Lovecrafter Online – Der "Neue" stellt sich vor
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Seanchui -
18. Dezember 2023 um 12:00 -
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Um Sebastian der geneigten Leserschaft ein wenig vorzustellen, haben wir uns für ein kurzes Interview entschieden. Und auch, wenn Sebastian über sich selber sagt: "Ich bin immer irgendwie unzufrieden mit meinen Antworten (...). Mich so in den Mittelpunkt zu stellen fühlt sich immer ein bisschen schräg an.", so habe ich ihn dennoch vor das virtuelle Diktaphon gezerrt!
Lovecrafter online: Sebastian, stell Dich doch den Lesern des Lovecrafter online kurz vor. Wer bist Du, und was machst Du in Beruf und Freizeit?
Sebastian: Gern. Tatsächlich lässt sich das nie so hermetisch voneinander abgrenzen. Ich recherchiere, photographiere und schreibe als freier Journalist hauptsächlich Investigativ-Geschichten für verschiedene Medien. Und das geht dann auch über in meine Freizeit. Einerseits gehört der Beruf zu denjenigen, die einen nie ganz los lassen egal ob formal jetzt "Arbeitszeit" oder "Freizeit" im Kalender steht. Natürlich auch, weil man für diese Arbeit ja eine gewisse Leidenschaft mitbringt und nicht einfach irgendetwas tut, das einem aufgetragen wird und danach nach Hause geht und erst dann "sein Ding" macht. Andererseits bestimmt der Umgang mit Wort und Bild ja auch meine persönlichen Interessen, zu denen Photographie und Literatur gehören.
LCo: Wie bist Du auf Lovecraft aufmerksam geworden?
S: Ich glaube - ohne zu wissen, wann das war - ist mir irgendwann mal Dagon untergekommen. Und es hat mich sofort gepackt. Ich nehme an, es war die für Lovecraft typische morbide Atmosphäre, die elementare Verzweiflung und intensiv verstörende Perspektive aus der er subtil dieses lauernde Unbehagen zu erzeugen vermag, das man aber doch nie richtig zu fassen kriegt. Bis heute hat mich die Faszination für diese spezielle Art von Literatur nicht losgelassen.
LCo: Warum?
S: Oh, das hat sicher eine Menge Gründe. Einer könnte mit der ganzen Schlechtigkeit zusammenhängen, die mir auch in meinem Beruf täglich begegnet. Vielleicht brauche ich da einfach "zum Ausgleich" eine Art Referenzpunkt. Nach dem Motto: Hey, es könnte alles noch viel elender sein.
LCo: Und welche ist Deine Lieblingsgeschichte von Lovecraft?
S: Puh, das ist schwierig. Je nach dem, welcher Aspekt mir gerade wichtig ist. Müsste ich davon unabhängig eine definitive Wahl treffen, würde ich wohl nochmal einige Geschichten nachlesen und vergleichen. Aus dem Stegreif würde ich sagen, dass Berge des Wahnsinns, Der Fall des Charles Dexter Ward, Der Schatten aus der Zeit und Die Ratten im Gemäuer auf jeden Fall im engsten Kreis sind.
Als große Meisterwerke empfinde ich aber auch Der Gott des Asteroiden, Die Grabgewölbe von Yoh-Vombis und Der Dämon der Blume. Aber du hast ja nach Lovecraft gefragt…
LCo: Literatur, Hörspiele, Brettspiele, Rollenspiele, Film und Bildband: es gibt heute zahlreiche Möglichkeiten, Lovecrafts Werk zu begegnen. Was ist Deine Lieblingsbeschäftigung mit dem kosmischen Horror?
S: Unbedingt Literatur. Schließlich ist das, was den kosmischen Horror wirklich ausmacht, nicht Tentakelgefuchtel und Gallertgespritze. Das hat natürlich seine Berechtigung, aber außerhalb unserer nerdigen Lovecraft- und Weird-Fiction-Bubbles und insbesondere in der Popkultur sehe ich kosmischen Horror sehr stark darauf reduziert. Die Kunst liegt für mich eher da, wo mich eine gewisse Stimmung einsaugt. Das ist sehr viel subtiler und unkonkreter als Cthulhu und eher eine behutsam aufgebaute Resonanz aus einzelnen Elementen.
Bildlastige Medien kommen prinzipiell schwer ohne mehr oder weniger konkrete Darstellungen aus. Ich denke darum fallen mir nur wenige Beispiele ein, die diese Sogwirkung für mich richtig gut erzeugen. Wenn doch, ist es für mich wieder die Komposition, die den kosmischen Horror ausmacht. Der kommt dann eher aus einer Metaebene jenseits der Bilder, die ihn stützen aber nicht (allein) erzeugen. So sehe ich kosmischen Horror dann gerne auch in Filmen und Games.
Cthulhoide Brettspiele schaffen das für mich nicht, aber ich spiele sie gern. Was die Rollenspielwelt angeht: Da muss ich erst noch eintauchen, habe das aber vor. Und Hörbücher! Das Warten auf die nächste Produktion der GM Factory ist immer nur schwer für mich zu ertragen.
LCo: Warum hast Du Dich entschieden, den Lovecrafter online zu betreuen? Und was sind Deine Pläne für die Zukunft des Online-Magazins?
S: Ich lese ihn sehr gerne und hätte es sehr schade gefunden, wenn es künftig weniger von diesem Content gibt. Also habe ich mich gemeldet, als es hieß, dass das Magazin einen Redakteur sucht, um Thorsten zu ersetzen. Das Aufgabenprofil liegt mir ja ganz gut und ich empfand es als eine gute Gelegenheit, meine Begeisterung für die Weird Fiction auch mal produktiv auszuleben. Zudem ist es ein Anlass, nochmal anders auf das Genre zu blicken. Und der direkte Kontakt zu den Verlagen, die einen relevanten Teil meiner Bücherregale bestücken, ist ja auch was Nettes.
Mich stört die oben skizzierte populäre Reduktion von kosmischem Horror auf die Sache mit den Tentakeln und dessen Identifikation mit Lovecraft. Das sähe ich den Lovecrafter Online gerne noch mehr aufbrechen. Denn das Genre hat doch so viel mehr Potential und einiges mehr zu bieten als das Pandämonium des Mythos mit seiner jede Vernunft erschütternden Bevölkerung. Seiner antisemitischen, rassistischen, misogynen und homofeindlichen Galionsfigur HPL ist es längst entwachsen. Nach 100 Jahren hat sich nicht nur die Weird Fiction weiterentwickelt. Auch die Welt ist eine andere geworden und mir stellt sich die Frage, ob es noch zeitgemäß sein kann, den kosmischen Horror wie bei Lovecraft in der Fremde, in und hinter den Sternen zu suchen. Was, wenn er uns viel näher ist als wir wahrhaben wollen und längst unser aller Alltag durchdringt? Auch darin liegt eine erschütternde Erkenntnis und sie neigt dazu, sich dem unmittelbaren Begreifen zu entziehen. Vielleicht ist ja der Schleier den wir uns selbst über den global zunehmend dystopischen Verhältnissen ausbreiten unsere moderne "Insel der Ahnungslosigkeit".
LCo: Sebastian, meinen herzlichsten Dank für Deine Zeilen!