Lovecrafter Online – Filmkritik: Cold Skin
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Michael H. -
16. Dezember 2024 um 12:00 -
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Howard Phillips Lovecraft inspirierte andere Autoren mit den Ideen und Motiven seiner Werke, wie er selbst von anderen Autoren inspiriert wurde. Der Film Cold Skin - Insel der Kreaturen von 2017 verfilmt den Roman Im Rausch der Stille von Albert Sánchez Piñol und bringt dabei viele lovecrafteske Motive des Romans mit auf die Leinwand. Xavier Gens macht aus der Vorlage einen Abenteuerfilm mit philosophischem Einschlag. Bezüge zu der Angst vor dem Unbekannten, den unendlichen Tiefen des Ozeans und dem Verfall von Menschlichkeit und Zivilisation inklusive.
Handlung
“Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.”
- Friedrich Nietzsche
Im Jahr 1914 kommt ein junger Mann auf eine öde, fast unbewohnte Insel in der Polarregion. Er soll an diesem abgelegenen Ort als Wetterbeobachter ein Jahr lang Dienst tun. Fernab jeder Zivilisation lebt hier nur noch der abweisende, geradezu feindliche Leuchtturmwärter Gruner in seinem zur Festung umgebauten Leuchtturm. Der letzte Wetterbeobachter sei verstorben, so Gruner, angeblich an Typhus. Er rät dem jungen Zivilisationsflüchtling zur Abreise. Schon in der ersten Nacht wird dieser im Haus des Wetterbeobachters von seltsamen Kreaturen belagert, die er mit Gewalt vertreibt. In der zweiten Nacht brennt bei dieser Selbstverteidigung ein Teil der Hütte nieder, sie ist danach nicht mehr sicher bewohnbar.
Der Wetterbeobachter beobachtet Gruner heimlich und sieht ihn beim Wasser holen mit einer der Kreaturen, es kommt zur Konfrontation. Gruner erklärt dem Neuen, von ihm einfach Friend getauft, dass fast jede Nacht Kreaturen aus der Tiefe des Ozeans emporsteigen, um den Leuchtturm anzugreifen. Friend bietet Munition und Vorräte gegen Schutz an und Gruner akzeptiert, wenn Friend seinem Kommando und seinen Regeln folgt.
Die Spannungen zwischen den beiden Männern nehmen nach und nach zu, als Friend erkennt, dass Gruner das Wesen Aneris, als eine Art Sklavin hält - auch für sexuelle Zwecke. Diese sei Gruner nachgelaufen, nachdem er sie vor dem Tod bewahrt habe. Bei dem nächsten Angriff sperrt Gruner Friend zur Bewährungsprobe aus und dieser muss brutal um sein Leben kämpfen. Eine bizarre Dreiecksbeziehung entspinnt sich, geprägt von Misstrauen, brutalen nächtlichen Angriffen und Schlaflosigkeit. Bei seinen Spaziergängen am Meer beobachtet Friend Aneris und lernt trotz aller Fremdartigkeit mehr über sie und die Wesen aus der Tiefsee, nimmt sogar zaghaften Kontakt mit ihr auf.
Als sie eines Nachts fast überrannt werden, schlägt Friend einen riskanten Plan vor. Ein in der Nähe gesunkenes portugiesisches Schiff soll noch Dynamit an Bord haben. Die gefährliche Bergung gelingt unter großen Schwierigkeiten. Obwohl Friend erkennt, dass die Kreaturen menschlicher sind, als der immer diktatorischer und verbissener werdende Gruner ihnen zusteht, errichten sie eine tödliche Falle um den Leuchtturm herum. Friend stellt sich mehr und mehr die Frage, wer in diesem tödlichen Katz- und Mausspiel die bösere, aggressivere und invasivere Spezies ist… Der nächste nächtliche Großangriff führt zu einer brutalen Schlacht ums Überleben. Friend muss seine Entscheidung treffen und eine Seite wählen.
Lovecrafteske Momente
Der Film basiert auf dem Roman Im Rausch der Stille a.k.a. Cold Skin (La Pelle Freda, wörtlich "Kalte Haut") aus dem Jahre 2002 von Albert Sánchez Piñol.
Die Übermacht an Fischwesen, im Roman Froschkerle genannt, die nach Sonnenuntergang die Insel überfallen, erinnert an The Shadow over Innsmouth, wenn dort vom Teufelsriff die tiefen Wesen emporsteigen und ihre Invasion der Stadt beginnt. Diese Bilder aus Lovecrafts Geschichte kann man kaum spektakulärer auf Film bannen als dies hier in einigen Sequenzen geschieht. Ein einsames Eiland, hochschlagende Gischt, diffuser Nebel und nur der aufragende Leuchtturm als Lichtquelle zaubern eine ebenso wunderschöne wie beunruhigende Stimmung auf die Leinwand, die direkt in die berühmte Geschichte Lovecrafts übertragbar wäre.
Das gesamte Setting ist perfekt für die atmosphärische Erzählweise von Cold Skin geeignet. Die oft von Lovecraft genutzte einsame Abgelegenheit, die Angst vor dem, was in den abgrundtiefen Mysterien des tiefen Meeres lauert und was beides mit der menschliche Psyche anrichtet, verhandelt der Film auf gekonnte Weise. Parallelen zwischen der Figur Zadok Allens und Gruner sind ebenfalls feststellbar. Die Angst vor dem Fremden ist ein weiteres gemeinsames Motiv.
Wenn Friend des Nachts aus der brennenden Hütte flieht, wird er wie ein klassischer Held Lovecrafts ohnmächtig, er versagt auch zunächst bei der mörderischen Abschlachtung der Kreaturen. Die Perversion der Mensch-Amphibien-Beziehung, für Lovecraft oft Höhepunkt des Schreckens, deutet der Film geschickt nur an. Expliziter und blutiger geht es hier bei den nächtlichen Kämpfen zu, es überwiegt jedoch generell die Erzeugung von Stimmung und Atmosphäre. Nahezu auf einen Schauplatz begrenzt, wird dieser in grandiosen Bildern so real wie möglich präsentiert und bebildert.
Gruner wird als Eremit, in der Einsamkeit fast wahnsinnig gewordener, verbitterter und hasserfüllter Mann gezeichnet, der seine eigenen Gesetze auf der Insel mit eiserner Hand durchsetzt. Seine Vormachtstellung wird durch die schiere Masse der Kreaturen gefährdet. Nicht nur ist der Mensch in Anbetracht der ihn umgebenden Gefahren hilflos, er trägt noch zu seinem Untergang bei. Ist Gruner selbst Schuld an der Invasion? Er hält die singende Aneris (Rückwärts: Sirena) gefangen und verweigert jede Verhandlungslösung mit ihren Artgenossen. Gewalt hält weder die tiefen Wesen in Lovecrafts Geschichte noch die Kreaturen in Cold Skin auf, die Zivilisation und deren technischen Mittel versagen bei der Flut aus den Tiefen, seien es die aus dem Kosmos oder dem Ozean.
Neben lovecraftesken Motiven kann man hier literarisch noch auf die Motive und Werke von Charles Darwin, Herman Melvilles Moby Dick, Joseph Conrads Herz der Finsternis und Dantes Inferno stoßen. Ebenso gibt es Kritik an Xenophobie - sicherlich nicht auf dem Einfluss des bekanntlich rassistischen Lovecraft basierend - sowie an Kolonialismus und Imperialismus. Wie beim Meister aus Providence sind die Kreaturen hier bizarr und fremdartig dargestellt und sehr gut umgesetzt. Sie erscheinen dabei durchweg funktionaler, natürlicher und mehr den Gesetzen der Evolution entsprungen zu sein, anders als die zur Erzeugung von Schrecken und Ekel gestalteten, zumindest an Land degeneriert wirkenden Mischwesen aus Innsmouth.
Lovecrafts Erzählung beinhaltet mit der Flucht Olmsteads eine für Lovecrafts Verhältnisse veritable Actionszene, bei Cold Skin wird deutlich mehr und gröber gehobelt. Dennoch liegt der Hauptfokus des Filmes auf der Atmosphäre der Abgeschiedenheit und der Erzeugung von Stimmung. Dies gelingt mit schönen Bildern und großartigen Natur- und Landschaftsaufnahmen. Im Gewand eines Abenteuer- und Actionfilmes werden philosophische Fragen ebenso angeschnitten wie die Angst vor dem Unbekannten oder dem Wahnsinn. Die Grenze zwischen Mensch und Monster, Zivilisation und Barbarei sowie Menschlichkeit gegenüber Triebhaftigkeit thematisiert der Film wie Lovecrafts Werke und kommt zu seiner eigenen Konklusion.
“We are on a tiny Island what we know, surrounded by an ocean of what we don’t.”
- Friend
Cinematographische Notizen
Zunächst sollte Island als Schauplatz für die eisige Polarregion dienen, erwies sich allerdings als zu kalt und technisch anspruchsvoll. Für die stimmungsvollen Bilder und die gelungenen Naturaufnahmen, die alleine eine Sichtung des Filmes schon empfehlenswert machen, hielt letztlich die Insel Lanzarote her. Ihre raue vulkanische Landschaft unterstützt die Handlung der Geschichte perfekt. Die gelungenen Setbauten des verstorbenen zweimaligen spanischen Oscar-Preisträgers Gil Parrondo (u.a. für Patton) verstärken den naturalistischen Eindruck des Geschehens. Die Monstermasken und die praktischen Effekte darf man als sehr gelungen bezeichnen.
Einzig die soliden, heute aber nicht mehr zeitgemäßen CGI-Effekte muss man mit etwas Wohlwollen betrachten. Auch hier gelingen einige großartige, stimmungsvolle Sequenzen, da die Massenangriffe praktischerweise immer nachts durchgeführt werden. Aber nicht alle Bewegungsabläufe sind rund und natürlich oder entsprechen neueren Standards. Wobei das bei manch einem aktuellen Marvel-Blockbuster ebenso wenig der Fall ist… Für sein knappes Budget von 8,5 Mio Euro ist Cold Skin ein bemerkenswerter Film, der gekonnt seine moralische Parabel mit modernem, nach wie vor aktuellem Bezug erzählt und gleichzeitig stimmungsvolles Zeitkolorit transportiert.
Die Natur und die Kulissen sind hier ein zusätzlicher Hauptdarsteller. Daneben gibt Filmveteran Ray Stevenson (Star Wars) seinen herrlich knorrigen Leuchtturmwärter Gruner als Mischung aus Captain Ahab und Zadok Allen. Die Rolle sollte zunächst an Stellan Skarsgard (Chernobyl) gehen, der aus terminlichen Gründen absagen musste. David Oakes (Vikings) gibt überzeugend den anfangs naiven und idealistischen Friend, der uns erzählerisch mit Off-Kommentaren durch die Handlung führt. Aura Garrido (The Body) verkörpert die von drei Parteien umkämpfte Kreatur Aneris. Die gelungenen Make Up-Effekte lassen die Kreaturen realistisch, etwas abstoßend und gefährlich aber gleichzeitig auch faszinierend und menschlich erscheinen.
Die Filmmusik von Victor Reyes unterstützt emotional und orchestral die Geschehnisse und rundet den Gesamteindruck ab, dass man hier einem kompetenten Erzählkino mit Anspruch folgt.
Bewertung
Irgendwo zwischen einer weniger verkopften Version von Robert Eggers The Lighthouse, ein wenig del Toro's The Shape of Water, etwas Apokalypse now und eine Prise Moby Dick angesiedelter Genrezwitter, der mit fantastischen Bildern und philosophischen Fragen die etwas löchrige Logik der Handlung zu kaschieren weiß. Nicht alle Fragen werden beantwortet. Gerade die Figur der Aneris bleibt recht unerklärt und mysteriös. Die spannenden Fragen nach Krieg, Imperialismus, Schuld und Menschlichkeit wie die nach Macht- und Größenwahn des Menschen stellt der Film schön bebildert in Form eines Action- und Abenteuerfilms. Naturgemäß müssen die Charaktere gegenüber dem Roman gröber gezeichnet sein, ihre Vorgeschichten werden gekürzt und kondensiert, die geschichtlichen und zeitgenössischen Hintergründe nur angedeutet und simplifiziert.
Trotzdem: Eine erfreulich stimmungsvolle europäische Produktion von Regisseur Xavier Gens, der sonst bekannt ist für brutalere Horrorfilme wie Frontier(s) (2007). Er inszenierte zuletzt den strunzdummen Netflix-Trash Im Wasser der Seine (2024). Die Forderung Lovecrafts, das Atmosphäre über alles geht, erfüllen die wunderbaren Filmbilder von Cold Skin bestens: mit der öden, kargen, herausfordernden Landschaft der Insel, umgeben von den weiten Tiefen des Ozeans inklusive des versunkenen, portugiesischem Schiffswracks, blanken Walskeletten und den überall lauernden Kreaturen. Angesiedelt unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg liegt eine Spannung in der Luft, der Film lässt mit geringen Mitteln diese Epoche aus der Lebenszeit Lovecrafts auferstehen. Die eisige Abgeschiedenheit und die Isolation der Protagonisten erinnern dabei sowohl an At The Mountains of Madness wie auch an John Carpenter's The Thing.
Ganz erreicht der Film die Klasse solcher Vorbilder sicher nicht, die Spannung und Paranoia werden nie so intensiv und mitreißend. Als abenteuerliche Reflektion über die Natur des Menschen und seine Stellung in Nahrungskette und Kosmos ist der Film aber sehenswert. Erfreulich ruhig und konzentriert, ohne Leerlauf erzählt, hält er von Beginn an die Spannung und das Tempo aufrecht und versteht es, an den Fortgang der Handlung und somit den Bildschirm zu fesseln. Einige Bilder und Sequenzen sind dabei inspiriert von und gefilmt wie die Gemälde aus einer Kunstgalerie, man wird so an Werke wie Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrichs erinnert. So überträgt sich doch ein wenig der Poesie der Vorlage auf die bewegten Filmbilder.
Fazit
Fantastisch bebilderter und atmosphärischer europäischer Abenteuerfilm über die unsichere Grenze zwischen Mensch und Monster, angereichert mit Philosophie, Action und Horror. So schroff, karg, gefährlich und gleichzeitig poetisch und wunderschön die Insel ist, ist diese filmische Melange der Motive aus Heart of Darkness, Moby Dick, The Lighthouse und Lovecraft. Lohnenswert.