Ein Schatten über Hamburg - Das weltweite erste Horror-Theater feierte in diesem Jahr seine Eröffnung mit einem lovecraftigen Klassiker.
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Jamel -
23. Dezember 2024 um 12:00 -
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Das Theater
Wir betreten das Theater und finden uns in einem Barbereich wieder. Hinter der Bar laufen ein Schiffsjunge und der Fährkapitän. Der Kapitän prüft unsere Karte und bittet uns dann launig und mit Hamburger Seemansbrise in der Stimme herein. Wir können Getränke bestellen und warten auf den Beginn der Vorführung. Von der Bühne sehen wir noch nichts.
Wir sind etwa 30 Personen. Manche warten, manche trinken etwas und warten. Dann geht es los.
Die Überfahrt
Der Schiffjunge schiebt einen Raumtrenner auf, hinter dem sich die Bühne befindet, und weist uns an Platz zunehmen. Auf unseren Plätzen liegen Flyer und Blätter mit Songtexten. Das Stück beginnt. Der Schiffjunge wirkt unzufrieden und fragt uns, was wir denn in Innsmouth wollen, schließlich hört man nichts Lohnenswertes von dort und die Leute sollen auch komisch aussehen. Kenner der Geschichte bemerken hier den roten Faden. Der mürrische Schiffjunge fährt fort und erzählt uns etwas aus seinem Leben und auch, dass seine Eltern lieber einen Jungen als ein Mädchen gehabt hätten. Richtig gelesen, der Schiffsjunge vor uns heißt Berta Olmstedt (Nisan Arkin) und ist kein Schiffsjunge, sondern ein Mädchen und trägt lediglich das Outfit eines Schiffsjungen. Der erste Bruch zur Vorlage.
Dann hören wir wieder eine bekannte Stimme. Der Fährkapitän (Lars Henriks) begrüßt uns mit bester Laune zu unserer Überfahrt von Hamburg nach Innsmouth und scheucht Berta zur Arbeit. Widerwillig verteilt sie kleine Provianttüten gefüllt mit Salzheringen für die Überfahrt an uns. Der nächste Bruch. Gute Laune und ein Schiff – war das nicht anders? Der Kapitän setzt zum Shanty an, natürlich nicht ohne vorher nochmal zu erwähnen, dass es sich an dieser Stelle um den Mitmachpart handelt. Als Bordpassagiere singen wir zusammen das Wellerman-Shanty (Neuseeland, zw. 1860-1870) und werden vom Kapitän am Klavier begleitet.
Nach der musikalischen Einlage erreichen wir Innsmouth, allerdings hat das Schiff während der Überfahrt eine „Schiffsplankenverkrösung“ erlitten und ist nun nicht mehr seetüchtig – der Aufenthalt in Innsmouth wird also länger als erwartet ausfallen. Uns stört das nicht, denn wir sind nicht nur Publikum, sondern auch alle Einwohner Innsmouths. Berta aber schon!
Sie streitet mit dem Kapitän, wie denn das sein kann und ob Schiffsplankenverkrösung überhaupt ein Wort ist. Nach dem Wortgefecht ist für Berta klar, dass sie einen Platz zum Schlafen brauchen wird. Der Kapitän erwähnt ein Hotel im Ort, das wohl die einzige Übernachtungsmöglichkeit hier bietet. Berta macht sich widerwillig auf den Weg.
Ankunft in Innsmouth
Auf der Bühne sehen wir eine große Tür mit zwei Flügeln über der Gilman House steht. Berta öffnet die Tür und trifft hinter dieser auf den Hotelpagen Alvi (Lars Henriks), der gerade in einen ganzen rohen Fisch beißen will. Alvi wirkt durch seine tollpatschige, aber hilfsbereit Art sofort sympathisch. Er hat bereits von der Schiffplankenverkrösung gehört und bietet Berta ein Zimmer im Gilman House an.
Nachdem Berta im Gilman House einen Schlafplatz sicher hat, erkundigt sie sich bei Alvi nach etwas zu essen, der ihr seinen rohen angebissenen Fisch anbietet. Berta lehnt ab und fragt Alvi, ob es denn nicht woanders etwas zu Essen gibt. Alvi verweist sie an ein Wirtshaus im Ort. Berta bedankt sich bei Alvi und gibt ihm etwas Geld - das er sofort isst.
Auf dem Weg zum Wirtshaus trifft Berta auf den alten Trunkenbold und Straßenmusiker Zadok Allen (Lars Henriks). Zadok, der verdächtig nach Billy Gibbons (ZZ Top) aussieht, schmettert uns mit seiner Gitarre dann auch den gleich den von Taylor Swift inspirierten Song Welcome to Innsmouth (in Anlehnung an Welcome to New York, 2014) um die Ohren. Nach der musikalischen Einlage erzählt der angetrunkene Zadok Berta von merkwürdigen Ereignissen in der Kirche und abscheulichen Wesen, die sich in Innsmouth aufhalten sollen. Auf Bertas Nachfrage leugnet er aber gleich wieder etwas darüber zu wissen oder gesagt zu haben. Der scheinbar verwirrte Zadok steigert sich in seinen Wahn, bis er dann panisch von Berta wegläuft. Berta bleibt sichtlich verwirrt zurück, unschlüssig darüber, ob sie den Worten von Zadok Glauben schenken kann. Nach der Begegnung setzt sie ihren Weg ins Wirtshaus fort.
Das Wirtshaus
Wir wechseln die Szene. Die Schauspieler gehen von der Bühne in den Barbereich. Das Publikum folgt den Schauspielern. Offensichtlich wird das Stück nun im Barbereich des Theaters fortgeführt:
Im Wirtshaus angekommen trifft Berta auch gleich auf einen merkwürdigen Wirt (Lars Henriks), der das Paradebeispiel für den „Innsmouth-look“ ist. Berta fragt nach etwas zu Essen und erzählt dem Wirt, dass sie hier festsitzt, bis ihr Schiff wieder seetüchtig ist. Auch der Wirt hat bereits von der Schiffsplankenverkrösung gehört und reicht Berta eine Platte mit etwas das sich im weitesten Sinne als Meeresfrüchte beschrieben lässt und alles andere als appetitanregend auf Berta wirkt. Sie bestellt noch etwas zu trinken, um möglichst nicht von der Platte essen zu müssen und fragt auch gleich den Wirt über den Ort aus. Der Wirt erzählt ihr ein paar Dinge über Innsmouth und die Kirche. In einem unbedachten Moment nennt er Berta beim Vornamen, obwohl sie ihm diesen nicht genannt hat. Berta fragt, woher er ihren Namen kennt, der Wirt behauptet, sie hätte ihm ihren Namen genannt. Berta ist verunsichert. Sie bedankt sich bei dem Wirt, lässt die unangerührte Fischplatte zurückgehen und gibt den Wirt etwas Geld – das er sofort isst. Mit dem neugewonnenen Wissen macht Berta sich auf den Weg, um den Gerüchten über die merkwürdigen Vorgänge in der Kirche nachzugehen.
Pause
Es folgt eine 15-minütige Pause. Lars Hernriks, den wir in der Wirtshausszene als Wirt kennengelernt haben, bleibt hinter Bar und bedient die Gäste während der Pause. Das Unterhaltsame dabei ist, dass er dabei auch weiterhin in seiner Rolle als Innsmouth-Wirt bleibt. Auch ich bestelle mir in der Pause ein Glas Wasser. Meine Bestellung wird mir mit dem Hinweis gereicht, dass nur ein bisschen Spucke darin ist.
Die Kirche
Die Pause endet und wir werden vom Wirt zur Kirche geschickt. Die Szene wechselt vom Barbereich wieder zur Bühne.
Berta kommt an der Kirche an und geht hinein. In der Kirche trifft Berta auf einen Priester, der gerade am Klavier spielt und God is a Girl (Groove Coverage, 2002) singt. Nach der Jam-Session des Priesters kommt es zu einem Dialog zwischen den beiden. Der Priester wirkt unheimlich auf Berta, erlaubt ihr aber sich in der Kirche umzusehen. Berta öffnet die Tür zum Kirchturm und findet dahinter den erhängten Zadok Allen - sie erschrickt. War es Selbstmord? So sieht es zumindest aus, aber Zadok erzählte ihr in seinem Wahn auch, dass sie ihn holen würden, weil er zu viel verraten hätte. Während Berta geschockt vor dem erhängten Zadok steht schleicht sich der Priester an sie heran und verschleppt sie.
Ein tiefer Ort
Berta findet sich in einem Saal wieder, scheinbar ist sie immer noch in der Kirche. Aus den Tiefen des Raums erscheint eine Kreatur in Priesterrobe. Sie geht aufrecht, wie ein Mensch, aber ihr Äußeres ist nicht mehr menschlich. Es gurgelt und gluckst – dann richtet es seinen Blick zum Publikum und fängt an zu sprechen. Es stellt sich als Obed Marsh (Lars Henriks) vor und spricht zu uns – nun als Gemeinde von Innsmouth. Obed erzählt von der Entstehungsgeschichte Innsmouths, seiner Tradition, dem ewigen Leben und von Berta, die als Nachfahrin einst geflohener Bewohner nun in den Schoß der Gemeinde zurückgekehrt ist. Berta kann nicht glauben, was sie hört und sieht und versucht ihr Verstand zusammenzuhalten. Als das Fischwesen sie dann auch noch küssen will, ergreift Berta die Flucht. Sie rennt aus der Kirche in Richtung des Hafens.
Die Flucht
In Panik erreicht Berta die Fähre. Auch der Kapitän ist dort. Sie erzählt ihm was passiert ist und dass sie hier wegmüssen. Der Kapitän scheint nicht überrascht zu sein, im Gegenteil, er scheint zu wissen, was hier vor sich geht. Er gibt zu, dass es gar keine Schiffsplankenverkrösung gibt und das Schiffplankenverkrösung auch gar kein existierendes Wort ist, aber das ist egal, denn es wird ohnehin niemand aus Innsmouth entkommen. Berta zögert nicht länger, sie sticht mit der Fähre selbst in See. Bereits nach kurzer Fahrt sieht sie etwas im Wasser. Sie starrt gebannt in die Wellen und flüstert nur ein Wort ins Publikum: Dagon. Der Kapitän setzt sich ans Klavier und fängt an Where is my mind? (Pixies, 1988) zu singen.
Epilog
Berta, die die Flucht aus Innsmouth scheinbar überlebt hat, steht nun nicht mehr als Schiffsjunge, sondern fein gekleidet und mit einem Schal, der an eine Kufiya erinnert, vor uns. In ihrem folgenden Vortrag kritisiert sie das gewaltsame Vorgehen der Behörden gegen Innsmouth und eine zu einseitig negative Darstellung der Stadt in der Presse. Letztendlich sei auch Innsmouth schützenswert, auch wenn nicht alles dort immer gut läuft. Der Vortrag endet mit den Worten: „Freiheit für Innsmouth!“.
Nisan Arkin und Lars Henriks verbeugen sich, das Publikum applaudiert. Das Stück ist vorbei und wir bedanken uns für einen großartigen Abend.
Fazit
Nisan Arkin und Lars Henriks ist es gelungen, eines der bekanntesten Werke Lovecrafts einen neuen und modernen Anstrich zu geben. Für jemanden, der die Geschichte schon in etlichen Versionen, gelesen, gesehen oder gehört hat, ist diese Bühnenfassung eine erfrischende Abwechslung. Denn es handelt sich eben nicht um eine einfache Nacherzählung, die zum X-ten Mal versucht durch unheilschwangere Stimmung zu überzeugen. Stattdessen erlebt man eine kreative Neuinterpretation, die mit regionalem Hamburger Tatsch, gut dosiertem Humor, ironischer Musikauswahl und einem bekannten roten Faden aufwartet. Die Struktur des Stücks ist auch für einen Laien klar erkennbar: Monolog ans Publikum, Dialog zwischen den Charakter, Monolog ans Publikum, Szenenwechsel. Zudem wird jeder zweite Charakter mit einem Song eingeführt. Der Humor wird durch den Bruch zwischen Berta und ihrer Umwelt erzeugt. Berta ist mürrisch und ernst, die Welt um sie herum ist es nicht. Als Betrachter sind es die Innsmouth-People, die wir durch ihre kuriose und verschrobene Art witzig finden und liebgewinnen. Wenn man die Szenen genauer analysiert, sind auch die Handlungsmotive asymmetrisch. Die Innsmouth-People sind Berta gegenüber aufgeschlossen und bieten ihr stets etwas an, sie lehnt die Innsmouther und ihren Gesten aber ab und damit – wie wir als Publikum schon lange vor ihr Wissen – zugleich einen Teil ihrer eigenen Identität. Erst mit zeitlichem Abstand und unter dem Eindruck des gewaltsamen Vorgehens der Behörden gegen Innsmouth nimmt sie ihre Herkunft an und wird zur Pro-Innsmouth-Aktivistin. Diese Art der Inszenierung sorgt für einen neuen Blickwinkel auf Innsmouth, dass wir in seiner klassischen Erzählung sonst als abstoßenden und abweisenden Ort kennenlernen. Die Musik ist gut gewählt und lädt zum Mitmachen ein. Dank der Songtexte, die wir eingangs in die Hand gedrückt bekommen haben, können wir das auch textsicher tun.
Schlussendlich kann ich jedem nur einen Besuch im Miskatonic Theater nahelegen, der Lovecraft neu erleben möchte. Im Dezember ist Das Fest in einer Weihnachtsversion mit Lars Henriks und Hendrik Heiler zu sehen. Im Januar folgt Der Ruf des Cthulhu und im Februar Der Flüsterer im Dunkeln in gleicher Besetzung. Wenn ihr mehr über das Theater erfahren möchtet, dann könnt ihr das auf der Website des Miskatonic Theaters tun oder demnächst im dLG-Radio.
Wir wünschen eine cthuloide Weihnachtszeit!
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