Lovecrafter Online – 061 – Mit Lovecraft in der Schule


In diesem Jahr, 2024, feiert nicht nur die dLG ihr zehnjähriges Jubeljahr. Auch das neben King Kong wohl bekannteste Riesenmonster der Filmwelt, Godzilla, begeht heuer sein 70jähriges Leinwand-Jubiläum. Darüber hinaus hat das bekannteste Wesen aus der Imagination des Mythosvisionärs Howard Philipps Lovecraft, Cthulhu, mit 98 Jahren in 2024 ebenfalls Kurs in Richtung auf den 100. Geburtstag genommen. Beide Entitäten sind sich ähnlicher, als manch oberflächliche Betrachtung nahelegt. Daher lohnt es sich, eine kleine Analyse beider Kreaturen, ihren Gemeinsamkeiten sowie der steigenden Präsenz in der Film- und Popkultur, durchzuführen.
Lange Jahre war es eine schwierige Aufgabe, die Filme mit der aus dem Missbrauch der Atomtechnik entstandenen Riesenechse Godzilla ernsthaft als etwas anderes als infantiles Monstergekloppe im Kinderprogramm darzustellen, in der einfach kostümierte Schauspieler in Zeitlupe liebevoll kreierte Modellstädte zertrampelten, andere Monster bekämpften oder gar außerirdische Invasoren vertrieben. Der Großteil der Filme ähnelte - in Bezugnahme auf den Autoren aus Providence - eher einer kindlichen Version der von August Derleth kreierten Klassifizierung der Gottheiten des Lovecraft-Kanons, einmal durch den Japan-Mixer mit vorpubertären, bunten Comic-Bildchen gedreht. Und ja, diese Filme haben den zeitgenössischen Kindern (u. a. mir) viel Freude gemacht. Viele aus den Werken Lovecrafts bekannte Elemente finden sich im Laufe der - je nach Zählung ca. 37 - Filme: außerirdische Invasoren, oft in getarnter Menschengestalt, konkurrierende monströse Entitäten mit verschiedenen Invasionsplänen, untergegangene Zivilisationen, Gedankenkontrolle, apokalyptische Weltuntergangsszenarien, etc, pp..
Oft sind die Protagonisten Wissenschaftler*innen. Der Konflikt zwischen der harten, realen Welt und der Welt jenseits des für den Menschen Fassbaren wird behandelt. Viele Elemente wurden im Guten wie im Schlechten weiterentwickelt oder grob übersteigert bis hin zur Karikatur, sind im Kern aber lovecraftesk. Selbst in den schlechtesten Filmen der Reihe - und davon gibt es einige - schaffte man es, das oft plötzlich aus dem Wasser auftauchende Ungetüm majestätisch und bedrohlich in Szene zu setzen. Der gemeinsame Heimatort von Cthulhu und Godzilla ist die Tiefsee, aus der die schlafende Bedrohung auftaucht und ohne Rücksicht einen Zerstörungsfeldzug beginnt.
In Godzilla - King of the Monsters zieht sich die geschwächte Riesenechse in eine Unterwasserstadt mit riesigen Bauten und geheimnisvollen Hieroglyphen zurück, um ruhend wieder zu Kräften zu kommen. Die Parallelen zu R´lyeh sind unübersehbar, selbst auf der etwas albernen, noch nicht versunkenen Monsterinsel der früheren Werke. Wer die japanische Original-Schnittfassung des ersten Godzilla-Films sieht, ist oft erstaunt. Weit entfernt vom späteren Kinderprogramm ist der Film ein düsteres, spannendes Drama über Atomangst und die menschliche Hybris. Erst ein Menschenopfer bändigt die Gefahr. Als Forscher Serizawa seinen "Oxygenzerstörer" entwickelt, eine fürchterliche Waffe mit integrierter Missbrauchs-Einladung vergleichbar mit der Atombombe, vereitelt er deren weitere Verwendung durch seinen Freitod für die Sünden der Menschheit.
Hier wie in vielen späteren Werken wird Godzilla mit einem Gott gleichgesetzt, es heißt, er sei ein "fleischgewordener, gewaltsamer Gott" (Shin Godzilla). Lovecrafts Entitäten sind Göttern oft nicht unähnlich, scharen sie doch Kultanhänger um sich und werden angebetet. Hier wie dort droht generell der Untergang der Menschheit. Kultanhänger erhält Godzilla in der Regel nicht, nur Monster-Kollegin Mothra wird regelmäßig durch eher esoterische Religionsanhänger gerufen und steht über kleine Zwillingsschwestern in Kontakt mit den Menschen.
Im amerikanischen Monster-Verse sind im Hintergrund dunkle Mächte tätig, vor allem die zwielichtige Regierungsorganisation Monarch (Monarch - Legacy of Monsters). Diese versucht, die Wahrheit über die Kreaturen, welche die Existenz der Menschheit bedrohen könnten, mit allen Mitteln zu verheimlichen. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, das gerade die amerikanischen Autor*innen ihren Lovecraft und den Cthulhu-Kult gerne als Inspirationsquelle nutzten. Der Oberbegriff für die verschiedenen Kreaturen, Titans, als Rückgriff auf die griechische Mythologie der Götter und Titanen hätte Lovecraft sicher gefallen.
Gerade in den ernsteren Filmen der japanischen Riesenechse agiert diese durchweg, wie man es von einer Gottheit der Zerstörung erwarten würde. Enorm viele Parallelen zum Großen Alten fallen in den modernen Filmen auf, ob direkt oder aus der von ihm geprägten Popkultur sei dahingestellt. Wie in der Warnung zu Beginn von The Call of Cthulhu beschrieben, ist letztlich der menschliche Fortschritts- und Forschungsdrang Quelle des Unheils, welches die gesamte Menschheit in ihrer Existenz erschüttert. Atombombentests oder Umweltzerstörung: Der Mensch und seine Neugier sind Auslöser der Katastrophe.
Die drohende Apokalypse geht mit Zerstörungswellen größten Ausmaßes einher. In Godzilla, dem ersten Film des amerikanischen Monster-Verse, löst der Landgang des Giganten einen Tsunami aus, der unzählige Opfer kostet. Ebenso schiebt die Frühform Godzillas in Shin Godzilla eine riesige Flotte von Schiffen vor sich her einen Fluss hinauf, mit den entsprechenden Schäden. Moderne Naturkatastrophen wie der Tsunami in Japan mit der Katastrophe von Fukushima werden hier bewusst zitiert. In allen Fällen ist Godzilla ohne Rücksicht auf Kollateralschäden unterwegs. Die Kämpfe der Riesenwesen mit der Menschheit oder anderen Monstern sind Zerstörungsorgien phantastischen Ausmaßes, die Menschen sind bestenfalls Statisten, in der Regel Opfer.
In dem bereits erwähnten Shin Godzilla wird lange und detailliert gezeigt, welche Bürokratie in Bewegung gesetzt wird, um das Monster aufzuhalten, während im Gegenschnitt Menschen in Trümmern zerquetscht werden. So wie man es heute erwarten würde, streitet man um das richtige bürokratisch richtige Vorgehen… ein einziger Atomstrahl aus dem Maul der Echse pulverisiert bald darauf fast den gesamten bürokratischen Apparat in seine atomaren Bestandteile. Pläne des Menschen, seine Regeln und Routinen werden von Godzilla ebenso zerstört wie es Cthulhu bei seinem Auftauchen wohl praktizieren würde.
Der neueste Godzillafilm aus Japan, Godzilla Minus One, kann hier für einen Vergleich der Entitäten besonders gelobt und empfohlen werden. Er legt besonderen Wert auf die mitreißenden und gut eingefügten Schicksale der Menschen, nur um in einigen Szenen besonders gelungen den Faktor der Ehrfurcht und des Grauens vor dem Ausmaß der Zerstörung zu zeigen. Mit welch brachialer Gewalt Godzilla durch die Großstadt pflügt und welche katastrophalen Konsequenzen sein atomarer Todesstrahl hier zeitigt, ist imposant und effektiv aus der Sichthöhe des Menschen gefilmt. Der Mensch ist hier nicht einmal eine Randfigur, Ameisen gleich werden sie zermalmt wie die Schiffscrew aus The Call of Cthulhu. Die Darstellung aus der Perspektive der Flüchtenden zeigt die Überlegenheit noch effektiver, wie die Luftaufnahmen und Panoramen der Zerstörung, ist sie fühlbarer, näher, ergreifender - und gleicht der Beschreibung des Kapitän in der Geschichte Lovecrafts enorm. Godzilla agiert hier mindestens so übel gelaunt wie der Große Alte nach dem Aufwecken durch die Crew von Captain Johansen. Und in einer großartigen Jaws-Referenz erinnert eine Szene im Film, in der Godzilla ein Boot mit unseren Hauptpersonen verfolgt, parallel noch an die berühmte Jagd von Cthulhu auf die Alert. Die kosmische Bedeutungslosigkeit des Menschen wird hier wie dort geradezu zelebriert, sei es auf Papier oder digitalem Film.
In The Call of Cthulhu gelingt ein kurzer Erfolg über die Entität aus der Tiefe durch ein selbstmörderisches Schiffsmanöver von Captain Johanson, steuert er doch verzweifelt in die große Gallerte, um sie vorübergehend aufzuhalten. In Godzilla Minus One hat Godzilla ähnliche Selbstheilungskräfte und regeneriert seine Verletzungen schnell. Es wird ein ähnliches Manöver notwendig sein, um Godzilla zu bannen und erneut - vorläufig - im Meer zu versenken. Hier enden beide Geschichten auf einer ambivalenten Note, eine Wiederkehr eher wahrscheinlich als ausgeschlossen.
Cthulhu und Godzilla sind beide im Grunde Menetekel für die Hybris des Menschen und seinen unausrottbaren Anthropozentrismus. Letztlich gelingt der mentale Spagat in Film und Text trotzdem, daraus für den Menschen interessante Geschichten zu erstellen, und zwar in ähnlich bizarrer Inkonsequenz. Im Falle von Godzilla wird die menschliche Anmaßung der Atomnutzung kritisiert, seine Ignoranz gegen die Natur. Trotzdem gelingt der Sieg oft mit Hilfe der Wissenschaft und der Heldentat einer/eines Einzelnen und bringt eine Stärkung der Nation oder Menschheit, die doch die Ursache für das Ganze war- bis zum nächsten Film.
Lovecrafts Cthulhu wiederum erklärt den Menschen für völlig unbedeutend, machtlos und dem kosmischen Grauen ausgeliefert (man darf sich berechtigterweise fragen, wie ein Mann mit dieser Erkenntnis noch einen solch unlogischen und arroganten Rassismus pflegen konnte, aber das gehört an einem anderen Ort, von kompetenterer Quelle analysiert). Zufälle, Johansens Manöver und die Stellung der Sterne retten hier den Tag. Lovecrafts Verhältnis zur Neugier und Wissenschaft ist ebenso spannend wie die beschriebenen Widersprüche in den Godzilla-Filmen. Ein rationaler Materialist warnt vor Neugier und zu viel Wissen, da kann man sich schon wundern…
Gerade hat James Wan (Conjuring) angekündigt, The Call of Cthulhu als nächstes Projekt zu verfilmen. Weitere Godzillafilme (Godzilla vs. Kong - The new Empire) sind im Entstehen. Dass sowohl Lovecraft und sein Kanon, an dessen Spitze Cthulhu thront, als auch die japanische Riesenechse heute so populär sind, erscheint folgerichtig. Wir befinden uns in einer unsicheren Zeitperiode, die vor wenigen Jahren sicher geglaubten Rahmenbedingungen lösen sich wieder auf. Die Gesellschaft hat erneute Kriegsgefahren, politische Verwerfungen, Epidemien und Klimawandel mit Naturkatastrophen als Zukunft vor den Augen und ist zutiefst verunsichert. Der im Kern der Werke beschriebene Widerspruch zwischen Ratio und Emotio spiegelt die Ängste dieser Zeit wider, die Unsicherheit bei der Frage, wie sich die Zukunft richtig gestalten lässt, wohin sie geht und wieviel Einfluss ein Individuum und die Menschheit als Gesamtheit dabei haben. Es ist psychologisch wohl gesund, auf diese Katastrophen und viele mehr vorbereitet, für sie geradezu gerüstet zu sein. Ein Buch mit einer Geschichte über eine im Verborgenen lauernde, untergangsbringende Gottheit kann da so kathartisch und prägend sein wie ein Film über eine zerstörerische Riesenechse, der beim Überdenken der eigenen Perspektive unterstützt. Sowohl Cthulhu als auch Godzilla bringen in diesem Lichte großartige und spannende Unterhaltung mit philosophischem Mehrwert.