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Lovecrafter Online – 070 – Die áld Bejje

  • Leuchtendes Trapezoeder
  • 31. Mai 2021 um 12:00
  • 2.375 Mal gelesen
  • 1 Antwort

Als besonderes Schmankerl dürfen wir vom Lovecrafter online einmal mehr eine Kurzgeschichte präsentieren. Die áld Bejje belegte bei unserem Kurzgeschichtenwettbewerb einen respektablen dritten Platz! Wir wünschen viel Lesevergnügen!

Der zweite Berg, „die alte Burg“, dagegen erhebt sich unmittelbar hinter der Kirche als ein isolierter Kegel, dessen gegen den Ilbisberg sich hinziehender Rücken sich in einer zweiten Kuppe, der kleine Berg genannt, endigt. Dieser Berg ist aber nicht nur wegen seiner eigenthümlichen Benennung, sondern auch wegen mancherlei Sagen, welche im vorigen Jahrhundert zu allerlei Schatzgräbereien und Bergbauversuchen Veranlassung gaben, höchst beachtungswerth.

Aus Geschichte der ehemaligen Burg und Herrschaft Frankenstein und ihrer Herrn von Heinrich Eduard Scriba, 1853

Was habe ich gesehen? Um es zu beschreiben, reichen die 500.000 Begriffe im deutschen Wortschatz nicht aus. Also habe ich versucht, es zu malen, habe mit verschiedenen Farben experimentiert und sie in mannigfaltiger Weise gemischt. Schwefelgelb, blutrot, kobaltviolett, giftgrün, aquamarin, indigoblau … Ohne Erfolg. Die Computergrafik kennt 281 Billionen Farben und keine von ihnen ist auch nur annähernd jene Farbe, die ich gesehen habe. Aber selbst wenn ich die richtige Farbe hätte, wie sollte ich dann die Form dessen, was ich gesehen habe, auf das Papier bringen? Zwei Dimensionen sind viel zu wenig und auch Euklids dreidimensionaler Raum würde nicht ausreichen, wenn es denn überhaupt möglich gewesen wäre, einen Pinselstrich darin zu setzen. Aber vielleicht … vielleicht hat die Mathematik einen Weg gefunden, den die Kunst noch nicht kennt. Ja, die Mathematik ist meine letzte Hoffnung! Ich muss der Universitätsbibliothek einen Besuch abstatten. Womöglich werde ich dann besser beschreiben können, was ich gesehen habe.

Wenn ich an jenen Tag zurückdenke, entflieht mir ein bitteres Lachen. Wie gewöhnlich und banal doch alles begann! Ich erinnere mich noch ganz genau daran. Es war ein Sonntagmorgen im Mai und über dem Hügel, der sich an die Kirche in Nieder-Beerbach schmiegte, schien eine Sonne so freundlich und warm, ja, so unschuldig. Ha! Von wegen unschuldig. Wenn die Sonne ein Gesicht gehabt hätte, so wäre ihr Lächeln spöttisch gewesen, und vielleicht hätte ich in ihren Augen die höhnische Vorfreude über das Übel bemerkt, das unter uns gärte und dessen Ausbruch unvermeidlich war.

Doch die Sonne hatte kein Gesicht und ich blieb ahnungslos und unbekümmert. Heiter empfing ich die Gläubigen aus Nieder-Beerbach an den Türen meiner Kirche, während die Kirchenglocken feierlich den Gottesdienst ankündigten. „Guten Morgen, Frau Pfarrerin!“, grüßten mich die Nieder-Beerbacher herzlich. Ich kannte sie alle in diesem kleinen, behaglichen Dorf – auch diejenigen, die meine Kirche selten oder nie besuchten, kannte ich mindestens vom Sehen. Daher war mir sofort klar, dass die vier fremden Jugendlichen, die mit dem Auto auf den Vorplatz der Kirche anrollten, nicht aus der Gegend stammten. Sie waren voller Elan, scherzten und lachten und blickten nicht einmal zur Kirche hin, so als ob sie unsichtbar wäre. Ich hatte ohnehin nicht die Hoffnung gehabt, dass sie für die Predigt gekommen waren. Ihr festes Schuhwerk deutete eher daraufhin, dass sie wandern gehen wollten. Insbesondere zur Halloween-Zeit war dies nicht unüblich, wenn über uns auf der Burg Frankenstein verkleidete Gestalten lungerten, um die Besucher und Touristen zu erschrecken und zu amüsieren. Aber mitten im Mai? Lange konnte ich die Jugendlichen nicht beobachten, denn das Glockengeläut war am Verklingen und die Gläubigen erwarteten mich vorne am Altar. So drehte ich mich um und schloss die Kirchentüren hinter mir.

Ich erinnere mich noch gut an die merkwürdigen Szenen, deren Zeugin ich nach der Predigt wurde. Draußen hatten sich noch zwei weitere Wagen und ein Fahrrad dazugesellt. Am Hang des Hügels stand Herr Werner, ein Urgestein von Nieder-Beerbach. Sein erhobener Blick fixierte mehrere Gestalten auf dem Hügelkamm, die mit Spitzhacken und Schaufeln Erde durch die Luft fliegen ließen.

„Des hab isch mir schun gedenkt, dass jemand schun werre die áld Bejje umgrabe deet“, waren Herr Werners Worte, als ich zu ihm herantrat. Das war das erste Mal, als ich von der „áld Bejje“ hörte. Hätte ich doch bloß nie von diesem verfluchten Ort gehört! Doch damals verstand ich noch nicht, was sich hinter diesem Begriff verbarg, der im Laufe der Jahrhunderte nur noch im Dialekt der alteingesessenen Nieder-Beerbacher überlebt hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Werner meine Frage danach, worum es sich dabei handelte, verstand. Jedenfalls erklärte er mir: „Mansche Leit saache, dass do obbe e áld Bejje war. Sie saache, dass de Herr vun de Bejje reisch gewese iss, en Haufe Gold, Silwer und Woi gehabbt hot. Awwer des gude Zeisch soll‘s noch gewwe unner de Erd. Es gab Leit, die habbe denach gesucht, worn im Rausch. Awwer des is nie gut ausgange … Naa.“

In dem Augenblick schrie einer auf dem Hügel: „Achtung!“ Kurz darauf schoss Erde wie ein braunes Feuerwerk in die Luft und der Knall einer Explosion schallte über das Tal. Ich war fassungslos, doch Herrn Werner hingegen schien die Torheit der Jugendlichen überhaupt nicht zu bewegen. Der alte Mann schaute nur bekümmert drein, als ob es sich um eine unglückliche, und doch unvermeidliche Sache handelte, die sich dort abspielte.

Heute kann ich ihn verstehen. Damals aber ließ ich ihn stehen und entschuldigte mich – ich müsse mit den Wahnsinnigen da oben ein Wörtchen reden, sagte ich ihm – und er nickte mir knapp zu, anscheinend zu sehr in Gedanken vertieft, um mich wirklich wahrzunehmen. Eilends stapfte ich den grasigen Hügel hoch. Gerade rechtzeitig kam ich auf dem Hügelkamm an, denn eine weitere Sprengung wurde bereits vorbereitet. Sechs Personen standen rings um eine Grube, während eine siebte Person einen Satz neuer Sprengkörper mit sicheren und erfahrenen Handgriffen positionierte. Die vier Jugendlichen, die ich zuvor beobachtet hatte, waren jetzt mit Schaufeln und Spitzhacken ausgerüstet. Zwei ältere Frauen, die das Graben lieber den Jüngeren überließen, standen neben ihnen. Die eine krallte sich an ein pompöses Kruzifix, das sie um den Hals trug, die andere schwenkte einen ausgehöhlten, blau angemalten Buddha-Kopf aus Blech, in dem ein Räucherstäbchen brannte. Der Pyromane in der Grube war ein Student, der ein T-Shirt mit dem Logo der Technischen Universität Darmstadt trug.

Die Versammlung hielt inne, sobald sie mich bemerkte, und starrte mich an, aber nicht so, als sei sie gerade auf frischer Tat bei einem Irrsinn ertappt worden, sondern so, als sei ich ein interessanter Neuzugang. So verwirrt war ich von dieser Situation, dass ich kurzzeitig meine Sprache verloren hatte, und dies nutzte die Frau mit dem Kreuz aus, um mich zu fragen: „Hat der Herr Sie auch geschickt?“

„Ist doch egal, wer sie geschickt hat“, erwiderte einer der Jugendlichen. Ein anderer forderte den Studenten in der Grube auf, mit der Sprengung fortzufahren.

Dies ließ mich meine Sprache wiedergewinnen und ich rief: „Stopp! Was soll das?“

Sie redeten auf mich ein, als ob ich wissen müsste, was vor sich ging: „Keine Sorge, er weiß, was er tut.“ – „So ist es am effizientesten.“ – „Seien Sie nicht so gierig, es ist genug für alle da.“ – „Haben Sie denn nicht die Bilder gesehen?“ Ich war am Zweifeln und fragte mich, ob es sich um ein Event der Burg Frankenstein handeln mochte, doch ich hatte nichts dergleichen gelesen oder gehört. Erneut mahnte ich sie zum Aufhören, erneut forderte ich Erklärungen von ihnen, bis sie schließlich realisierten, dass ich nicht in ihren Plan eingeweiht war.

Was sie mir daraufhin erzählten, war so unwahrscheinlich und abstrus – wie hätte ich ihnen glauben sollen? Ich hielt sie für verrückt, weil sie nach einer unterirdischen Kammer unter dem Hügel suchten, in der sie sich Schätze erhofften. Ich schüttelte den Kopf darüber, als sie mir erzählten, sie hätten diese Schätze klar und deutlich in ihren Träumen und Visionen gesehen. Ich glaubte ihnen nicht, dass sie sich zuvor noch nicht gekannt hatten und nur die Suche nach dem Schatz ihre einzige Gemeinsamkeit darstellte. Und so erlaubte ich ihnen auch nicht, ihr Tun auf dem Hügel fortzusetzen. Nach einem erhitzten Hin und Her und der Androhung von Polizei verließen die Schatzsucher widerwillig mit ihren Werkzeugen und Sprengkörpern den Ort. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah, aber nicht das letzte Mal, dass sie den Hügel schändeten.

Die Sache ließ mich nicht los und nach dem Mittagessen recherchierte ich im Internet. Dort erfuhr ich, dass „die áld Bejje“, wie der gebürtige Nieder-Beerbacher sie nannte, im Hochdeutschen „die alte Burg“ hieß. Es war der Name für den Hügel, oder besser gesagt für die Burg, die einst auf diesem gestanden und sich bis zur Kirche hingezogen haben soll. Beweise für die Existenz dieser Burg waren allerdings niemals gefunden worden, und schon gar nicht für einen unterirdischen Raum mit Reichtümern. Tatsächlich hatte es aber bereits im 18. Jahrhundert hier mehrmals Ausgrabungen gegeben, in denen man nach Schätzen gesucht hatte.

Am Nachmittag kehrte ich zurück zur Kirche und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand auf dem Hügel sein Unwesen trieb, stattete ich dem Kirchenarchiv einen Besuch ab. In einem über zweihundert Jahre alten Kirchenbuch fand ich, wonach ich suchte: die Berichte über die Schatzgräbereien, die einer meiner Vorgänger, der damalige Pfarrer Moritz Scriba, verfasst hatte. Demnach fand zu Pfingsten 1763 die erste Schatzsuche auf der alten Burg statt, die durch den Tod des Schatzsuchers Johann Heinrich Drott im Sommer beendet wurde. Ein weiterer Anlauf im Jahr 1770 endete ebenfalls tödlich. Bei einer dritten Schatzsuche im Jahr 1787 fiel einem Schatzsucher namens Nicolaus Werner – vielleicht ein Ahne von Herrn Werner? – während des Grabens ein Felsbrocken auf den Kopf. Er verfiel in ein Delirium, in dem er Visionen von Gold, Silber und Wein hatte. Fünf Tage später verstarb er. Daraufhin wurde ein Verbot verhängt und niemand durfte mehr Grabungsarbeiten auf der alten Burg durchführen. Ob es nun daran lag oder daran, dass man fortan in Nieder-Beerbach von einem Fluch sprach und den Hügel jedes Mal misstrauisch beäugte, wenn man sich ihm beim Gang in die Kirche notgedrungen nähern musste – weitere Schatzsuchen fanden anscheinend nicht mehr statt … bis heute.

Als ich von meiner Lektüre aufsah, ging draußen gerade die Sonne unter. Am Hügel schien es immer noch friedlich geblieben zu sein. Wie konnte es sein, dass so viele Menschen derart überzeugt von der Existenz eines Schatzes unter der alten Burg waren? Die sieben Menschen, die ich heute am Hügel angetroffen hatte, hätten unterschiedlicher nicht sein können, und doch teilten sie miteinander und mit den Schatzsuchern aus Scribas Erzählung den selben Wahn nach einem unterirdischen Schatz. Wie der sterbende Nicolaus Werner hatten sie die Reichtümer vor ihren geistigen Augen gesehen.

Nach weiteren Nachforschungen im Kirchenarchiv und nach einer längeren Zeit des behutsamen Blätterns in alten, vergilbten Dokumenten fand ich schließlich sowohl Nicolaus Werners Sterbeprotokoll als auch ein weiteres Papier, das mit „Zum Fall des Nicolaus Werner“ betitelt war. Das Sterbeprotokoll war von Pfarrer Moritz Scriba verfasst worden und lautete: „Am 15. November 1788 kam schändlicher Weise ums Leben Nicolaus Werner, da er nebst anderen auf dem über der Kirche liegenden Alten Burghügel unter Anführung allerlei bösen und gottlosen Leuten nach Silber, Gold und Wein, welches in dem Berg liegen sollte, gegraben hat. Alle Warnungen von mir, dem zeitigen Geistlichen, wurden nicht geachtet, sondern mit den ärgsten Lästerreden vergolten. Den 15. November nachmittags um 2 Uhr ginge das Komplott wieder an ihre böse Arbeit, bis dieser Werner, durch das Losgehen eines Steines getroffen, sein Hirnschädel so zerschmettert wurde, dass er in Folge hiervon am 20. darauf im Delirio zu Niederbeerbach starb. Der Kadaver wurde auf höhere Verordnung den 8. ej. Abends, da es Nacht wurde, ohne Sang und Klang an der Kirchhofsmauer begraben, war alt 52 Jahr.“

Der Handschrift des zweiten Dokuments nach zu urteilen, war der Verfasser ebenfalls Pfarrer Scriba, doch die Schrift war unordentlicher, so als habe er sich beeilt. Der Grund wurde mir rasch klar: Es schien sich um eine wortgetreue Mitschrift der letzten Worte des sterbenden Nicolaus Werner zu handeln. Sein Kopf musste wahrlich ungünstig angeschlagen worden sein. Er schwärmte zunächst – wie im Kirchenbuch beschrieben – von Silber, Gold und Wein, doch dann schwappte sein Reden ins Manische über und er beschrieb Schätze, die in allen erdenklichen und unerdenklichen Farben erstrahlen und in einer göttlichen Geometrie angeordnet sein würden. Immer mehr nahm der Wahnsinn überhand, die Reichtümer in seinen Visionen wichen Schimmel und Staub, Tod und Verfall. Seine letzten Worte waren: „Der Pilz! Der Pilz! Diese Farben! Alles tot! Alles vom Pilz zerfressen!“

In dem Moment riss mich ein gewaltiger Knall wie eine Ohrfeige aus meiner Lektüre. Vor der Kirche entdeckte ich dieselben Fahrzeuge von heute Mittag und im Licht der Dämmerung sah ich eine Staubwolke vom Hügel aufsteigen. Oben angekommen traf ich niemanden an. Stattdessen fand ich an der Grabungsstelle mehrere Schaufeln und Spitzhacken sowie ein düsteres Erdloch vor, welches diagonal in den Hügel hinabzuführen schien. „Hallo?“, rief ich hinein. Keine Antwort. „Hallo!“, versuchte ich es erneut. Stille. Mit der Taschenlampe meines Smartphones leuchtete ich hinein und tastete mich einige Schritte in das Loch. Mit der Hand fuhr ich an der erdigen Wand entlang und spürte plötzlich kalten Stein, behauen und geformt. Ein menschengemachter Tunnel.

Ich hätte umkehren und die Polizei rufen sollen. In jenem Moment verspürte ich aber den tiefen Drang, in den Hügel hinabzusteigen, denn eine Stimme hatte sich in meinen Kopf geschlichen, die betörend von den möglichen Schätzen flüsterte, die mich unten erwarten könnten. Ich setzte mich in Bewegung und je tiefer ich in den Hügel gelangte, desto verdorbener und dicker wurde die Luft. Anfangs erinnerte mich ihr Geruch noch an einen feuchten und morschen Keller, der ewig nicht mehr gelüftet worden war. Mit jedem Meter, den ich hinabstieg, schwoll der Gestank von Fäulnis an und es gesellte sich ein stechender, alkoholischer Geruch hinzu wie von vergorenen Früchten. Als ich schließlich auf ebenem Boden ankam, war die Luft stechend scharf und auf meiner Zunge klebte ein saurer, fauler Geschmack. Jemand war vor mir da gewesen und hatte eine Fackel angezündet, die in der Mitte des Raumes auf einem Ständer aufgestellt worden war. In ihrem flackernden Schein sah ich eine Art Labor mit Regalen voller Bücher und beschrifteter Gläser in allen Formen, an denen der Staub von Jahrhunderten hing, und Arbeitstische mit Instrumenten und Gläsern, die sich sicher auch heute noch in einem Chemielabor finden ließen. Ehrfürchtig schaute ich mich um und dachte: So musste sich Howard Carter gefühlt haben, als er vor dem Grab von Tutanchamun stand!

Einer der Tische diente allein zur Ablage eines aufgeschlagenen, gigantischen Buches, das meine Neugier weckte. Es schien sich um ein Tagebuch zu handeln. Nur noch wenige Seiten waren leer verblieben und es war auf dem neuesten Eintrag aufgeschlagen. Verdutzt realisierte ich, dass dieser auf das Jahr 1933 datiert und nur einen rätselhaften Satz lang war: „Ich bin wohl tot, doch kann ich nicht sterben.“

Mit behutsamen Handgriffen blätterte ich Seite für Seite im Buch zurück.

Ins Jahr 1930, als das Grauen immer mehr außer Kontrolle geriet.

Ins Jahr 1927, als der Schreiber zu schwach wurde, um die Illusion beizubehalten.

Ins Jahr 1906, als er bekennen musste, dass sein Leben vorüber war.

Ins Jahr 1852, als er die Nebenwirkungen seines Elixiers viel zu spät erkannte.

Ins Jahr 1788, als sein Versteck trotz seines Illusionszaubers beinahe entdeckt worden wäre, hätte er nicht den Kopf eines Schatzgräbers mit einem Stein zerschlagen.

Ins Jahr 1763, als er den ersten neugierigen Schatzsucher ermordete.

Ins Jahr 1750, als er bemerkte, dass das Grauen an Stärke gewann und anfing, den Menschen auf der Erdoberfläche Visionen zu zeigen und Wünsche zuzuflüstern.

Ins Jahr 1729, als er zusammen mit Johann Konrad Dippel die Formel entdeckte, um Quecksilber in Gold zu transformieren.

Ins Jahr 1707, als er das erste Mal mit Dippel zusammenarbeitete.

In meinen zittrigen Händen raste die Zeit mit den hauchdünnen Seiten unermüdlich rückwärts. Er erlebte, wie die alte Burg im 13. Jahrhundert niederging und wie sie im 11. Jahrhundert aufgebaut wurde, und wie schließlich im Jahr 1014 das Grauen vom Himmel auf die Erde stürzte. Von ihm eingefangen war es dazu verdammt, ein Millennium lang wieder und wieder sein Sterben zu verzögern. Ich blätterte die erste Seite um, auf der in geschwungenen, stolzen Lettern ein Name prangte: „Johann Georg Rosenbach, Alchemist zu Dunkelbach.“

Mir schwindelte es. War das die Auswirkung der Zeitreise, die ich soeben gemacht hatte, oder war die Luft noch stickiger und schärfer geworden? Farben tanzten vor meinen Augen, wie wenn die Sonne durch ein buntes Kirchenfenster scheint, aber doch ganz anders, denn irgendetwas sah falsch daran aus. Ich blinzelte, aber die Erscheinung blieb. Im Schein der Fackel erkannte ich, dass bunt schimmernde Partikel in der Luft schwebten – in einer Weise, die die Gesetze der drei Raumdimensionen verhöhnte, und in Farben, die unmöglich waren.

Und dann sah ich sie: die Schätze der alten Burg. In einem riesigen Haufen glitzerten Gold und Silber zwischen Holzfässern, in denen sich zweifellos exquisiter Wein befinden musste! Ein Teil des Weins schien ausgelaufen zu sein und eine blutrote Pfütze gebildet zu haben.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung, auf die ich sofort meine Taschenlampe richtete. Ein Mensch stand gekrümmt da in einer uralten, modrigen Kutte. Mit seinen knorrigen Händen hielt er sich taumelnd an einem Regal, sodass die dort aufbewahrten Gläser voller Chemikalien zitterten und klirrten.

Ein Hauchen, kaum hörbar, entwich aus seinem Mund: „Geh.“

Ich zögerte. „Herr Rosenbach?“

„Geh!“ Seine Stimme rasselte und er setzte einen Schritt schwerfällig nach vorne. Seine Kutte verrutschte, wirbelte dabei weitere Partikel in die verseuchte Luft und gab sein Gesicht preis. Ein Gestank wie konzentrierter Essig und faule Eier schnitt mir durch die Nase. Obwohl das Tagebuch sein Schicksal angedeutet hatte, wich ich entsetzt zurück vor diesem Wesen, das einst ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war. Nun war er über und über von gräulichem und pelzigen Pilz bedeckt, der im Lichtschein in den gleichen falschen Farben schimmerte wie die Partikel, die Pilzsporen, die im Raum schwebten.

Der Haufen Gold und Silber formte sich. Das Metall zerbröselte zu grauen Flocken und funkelnden Sporen, während der stechende Gestank sich ins Unermessliche intensivierte. Vom Schimmel zerfressen, als ob sie schon ewig hier unten moderten, und doch wohlbekannt waren mir das pompöse Kruzifix und der Buddha-Kopf, die in der sich bewegenden, schimmeligen Masse auftauchten. Und waren diese grauen Klumpen da einst menschliche Körperteile gewesen, die sich nun in der weinroten Blutpfütze wälzten …?

„GEH!“, krächzte Rosenbach und warf das Regal um. Das Scheppern und Klirren zahlloser zerbrechender Gläser und das Zischen der darin durcheinander geworfenen Chemikalien lösten endlich meinen Bann. Ohne darüber nachzudenken, warf ich die Fackel auf die Lache, die sich aus den Chemikalien gebildet hatte, und rannte den Tunnel hoch. Ich stolperte und stürzte, verlor mein Smartphone, richtete mich wieder auf und lief durch die Finsternis, lief und lief und lief. Der Mond schien, als ich auf der Erdoberfläche angelangt war, und dann ließ der Knall einer gewaltigen Explosion den Hügel aufbrüllen. Ein mächtiges Erdbeben warf mich rücklings ins Gras. Scheußlich und dissonant pflügte ein Kreischen schmerzhaft durch meine Ohren. Aus dem einstürzenden Tunnel schoss eine Wolke von bunt schimmernden Sporen und bäumte sich wie ein Koloss über mir auf. Meine Augen blieben an den rasant wechselnden Formen und Mustern hängen, deren Geometrie und Anordnung keinen Sinn ergaben, und waren geblendet von den leuchtenden Farben, die nicht berechtigt waren zu existieren. Die Farben leuchteten immer greller, während sie sich aus den Sporen schüttelten und diese als farblose Hüllen zurückließen, die träge auf die Erde herabsanken. Und schließlich erhoben sich die Farben, stiegen empor und ergossen sich in die Weiten des Alls.

In meinem neuen Zimmer sind alle Wände sterilweiß mit der Ausnahme jener, an der mein Tisch mit dem Papier und den Malutensilien steht. An ihr hängen die zahllosen Bilder, die ich seit meinem Bibliotheksbesuch gemalt habe. Eine Pflegerin hat sie einmal bewundernd mit den Werken von Wassily Kandinsky verglichen, obwohl es gar nicht meine Absicht ist, Kunst zu erschaffen. Mit Buntstiften, Ölkreide und Acryl bemühe ich mich Tag für Tag, das darzustellen, was ich an jenem Abend gesehen habe. Die Ärzte, Therapeuten, Pfleger belächeln mich. Wenn ich doch nur die richtigen Farben hätte! Dann würden sie die Wahrheit sehen, sie begreifen. Alle möglichen Farben haben mir die Pfleger gebracht, nur nicht jene Farbe. Jene Farbe fehlt. Jene Farbe ist unmöglich aus den anderen Farben zu mischen. Denn jene Farbe sollte nicht existieren.

Ich setze den Pinsel ab. Ein weiteres Bild ist fertig, mein bisher bestes Werk. Es hat sich gelohnt, mir die Werke von Lobatschewskij, Beltrami, Klein, Riemann und Poincaré aus der Universitätsbibliothek auszuleihen und mich nächtelang darin zu vertiefen. Immer besser gelingt es mir, die Dreiecke mit ihren drei stumpfen Winkeln anzudeuten sowie die parallelen Linien, die sich senkrecht schneiden. Der Therapeut meinte, ich solle darüber nachdenken, ein Studium der Mathematik aufzunehmen. Doch was bringt mir die Mathematik, wenn ich jene Farbe nicht in Formeln ausdrücken kann! Immer, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie wieder. Auf der schwarzen Leinwand meiner Augenlider hat sie sich eingebrannt. Jene Farbe, die Farbe aus dem All.

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Antworten 1

LordJohn
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Es hat mir viel Spaß gemacht, die Geschichte zu lesen! Herzlichen Glückwunsch auch zum dritten Platz!!!:thumbup:

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