovecraft-Horror. Schön.