Lovecrafter Online – 069 – dLG-Lesezirkel: Schloss Otranto
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Chris Raven -
24. Mai 2021 um 12:00 -
1.548 Mal gelesen -
3 Antworten
Anwesend waren Rahel Schmitz, Niels-Gerrit Horz, Nils Gampert, Jamel Amdouni Melki, Stefan Zimmermann und meine Wenigkeit. Etwa eineinhalb Stunden wurde dabei eifrig diskutiert. Im Vorfeld war festgelegt worden, dass wir uns mit Horace Walpoles Das Schloss von Otranto (im Original: The Castle of Otranto) befassen würden.
Zu Autor und Werk
Horace Walpole (1717-1797) war ein britischer Aristokrat und Politiker, der sich sozusagen nebenbei auch als Schriftsteller betätigte. Als Sohn des britischen Premierministers Sir Robert Walpole wuchs er in einem sehr konservativen Umfeld auf und erhielt eine für die Oberschicht „klassische“ elitäre Schulbildung am Eton College.
The Castle of Otranto wurde 1764 erstmals veröffentlicht. Nicht nur benutzte Walpole dabei ein Pseudonym, um seine Autorenschaft zu verschleiern; er gab auch vor, dass es sich beim dem Text nicht um Fiktion handele, sondern um die Übersetzung einer italienischen Geschichte, die sich zur Zeit der Kreuzzüge tatsächlich so zugetragen haben soll. Das Buch war insgesamt sehr erfolgreich und gilt bis heute als Prototyp des Schauerromans bzw. „Gothic Novel“ (die dritte Auflage trug den Untertitel A Gothic Story). Ab der zweiten Auflage stand Walpole offen zu seiner Autorenschaft des Textes.
Der Plot in Kürze
Manfred, der tyrannische Herrscher von Otranto, ist die zentrale Figur des Romans. Um ihn und seine Familie dreht sich alles. Aufgrund einer alten Prophezeiung hat er Angst davor, dass sein Geschlecht ausgelöscht werden wird. Daher tut er alles in seiner Macht Stehende, um dieses düstere Schicksal zu verhindern, und hat keinerlei Skrupel oder moralische Bedenken. Nachdem gleich zu Beginn sein Sohn stirbt ‒ er wird mitten im Burghof von einem gewaltigen Helm erschlagen! ‒, steht er ohne männlichen Erben da. Der Tyrann will daher seine Frau, die ihm keine Kinder mehr schenken kann, verstoßen. Stattdessen möchte er Isabella, die als Braut für seinen Sohn vorgesehen war, zwingen, ihn zu heiraten. Er versucht sie gar zu vergewaltigen, doch der jungen Frau gelingt die Flucht innerhalb der Burg. In der Folge entwickelt sich ein komplexes Intrigenspiel, an dessen Ende Geheimnisse aus den Familiengeschichten sowohl von Manfred als auch von Isabella offenbart werden. Der Tyrann tötet im Wahnsinn gar seine Tochter, sein einzig verbleibendes Kind, und sorgt somit selbst für die Erfüllung der Prophezeiung vom Ende seines Hauses.
Die Punkte unserer Diskussion
- Herausgeberfiktion: Im 18. Jahrhundert war das eine gängige Praxis (z. B. auch in Goethes Werther von 1774). Über die Gründe für Walpoles Entscheidung, zunächst unter einem Pseudonym zu veröffentlich, kann man spekulieren; möglicherweise hatte das mit seinem sozialen Umfeld zu tun. Literarisch gesehen, ist die Herausgeberfiktion Teil einer Legitimierungsstrategie. Historische Stoffe galten früher schlichtweg als „authentischer“, während reine Fiktion oftmals belächelt und als „trivial“ abgewertet wurde.
- Rezeption: Wenngleich Walpoles Roman heute als Erfolgsgeschichte angesehen wird, wurde der Text anfangs gemischt vom Lesepublikum aufgenommen. Interessant ist dabei vor allem ein Aspekt, der bereits bei der Herausgeberfiktion angeschnitten wurde. Teilweise haben dieselben Personen die erste und zweite Ausgabe anders aufgenommen: zunächst positiv (als gute Übersetzung eines vermeintlichen italienischen „Originals“) und dann negativ, als Walpole seine Autorenschaft eingestand und damit zugab, alles frei erfunden zu haben. Darin spiegelt sich natürlich die Hybris einer Bildungselite wider, die vermeint darüber entscheiden zu dürfen, welche Themen und Textformen „gute“ und „hohe“ Literatur ausmachen. Die Elemente des Schauerromans wurden in diesen Kreisen jedenfalls abgelehnt, galten sie doch als Effekthascherei und billige Unterhaltung für eine wenig anspruchsvolle Leserschaft. Auch heutzutage hat Schauer- oder Horrorliteratur noch mit diesem (vermeintlichen) Stigma zu kämpfen. H. P. Lovecraft, der seine Texte zu Lebzeiten nur in „billigen“ Pulpmagazinen publizieren musste, war ebenfalls ein Leidtragender dieses Wertedenkens.
- Prototyp des Schauerromans: Wie schon angedeutet, kann Otranto als erster Schauerroman ‒ oder zumindest dessen Vorstufe ‒ angesehen werden. Inzwischen als „klassisch“ für dieses Genre geltende Elemente (belebte Bilder oder Statuen, Spukgeräusche, dunkles „gotisches“ Ambiente etc.) wurden hier systematisch eingeführt. Sie kommen immer wieder zum Einsatz, um ein bestimmtes Setting zu vermitteln. Von den Romantikern wurde der Stoff später aufgegriffen und weiterentwickelt, auch in Deutschland (z. B. in E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels von 1815/16). Neben den genannten schauerlichen Elementen ist für den Aufbau des Schauerromans zudem typisch, dass im Laufe der Erzählung ein Geheimnis (oftmals eine Familiengeschichte wie in Otranto oder bei Hoffmann) nach und nach ergründet wird. Die Auflösung erfolgt aus Spannungsgründen natürlich erst ganz am Ende.
- Das Schloss: Die Topographie des namensgebenden Schlosses wurde kontrovers diskutiert. Einerseits werden Räume und Verbindungen – untypisch für das Romangenre, das oftmals detaillierte Schilderungen kennt ‒ wenig anschaulich beschrieben. Andererseits hat Rahel zurecht darauf hingewiesen, dass die Forschung recht eindeutig gezeigt hat, wie die Beschaffenheit des fiktiven Schlosses Otranto nahezu direkt von Walpoles Landhaus Strawberry Hill kopiert ist.
- Das Übernatürliche: In Schloss Otranto gibt es zwei unterschiedliche Diskurse, in denen das Übernatürliche literarisch verhandelt wird: (1) Der Fluch, der scheinbar auf Manfreds Familie liegt, und (2) Der riesige Helm, Ritter etc. Interessant ist, dass sämtliche familiären Geheimnisse und Verstrickungen bis zum Ende des Romans dann sukzessive aufgedeckt werden. Andererseits bleiben aber die „klassisch“ übernatürlichen Elemente (wie der Riese) auch über das Ende hinaus bestehen und können mit rationalen Zusammenhängen nicht erklärt werden.
- Anlehnung an mittelalterliche höfische Romane: Der Text spielt zur Zeit der Kreuzzüge (also im Hoch- bzw. Spätmittelalter) und damit nur unwesentlich später als die höfischen Romane des europäischen Mittelalters entstanden sind (z. B. die Artusromane wie Parzival um ca. 1200). In Otranto werden soziale Diskurse ‒ auch aus Walpoles Gegenwart ‒ verhandelt (Kirche vs. Staat, Sexualmoral, Geschlechterrollen, Patriarchat, Emanzipation). Die Intrigen und Kämpfe, der Riese als übernatürliches Wesen, eine Prophezeiung und göttliches Wirken, das Schloss als Handlungsmittelpunkt; all das sind Elemente die schon in den höfischen Romanen von u. a. Chrétien de Troyes, Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach vorkommen.
- Komik und dramatische Aspekte: Manche Szenen sind sehr langatmig (und somit nicht jedermanns Sache), aber es wird deutlich, dass sie bewusst auf Komik ausgelegt sind. Wenn sich beispielsweise die beiden Prinzessinnen seitenlang darum streiten, welche von ihnen nun zugunsten der anderen auf den Mann, den sie beide interessant finden, verzichten möchte; oder wenn die beiden Wachen dem König von dem – fast schon an Lovecraft erinnernden – unaussprechlichen Grauen der übernatürlichen Vorgänge im Schloss berichten wollen, sie aber einfach nicht mit der Sprache rausrücken und so den Herrscher ‒ und den Leser gleich mit! ‒ schier zur Weißglut bringen, dann ist das in gewisser Weise einfach nur urkomisch. Diverse Szenen des Buches könnten zudem eins zu eins auf der Bühne so gespielt werden. Da im Text keine Anführungs- und Schlusszeichen abgedruckt sind, haben die Gespräche zwischen den Figuren auch durch den Satz etwas, was ans Drama erinnert. Zudem kommt die typische Botenschau zum Einsatz, die in Theaterstücken oft verwendet wird, um von entfernten Ereignissen zu berichten.
- Erzählung: Kurz wurde auch über die (Un)Zuverlässigkeit der Erzählung diskutiert. Gerade die Vermittlung von Informationen „aus zweiter Hand“ (durch die eben genannten Boten) oder einfältige Personen (religiöse „Angsthasen“, abergläubische Figuren mit einfachem Bewusstseinshorizont etc.) kann den Leser am Wahrheitsgehalt des Erzählten zweifeln lassen. Dies gilt insbesondere natürlich für die schauerlichen Elemente wie belebte Bilder oder den riesigen Helm.
- Stoffliche Kontinuität: Auf einer höheren Abstraktionsebene kann man eine gewisse literarische Tradition nachzeichnen, die aufzeigt, wie der übernatürliche Stoff von den höfischen Romanen des Mittelalters über Otranto, die Schauerliteratur in der Romantik, Poe und Lovecraft hin zu den Horrorgeschichten der Moderne/Gegenwart weiterentwickelt wurde.
- Walpoles Biografie und Zeitgeist: Ebenfalls kontrovers wurde diskutiert, wie sehr das Werk im Zeichen der Aufklärung gelesen werden kann. Es stellte sich zudem die Frage, wie „revolutionär“ ein konservativer Adeliger wie Walpole schreiben konnte und durfte? Sicherlich werden aufklärerische Themen im Text behandelt (z. B. die Macht der Kirche, Emanzipation und Geschlechterrollen), doch Otranto ist gewiss kein Text, der revolutionäre Ideen fördert oder aufkommen lässt. Selbst der vermeintliche Bauernjunge, der am Ende mit Prinzessin Isabella verheiratet wird, stellt sich als Adeliger heraus, wodurch die Hochzeit „standesgemäß“ ist und die soziale Ordnung nicht gefährdet wird.
Fazit
Von der Bewertung her schienen wir alle recht ähnlicher Meinung zu sein. Stefan fasste das im Forum auch nochmal gut zusammen: „Ein Werk, das dramaturgisch lange langweilt, letztlich dennoch liefert und im Nachhinein eigentlich durchweg in Details sehr gut unterhält, wenn man sich auf die bewusst altmodische Sprache, fast übertriebene Dialoglastigkeit und die Naivität vieler Charaktere als amüsante Stilmittel einlässt.“
Nils hielt es wie HPL und begnügte sich – aus Gründen der Langeweile – mit Zusammenfassungen aus der Sekundärliteratur, da „die literarische Qualität aus heutiger Sicht lässlich [sei], wenngleich sie ja auf der geschmacklichen Ebene dann durchaus den einen oder die andere unterhalten konnte.“ Er wandte zudem ein, dass das Aufwachsen mit den späteren Schauerromanen von Poe und Hoffmann – die zugegebenermaßen literarisch „besser“ ausgearbeitet sind – ihm ggf. die Lust am „klassischen“ Prototypen von Walpole genommen hätten.
Das Schlusswort sei Rahels treffenden Bemerkungen überlassen: „Sicher, mit Otranto kann man heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Die Charaktere sind eindimensional, die Vorgänge sind eher komisch als unheimlich und ein Großteil der Handlung ist vorhersehbar. Für mich wird diese Erzählung jedoch immer wichtig bleiben, denn der Schriftsteller Horace Walpole begründete hier nicht nur eigenständig das Gothic Genre, sondern verbaute auch die meisten der Motive, die wir bis heute in einer guten Gruselgeschichte genießen: alte, heruntergekommene Schlösser; labyrinthartige Katakomben; Geistergestalten und wandelnde Gemälde; finstere Bösewichte; eine Vergangenheit, die nicht ruhen möchte und immer wieder die Gegenwart heimsucht; letztlich ein Text, der seinen eigenen Ursprung zu verheimlichen versucht, indem er der eigentlichen Erzählung ein frei erfundenes Titelblatt voranstellt und somit die damaligen Lesenden aufs Glatteis führte. Ob Mary Shelley, Edgar Allan Poe, H. P. Lovecraft, Stephen King oder auch der moderne Horrorfilm: Es ist das Schloss von Otranto, wo alles seinen Anfang nahm.“
Vor dem Lesezirkel ist nach dem Lesezirkel!
Wir hatten alle sehr viel Spaß und planen daher bereits den nächsten Lesezirkel. Dazu werden wir uns wieder im Discord treffen. Als Termin haben wir den 24. Juni angesetzt. Beschäftigen werden wir uns mit Leslie Klingers Weird Women. Wir alle freuen uns über weitere Teilnehmer*innen, die mit uns diskutieren möchten.
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