Lovecrafter Online – Es lovecraftet sehr
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Theobaldus -
26. Februar 2024 um 12:00 -
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Meine erste Begegnung mit dem antikyno war schon ein Lovecraft-Erlebnis an sich: In einem stillen Hinterhof im Hamburger Stadtteil Harburg, typisch verregnetes Wetter, keine Menschenseele unterwegs im Dunkel der Harburger Hintergassen, ein einsames Schild auf dem mir verhießen wurde, dass ich hier richtig sei. Ich folgte dem Hinterhof in einen kleinen, schmalen Treppenaufgang in ein Haus, immer noch völlig allein. Hier hört dich niemand schreien. In einem schmalen Gang am oberen Ende angekommen saß ein… ein Seemann. Kapitänsmütze, Pfeife im Mund. Ein Seemann eben.
„Guten Abend, ich möchte zu Herrn Henriks, ich bin angemeldet“, grüßte ich.
„Henriks?“, fragte der Seemann. „Henriks? Den kenne ich nicht.“
Schlecht geschultes Kassenpersonal, dachte ich mir.
„Also, das soll hier die Leitung sein, ich hatte mit ihm geschrieben? Wegen einer Pressekarte?“
„Ist das so?“, entgegnete der Mann in höchstem Norddeutsch. „Henriks kenne ich keinen.“
„Vielleicht als Lars?“
„Nee, das auch nicht. Ab er komm erstmal rein, setz dich, das kriegen wir alles schon hin.“
Etwas verdutzt ging ich an meinen Platz - Kinosessel. Kinosessel in einem schwarzen Studio. Also „kynosessel“, um genau zu sein. Dort lag auch schon ein Gesangsblatt bereit. Alles klar, da ging der Abend also hin.
Im hinteren Teil des Theaters war eine kleine Bar, dort stand eine Frau einsam und wischte die Theke. Vielleicht könnte sie mir ja sagen, wo Lars Henriks war, immerhin wollte ich ein Interview führen. Also ging ich zur Bar und sprach sie an.
„Wo ist denn Lars Henriks? Wir sind verabredet.“
„Henriks? Wer soll das sein?“
„Na, der Leiter von der Bühne. Kennen Sie den nicht? Ihr Chef?“
„Nein. Nein, einen Henriks gibt es hier nicht.“
„Das darf doch nicht wahr sein, ich hab hier die Mail von ihm, der ist doch hier im Theater.“
„Theater?“
„Ja?“
„Aber wir sind doch in Innsmouth.“
Und da war der Groschen gefallen: Das Theater hatte schon begonnen, lange bevor ich an meinem Platz gesessen war. Der Seemann war tatsächlich Lars Henriks gewesen, die Damen an der Bar seine kreative Partnerin Nisan Arikan. Dieser immersive Start sollte mich auf einen Ritt ins vorweihnachtliche Providence mitnehmen, wie ich ihn nicht erwartet hätte.
Den Anfang der lovecraftigen Weihnachtsreihe machte ein Klassiker: Schatten über Innsmouth wurde als behutsam modernisiertes Zwei-Personen-Stück dargeboten, Nisan Arikan spielt dabei großartig die an Lovecrafts namenlosen Erzähler angelehnte Hauptrolle, während Henriks alle anderen Rollen verkörpert - ALLE anderen. Der Bezug zu „MEN“ von Alex Garland (2022) ist gewollt, wie Henriks im Nachgespräch verrät: Die Konfrontation von Arikans Figur mit den ständigen Wechseln von Henriks Charakteren, eine absurder und unheimlicher als die andere, sorgte für einen wilden Mix aus Beklemmung und Komik, die gekonnte Darstellung meisterte den Tanz auf dem Grad zwischen Komik und Klamauk perfekt - denn gerade bei Lovecraft erlebt man ja oft Trash-Inszenierungen, die sich aus Desinteresse oder Einfallslosigkeit hinter dem Schutzmantel der Ironie verstecken. Nicht so im antikyno - die Ironie ist zwar dar, aber sie dient nicht dem Schutz, sondern bestärkt ernsthafte Auseinandersetzung nur noch: Man lacht viel, man singt zusammen, aber gerade diese leisen Zwischentöne, gewitzten Aktualisierungen und bedrohlichen Situationen machen diese Fassung von Innsmouth zu einem echten Hingucker, der im übrigen ab November 2024 wiederaufgenommen wird.
Das antikyno Hamburg hat sich aus einem Team heraus gebildet, das aus den Bereichen Film, Theater und Hörspiel kommt (z.B. die Mystery-Serie Korridore in der ARD-Audiothek). Mit seinem Mix aus Kino und Theater spricht es insbesondere ein junges Publikum an, was man schon an der unglaublichen Leichtigkeit merkt, mit dem das Ensemble existenzialistische Horror-Themen angeht. Größere Bekanntheit erlangte das Team durch ein Halloween House nach amerikanischem Vorbild, das auf dem Harburger Rathausplatz aufgebaut worden war. Gerade das junge Publikum nahm das Projekt dankbar an und so wurde das antikyno fester Teil der Harburger Stadtteilkultur.
Das Grauen von Harburg
Mein nächstes Zusammentreffen mit dem Harburger Horror-Team begann am Rande des Stadtparks: Zusammen mit anderen Gästen wartete ich am Eingang des Parks darauf, dass etwas passieren würde - und aus meiner letzten Erfahrung mit Lars Henriks‘ Inszenierungen war mir klar, dass es nicht das werden würde, was ich erwartete: Erwarte das Unerwartete. Und in diesem Fall sahen wir irgendwann eine Laterne über die Hauptverkehrsstraße auf uns zuspazieren - und eine kräftige Stimme verkündete, dass alle, die den grauenvollen Spaziergang mitgehen wollen würden, sich dieser Laterne nun anschließen sollen - diesmal schlüpfte Henriks in die Rolle von Lovecraft persönlich. Und so standen wir an einem Brunnen während „Lovecraft“ sich ohne Rücksicht auf Passanten lautstark als Rassist outete und in selbstironischem Ton, den der Meister persönlich sicher zu schätzen gewusst hätte, über die Paranoia seines alter Egos sprach. Witzig, skurril und klar recherchiert. Die Tour durch den Harburger Stadtpark brachte uns an verschiedene Stationen, an denen das Ensemble des antikynos zu Monologen bearbeitete Geschichten aus dem Oeuvre Lovecrafts präsentierte: Da war der Outsider, der Besucher von Nyarlathoteps Bühnenprogramm, der Gestrandete auf der Insel Dagons, eine Besucherin aus Ulthar und viele andere. Das war mal spritzig in Hamburger Mundart, mal düster-melancholisch vorgetragen, doch das tatsächliche Grauen von Harburg war der Park selbst: Denn er wurde immer dunkler. Im letzten drittel des knapp zweistündigen Spaziergangs war ohne Taschenlampe kein Weiterkommen mehr - und natürlich war genau das der Part, der abseits der Wege begangen würde - der „ancient track“ sozusagen. Selbst hartgesottenen Lovecraft-Fans wurde es da etwas unheimlich. Nach dem letzten Monolog waren wir völlig orientierungslos und etwas irritiert-erschrocken als unser „Lovecraft“ fröhlich verkündete, dass wir einfach den gleichen Weg zurücknehmen sollten - ich habe selten so viele erleichterte Gesichter gesehen wie als „Lovecraft“ anbot, man könne auch ihm aus dem Park folgen. Das Grauen von Harburg ist ein wilder Ritt durch Lovecrafts Kosmos, eine Odyssey durch die Tiefen des nächtlichen Parks, eine großartige Ensembleleistung. In der derzeitigen Saison ist noch keine Wiederaufnahme verzeichnet, ein regelmäßiges Prüfen des Spielplans lohnt aber.
Lars Henriks erste Berührung mit dem Kosmos von Lovecraft war der ukrainische Autor Ljubko Deresch, dessen Roman Kult er mit 15 Jahren gelesen hatte, so erzählt er mir begeistert beim Gespräch im leeren antikyno, kurz nach der Vorstellung. Über das Tabletop-Rollenspiel - das ebenfalls im antikyno angeboten wurde - bemerkte er dann, dass durchaus ein interessiertes Publikum für Horror-Theater da ist, aber von der etablierten Kulturszene kaum beachtet wird. Das und das Interesse an Horror als kaum erforschter Bühnenform bekräftigten das Team, den Spielplan auf diese Form von Theater auszurichten - regelmäßig ausverkaufte Vorstellungen zeigen, dass diese Vermutung korrekt war.
Das Fest
„Stille Nacht, heilige Nacht“… In den Tagen vor Weihnachten zeigten Henriks und Ensemblemitglied Hendrik Heiler eine neue Fassung von Das Fest, die tiefer in die Beziehung der Hauptfigur und des alten Mannes mit der Maske einsteigt: Familiäre Bezüge, Landflucht und Entfremdung werden Thema, als die von Henriks (in einem großartigen Weihnachtspulli) gespielte Hauptfigur seinem von Heiler verkörperten Großvater zum ersten Mal begegnet und von dem alten Mann in ein seltsames Märchenbuch entführt wird, in dem sich alte Geschichten mit der Realität zu vermischen scheinen. Das Kammerspiel ist von unfassbarer Spannung, die sich allein aus dem Spiel der beiden Protagonisten ergibt, geprägt, die immer wieder von nervösem Humor durchbrochen wird. Einen inszenatorischen Höhepunkt bildet ein virtueller Spaziergang durch die norddeutsche Kingsport-Variante, die uns gezeigt wird, in der seltsame Puppen und ein irgendwie bekannter Weg sich direkt den Weg in die Realität des Zuschauerraums bahnen. Mit umgetexteten Weihnachtsliedern endet das Fest in einer seltsam-heimeligen Dystopie - ein anderer Schluss für diese lovecraftsche Version des Festes der Feste wäre kaum denkbar. Das Fest wird auch 2024 wieder zur Weihnachtszeit zu sehen sein.
Mit vorfreudiger Erwartung blicke ich nach dieser „ganz besonderen Adventszeit“ nun auf die Spielzeit 2024 des antikynos, in der viele neue Produktionen geplant sind und wir ein ganzes Jahr im Zeichen Lovecrafts erleben können. Dagon, die Horror-Komöde mit Schlagerelementen, bei der Lovecraft auf Lotto-King-Karl trifft, wird nach dem großen Erfolg des letzten Sommers zum zweiten Mal wiederaufgenommen, danach folgt mit Pickmanns Supermodel bereits das nächste wunderbar absurd klingende HPL-Projekt.
Selten habe ich so witzige wie liebevolle Adaptionen von Lovecrafts Werk gesehen, welche die Falle von banaler Albernheit gekonnt umgehen und mit leichtfüßiger Ironie das gruselige Werk des Meisters gezielt auf eine neue Ebene heben.
Dagon wird am 22.3., 23.3. und 4.4. im antikyno Hamburg gezeigt
VVK 20€, AK 25€
From Beyond wird am 5.4. gezeigt
7€
Pickmanns Supermodel ab 3.5., Die Musik des Erich Zann ab 23.8., Cthulhus ruf ab 6.9.
Weitere Vorstellungen im Spielplan
antikyno Hamburg, Neue Straße 35a, 21073 Hamburg
https://www.antikyno.com