Lovecrafter Online – Rezension: The Lady Afterwards
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KatharinaKuo -
25. Dezember 2023 um 18:55 -
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1. Die Regeln
Bekannter Regelkern…
Das Regelwerk von TLA ist im Kern ein Prozentsystem, das allen, die schon einmal Fhtagn, Call of Cthulhu oder ein anderes d100-/BRP-System gespielt haben, vertraut vorkommen dürfte: Charaktere haben verschiedene Attribute (Physis, Intelligenz,…) und Fertigkeiten (Verhandeln, Medizin, Schießen,…), denen jeweils ein Prozentwert zukommt. Ist unklar, ob das, was der Charakter erreichen möchte, gelingt, so wird ein 100-seitiger Würfel (d100) geworfen. Entspricht das Ergebnis dem Prozentwert oder liegt darunter, so ist der Charakter erfolgreich. Vorteile und Nachteile werden abgebildet, indem die Erfolgswahrscheinlichkeit um 10% erhöht (Bonus) bzw. reduziert (Malus) wird.
Dieser aus anderen Systemen bekannte Grundmechanismus funktioniert gut, da er unkompliziert ist und die Spieler*innen leicht erkennen können, wo ein Charakter kompetent ist und wie schwierig eine Situation einzuschätzen ist. Die Umsetzung für TLA leidet meines Erachtens jedoch daran, dass einige Fertigkeiten reichlich vage sind („Bright Arts“) und viele Ermittlungstätigkeiten nicht durch eine Fertigkeit abgebildet sind. Ein Pendant zu Suchen oder Wachsamkeit (Fhtagn) bzw. Verborgenes Erkennen (Call of Cthulhu) fehlt, sodass in unserer Testrunde große Teile der Ermittlungen über Intelligenz-Würfe abhandelt werden mussten.
… mit neuen Ideen
Das Regelwerk enthält allerdings auch neue Ideen, die vom Setting des PC-Spiels inspiriert sein dürften: Jeder Tag folgt einem vorgegebenen Rhythmus, bestehend aus Morgengrauen, Mittag, Sonnenuntergang und Mitternacht. Zwischen diesen Phasen gibt es Zeiten der Macht, zu denen die Haut der Welt am dünnsten ist und okkulte Dinge durchbrechen können. Zu diesen Zeiten können Charaktere, die zuvor Übernatürliches oder Schreckliches erlebt haben, vom Okkulten erleuchtet werden (Fascination) oder psychische Traumata erleiden (Dread). Dadurch ändern sich ihre Fertigkeiten. Wer zu viel Kontakt zum Übernatürlichen hat, riskiert außerdem, eine Besessenheit zu entwickeln, die rollenspielerisch interessant sein mag, die Lösung des Abenteuers aber erschweren dürfte. Während dieser Zeiten der Macht ändern sich außerdem die Gottheiten, die gerade einen Blick auf die Charaktere geworfen haben. Mechanisch wird dies durch Tarot-Karten abgebildet, welche die verschiedenen Gottheiten (Hours) repräsentieren und denen von den Spieler*innen Würfel zugewiesen werden. Kommt im Spiel dann etwa die Frage auf, ob die verschlossene Türe, vor der die Charaktere stehen, ein Schlüsselloch hat, durch das man hindurch spähen kann, dann sollte die Frage bejaht werden, wenn gerade die Tarot-Karte „The Door in the Eye“ aufgedeckt auf dem Tisch liegt. Ist dieser Karte auch noch ein Würfel zugewiesen, so können die Spieler*innen außerdem einen Würfelwurf durch einen Wurf mit diesem Würfel wiederholen, wenn sie z.B. versuchen, die verschlossene Türe aufzubrechen. Beim Spiel war mein Eindruck, dass es ein wenig Übung braucht, die Tarot-Karten in die Erzählung einfließen lassen. Bei meinen Spieler*innen kamen sie jedoch gut an, da sie dazu beitrugen, Szenen detaillierter zu beschreiben oder kreative Lösungen zu ermöglichen. Das Wiederholen der Würfe sorgte in unserer Testrunde für ein paar Irritationen, da der Einsatz unterschiedlicher Würfel (vom d4 bis zum d20) dazu führen kann, dass Werte jenseits der 100% geworfen werden. Ich persönlich fand es allerdings durchaus stimmig, dass der Einfluss göttlicher Entitäten den menschlichen Verstand bisweilen übersteigt.
Ebenfalls gut gefallen hat mit die Idee der „verschleierten Würfe“. Wenn nicht sofort klar sein soll, ob ein Wurf erfolgreich war oder nicht (z.B. ob ein einbrechender Charakter gesehen wurde) überlegt die SL (Spielleiterin) sich vor dem Wurf, ob die Einer- und Zehnerstellen vertauscht werden, gibt dies jedoch nicht Preis. Würfelt die Spielerin dann eine „37“ ist also nicht klar, ob sie 37 oder 73 gewürfelt hat. Je höher der Fertigkeitswert des Charakters ist, desto eher kann er aber einschätzen, ob er erfolgreich war. Dieser elegante Mechanismus kam in meiner Runde gut an.
Solide, aber nicht außergewöhnlich
Im Großen und Ganzen ist das Regelwerk gut strukturiert und klar geschrieben. An einigen Stellen hätte ich mir eine konzisere und nüchternere Sprache gewünscht, aber als Juristin habe ich vielleicht auch einfach einen pragmatischen (bzw. spaßbefreiten) Zugang zu Regelwerken. Gut gefallen haben mit die Design Notes im Regelwerk, welche die Überlegungen hinter einigen Mechanismen diskutieren. Wer schon mehrere Regelsysteme kennt, wird vieles davon offensichtlich finden, aber für unerfahrene SLs können diese Hinweise einen guten Startpunkt darstellen, um die Regeln besser zu verstehen und gegebenenfalls an die eigenen Vorlieben anzupassen.
Insgesamt fand ich die Regeln gelungen, aber nicht außergewöhnlich. Wer bereits ein System wie Fhtagn oder Call of Cthulhu beherrscht, wird das Abenteuer The Lady Afterwards aus dem Stand mit seinem Haussystem spielen können. Mechanismen wie die verschleierten Würfe oder der Einsatz der Tarot-Karten unterstützen das Setting zwar stimmungsvoll, lassen sich auch problemlos mit anderen cthuloiden d100-Systemen kombinieren.
2. Die Charaktere
The Lady Afterwards bietet 8 unterschiedliche Archetypen an, zwischen denen die Spieler*innen auswählen können:
- Der Strebsame: ein einsamer, desillusionierter Akademiker
- Das intelligente junge Ding: ein charmanter und wohlhabender Aristokrat
- Der Doktor: ein angesehener Arzt mit einem Traum
- Der Detektiv: ein Inspektor der Londoner Stadtpolizei
- Die Tänzerin: eine schöne, aber mittellose Darstellerin
- Der Priester: ein erfolgreicher Prediger mit mystischen Neigungen
- Das Medium: ein berüchtigter Spiritist, der mit den Toten kommunizieren kann
- Der Exilant: ein Krimineller, der versucht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen
Die Charaktererschaffung ist denkbar einfach: Jeder Archetyp kommt mit einem vorgegebenen Set an berufsspezifischen Attributen und Fertigkeiten. Zusätzlich können 400 Punkte frei verteilt werden. Das Inventar und die Beziehung zur Auftraggeberin sind bereits vorgegeben.
Die Hintergründe des Charakters werden durch einen Fragebogen mit vorgegebenen Auswahlmöglichkeiten festgelegt. Die Fragen und Antwortmöglichkeiten sind stimmig, teils aber auch sehr kreativ, wodurch interessante Charaktere entstehen. Das Medium unserer Gruppe wählte bei der Frage nach ihrer engsten Freundin beispielsweise die Antwort „Ein Geist“.
Die Charaktererschaffung lässt den Spielenden nur wenige Auswahlmöglichkeiten und keine umfassende Freiheit. Der Vorteil dieses Vorgehens ist jedoch, dass innerhalb weniger Minuten interessante Charaktere entstehen. Dies ist vor allem den gelungenen Fragebögen zu verdanken, die sich auch ganz generell als Inspiration für Charaktere aus den 1920er Jahren eignen.
3. Das Abenteuer
Ein simples Abenteuer…
Das Herzstück von The Lady Afterwards ist das Abenteuer. Die Charaktere werden von ihrer gemeinsamen Bekannten Loretta beauftragt, deren Schwester Audrey in Alexandria zu finden. Was die Charaktere jedoch nicht wissen: Audrey ist die Mutter des von Loretta aufgezogenen Kindes. Da sie jedoch ein Forge-Long, ein gefährliches, übernatürliches Wesen ist, nahm Lorettas Mann Audrey das Kind bei der Geburt ab und ließ sie glauben, dass es eine Totgeburt gewesen sei. Als Loretta unheilbar krank ist, offenbart sie ihrer Schwester dieses Geheimnis. Diese nimmt daraufhin Kontakt mit einem Kult in Alexandria auf, um ihr Kind zu finden. Um ein Unglück zu verhindern, müssen die Charaktere das Kind vor dem Kult retten, während es in Alexandria zunehmend zu seltsamen Ereignissen kommt.
Die Grundidee hinter dem Abenteuer ist relativ simpel, sie ist aber in sich schlüssig und bietet einen guten Aufhänger, um verschiedenste interessante Orte und Begebenheiten in Alexandria ins Abenteuer einzubauen.
…das jedoch hervorragend aufbereitet ist…
Wirklich herausragend fand ich die Aufbereitung des Abenteuers: Es lässt sich sicher darüber streiten, ob ein Abenteuer, an dem die meisten Gruppen ca. 12-15 Stunden spielen werden, wirklich über 54 Seiten ausgebreitet werden muss. Der Text ist aber durch Boxen, Bullet Point Listen und andere Layoutelemente durchgängig so gut strukturiert, dass man sich beim Leiten problemlos zurecht findet. Hinzu kommt, dass der Spielleitung viele Hilfsmittel an die Hand gegeben werden: So findet sich bei jeder Örtlichkeit, die in dem Abenteuer eine Rolle spielt, eine Textbox mit Stichworten zur Beschreibung und Darstellung dieses Orts im Spiel. Genauso gibt es für jeden NPC eine Box mit Foto, ein paar Stichworte zu dieser Person und einer Linie, auf der sich markieren lässt, wie gut der NPC auf die Charaktere zu sprechen ist. Mit einem Masken-Symbol markierte Absätze enthalten Hinweise darauf, wie sich bestimmte Archetypen besonders gut in die jeweilige Szene einbauen lassen und auch eine eigene Playlist für die Hintergrundmusik wird mitgeliefert.
Wer schon viele Abenteuer geleitet hat, wird diese Hilfestellungen wahrscheinlich nicht benötigen. Ich fand es dennoch sehr angenehm, dass mir der Abenteuerband mit diesen Textboxen viel von jener Arbeit abnimmt, die ich gewöhnlich in die Ausarbeitung von Kaufabenteuern stecken muss. Die Beschreibungen sind auch durchwegs passend und abwechslungsreich gehalten. Sollte also jemand TLA gar nicht spielen wollen, aber auf der Suche nach Örtlichkeiten und NPCs für eigene Abenteuer in Ägypten sein, so bietet TLA sich daher auch als Ideen-Steinbruch an.
…und mit hervorragenden Handouts daher kommt
Erwähnenswert sind außerdem die zahlreichen gut gestalteten Handouts. Meine Spieler*innen haben z.B. viel Zeit mit dem Handout des gefälschten Geburtsscheins von Audreys Tochter verbracht und hatten am Ende nicht nur viele neue Erkenntnisse zum Hintergrund des Abenteuers, sondern auch sinnvolle Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen. Die Zeitungsseiten, die als Handout vorliegen, erfüllen Alexandria mit Leben, enthalten in zunächst belanglos wirkenden Artikeln aber auch zahlreiche kleine Hinweise für das Abenteuer. Sehr gut kam in meiner Gruppe auch die Karte von Alexandria an, auf der einzelne Örtlichkeiten hervorgehoben sind. Dadurch ist es für die Spieler*innen leichter zu erkennen, dass man z.B. die Post aufsuchen, bei der Zeitung vorbeischauen oder einem bekannten Restaurant einen Besuch abstatten könnte.
4. Fazit
TLA erfindet das Rad nicht neu. Das Regelwerk baut auf Bekanntem auf und auch das Abenteuer ist nicht wahnsinnig originell. Bei der Menge an von Lovecraft inspirierten Abenteuern und Regelwerken, die laufend erscheinen, ist das aber auch durchaus verständlich. Die Zielgruppe dieses Rollenspiels dürften auch primär neue Rollenspieler*innen sein, die womöglich das Computerspiel Cultist Simulator kennen, aber kaum Erfahrung mit Pen&Paper Rollenspielen haben. Für diese Zielgruppe ist TLA in meinen Augen ideal: Der Regelkern ist intuitiv und seit vielen Jahren erprobt, die Charaktererschaffung geht schnell von der Hand und das Abenteuer enthält so viele Hilfestellungen für die Spielleitung, wie man dies sonst höchstens in designierten Einsteigerabenteuern sieht.
Die Gruppe, mit der ich das Abenteuer derzeit spiele, besteht aus lauter routinierten Rollenspieler*innen. Dennoch haben auch wir mit dem Abenteuer Spaß, zumal Alexandria ein tolles Setting abgibt, die Charaktere interessant und die Handouts sehr hochwertig sind. Wer also ein solides Abenteuer sucht, das das Rad zwar nicht neu erfindet, aber gut aufbereitet und ohne viel Aufwand zu leiten ist, macht mit The Lady Afterwards nichts falsch. Einzig der Preis (derzeit ca, 190 Euro für die physische und ca. 40 Euro für die PDF-Version) ist als Wermutstropfen zu erwähnen, erklärt sich aber mit dem hochwertigen Spielmaterial (getestet wurde die PDF-Version).