Lovecrafter Online – Tunnel-Träume. George Sluizers Spoorlos und The Vanishing in der Lesart von Lovecraft und Dürrenmatt
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Seanchui -
11. Dezember 2023 um 12:00 -
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In den Schlussbildern von Irreversibel (2002, Regie: Gaspar Noè) sieht man wie die Hauptdarstellerin (Monica Bellucci) auf einer grünen Wiese in dem Buch An Experiment With Time von John William Dunne liest - der Text beschäftigt sich mit der telepathischen Vorhersagekraft von Träumen. Hier ist zu beachten, dass der Film in umgekehrter Chronologie erzählt wird: offenbar von der Lektüre beeinflusst wird ein Traum mit einer Schwangerschaft in Verbindung gebracht, es fällt der Satz, dass die Zukunft vorherbestimmt sein könnte - die Tunnel-Vision verwies aber auf eine bevorstehende Vergewaltigung in einer Unterführung.[1] Dunnes Buch erschien 1927, mehrere Erzählungen, in denen sich Lovecraft mit Träumen beschäftigte, waren bereits verfasst.
Die Kernaussage von Irreversibel, dass die Zeit alles zerstöre, wäre auch als Titel für den niederländischen Thriller Spoorloos (1988) von George Sluizer nach der Novelle von Tim Krabbè zutreffend. Darin geht es um einen jungen Mann, der herausfinden möchte, was mit seiner vermissten Freundin geschehen ist. Selten wurde in einem Film so deutlich Lovecrafts vielleicht bekanntestes Zitat, dass Angst die älteste und stärkste Emotion des Menschen sei, umgesetzt. 1993 drehte Sluizer unter dem Titel The Vanishing ein in den USA angesiedeltes Remake. Dieses fiel zwar ebenfalls außerordentlich spannend aus, erreichte aber aufgrund einiger wesentlicher Abwandlungen nicht die Intensität des Originals.
Handlung
Während einer Südfrankreichreise diskutieren Rex (Gene Bervoets) und Saskia (Johanna ter Steege), ein junges Paar aus den Niederlanden über einen häufigen Albtraum Saskias, in dem sie in einen goldenen Ei eingeschlossen durch den Weltraum fliegt. Nach einer Panne in einem langen, dunklen Tunnel, wo es zum Streit zwischen den beiden kommt, gelangen sie an eine Raststätte, an der Saskia Getränke kaufen möchte. Dort verschwindet sie spurlos. Die quälende Suche nach ihr erstreckt sich über drei Jahre, in denen Rex zahlreiche anonyme Hinweise erhält und immer wieder von einem Mann beobachtet wird, der sich schließlich mit ihm treffen möchte. Es handelt sich um den Familienvater und Chemie-Wissenschaftler Lemorne (Bernard-Pierre Donnadieu), der Rex anbietet, er könne erfahren, was Saskia zugestoßen ist, wenn er bereit wäre, das gleiche wie sie zu durchleiden.
Interpretation
In den Geschichten von Lovecraft geht es häufig um verschwundene Menschen. Dies thematisiert er bereits in The Mysterious Ship, einer kurzen Erzählung, die er im Alter von zwölf Jahren verfasste. The Statement of Randolph Carter (1920) handelt von dem geheimnisvollen Verschwinden des Mystikers Harley Warren auf einem Friedhof. In The Silver Key (1929) - dieser Schlüssel soll Zeit und Raum verändern können und mit ihm kann man die Traumlande betreten - verschwindet Carter selbst spurlos. Sein verlassenes Auto bleibt am Fuße des Elm Mountain zurück.[2] Pickman’s Model (1927) handelt von der Angst vor Unterführungen und Tunneln, der titelgebende Maler verschwindet ebenfalls.
Spoorlos enthält keine eigentlich übersinnlichen Elemente und der Handlungsablauf ist logisch durchdacht, was in den Rückblenden immer wieder verdeutlicht wird. Trotzdem ist Lovecrafts Theorie durchaus anwendbar: Über die „wahre unheimliche Geschichte” schreibt er, dass sie „mehr als nur heimlichen Mord” enthalten müsse. Ebenso ist eine „gewisse Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Kräften” erforderlich, „eine unheilvolle und spezielle Aufhebung oder Unterwerfung jener festen Naturgesetze, welche unsere einzige Sicherheit vor den Angriffen des Chaos und der Dämonen des unerforschten Weltalls sind.“[3] Lovecraft verstand das Universum als einen von starren Gesetzen beherrschten Mechanismus, welcher jeden Zufall und auch einen freien Willen ausschließt. Jedes Ereignis ist die unausweichliche Folge von Hilfsursachen und Nebenumständen, die sich bis ins Unendliche zurückverfolgen lassen.[4] Der mit Chloroform experimentierende Lemorne ähnelt auch den häufig bei Lovecraft beschriebenen „genialen, aber unheimlichen und unheilvollen Wissenschaftler(n)”, die bewusst und willentlich in Tabubereiche eindringen.[5] In einer Rückblende blättert der 16jährige Lemorne in dem alchemistischen Buch Mutus Liber, worin lediglich hermeneutisch-symbolische Abbildungen enthalten sind, aber keine Erläuterung für Nicht-Eingeweihte - auch dies weckt Erinnerungen an das Necronomicon und andere von Lovecraft beschriebene geheime Bücher. Auf einer Seite wird ein in einer Glaskugel eingeschlossener Mensch gezeigt.[6] Einen quälend langen Moment dauert es, bis Lemorne anschließend vom Balkon springt. Gegenüber Rex erläutert er: „Es kann doch nicht vorbestimmt sein, dass ich nicht springe. Wer oder was hat das Recht vorherzubestimmen, dass ich nicht springe?” Diese Vorherbestimmung müsse ad absurdum geführt werden. Unter dieser Prämisse wird Lemorne als Erwachsener ein schreckliches Experiment durchführen. Mit seiner Theorie greift Lemorne aber auch Lovecrafts Weltsicht an und seine Argumentation steht auf wackeligen Beinen. Woher will Lemorne wissen, dass sein Handeln trotzdem nicht determiniert ist oder sogar theologisch betrachtet, dass seine Handlungen nicht die Gedanken eines launischen Gottes sind? In einem Brief reflektiert der Atheist Lovecraft über Einsteins Entdeckung, dass die Materie lediglich eine Form von Energie ist und schlussfolgert, dass das Fehlen von Materie nicht auf die Anwesenheit eines Geistes hindeutet, sondern auf das Fehlen von allen möglichen.[7]
Rex hatte einst versprochen, Saskia nie alleine zu lassen. Der seit Jahrzehnten verheiratete Lemorne sagt zu Rex, er sei nicht so lange mit Saskia zusammen gewesen, dass die Liebe sich abschwächen konnte. Seine verzweifelte Suche lässt auch an den fanatischen Ermittler aus Dürrenmatts Erzählung Das Versprechen erinnern. Friedrich Dürrenmatts (1921-1990) pessimistische Weltsicht betrachtet die Welt als Labyrinth, den Menschen darin im Chaos gefangen und vom Zufall regiert. Ein Biograf Dürrenmatts interpretiert seine Kurzgeschichte Der Tunnel, in der ein Zug unkontrolliert durch einen riesigen, endlos erscheinenden Eisenbahntunnel rast, als „existentialistische Parabel des Sturzes aus dem Alltag, der Erschütterung aller Gewissheiten und des Durchbruchs zum Wesentlichen, aber auch das apokalyptische Gleichnis einer sorglosen Zivilisation, die nicht merkt, wie sie in eine Katastrophe hineinfährt.”[8] Sluizers Remake The Vanishing führt die Figur des Entführers Barney (Jeff Bridges) zuerst ein und bietet einen versöhnlichen Schluss an. Dennoch gibt es in der bis in einzelne Dialoge weitgehend dem Original folgenden Handlung mehrere Momente, welche die Dürrenmattschen Aspekte einfangen: nach dem Verschwinden von Diane (Sandra Bullock) erlebt Jeff (Kiefer Sutherland) einen beispiellosen sozialen Abstieg: Barney spottet sogar über ihn, dass er erwerbslos sei und keine Zukunft habe. Jeffs aktuelle Freundin Rita (Nancy Travis) findet in dessen Computer Aufzeichnungen darüber, dass er immer an Diane denken muss. Die Möglichkeit wird von Rita auch in den Raum geworfen, ob Diane freiwillig verschwunden sei und gar nicht gefunden werden wolle. In einer erschütternden Szene weint Jeff und spricht davon, dass er sich einmal gewünscht habe, Diane wäre schwer krank, damit sie immer bei ihm bleiben müsse.
Das Original Spoorloos ist dennoch pessimistischer, beklemmender, düsterer und lovecraftscher…
[1] Stiglegger, Marcus (2003): Irreversibel. URL: http://www.ikonenmagazin.de/rezension/Irreversible.htm.
[2] Die starken Traum-Bezüge deuten bereits auf eine bekannte Figur des postmodernen Horrors hin: Freddy Krueger. Hierzu mein Artikel Träume im Hexenhaus: Lovecraft geht in die Elm Street. URL: https://www.deutschelovecraftgesellschaft.de/article/378-lovecrafter-online-träume-im-hexenhaus-lovecraft-geht-in-die-elm-street/.
[3] Lovecraft, Howard Phillips (1985): Die Literatur der Angst. Linkenheim. S. 19.
[4] Joshi, Sunand Tryambak (1997): H. P. Lovecraft. Leben und Denken. In: Rottensteiner, Franz (Hrsg.): H. P. Lovecrafts kosmisches Grauen. Frankfurt am Main. S. 23 f.
[5] Koseler, Michael (1997): Anmerkungen zur Erzählkunst Lovecrafts. In: Rottensteiner, Franz (Hrsg.): H. P. Lovecrafts kosmisches Grauen. Frankfurt am Main. S. 113 f. In Krabbès Vorlage sowie Sluizers erster Adaption fehlt das Element der grausamen Bestrafung, welches im amerikanischen Remake tatsächlich vorkommt.
[6] Ragotzky, Thorsten (2013): Spurlos verschwunden. In: Koebner, Thomas und Hans Jürgen Wolff (Hrsg.): Filmgenres Thriller. Stuttgart. S. 333 - 336.
[7] Joshi, Sunand Tryambak (1997): H. P. Lovecraft. Leben und Denken. In: Rottensteiner, Franz (Hrsg.): H. P. Lovecrafts kosmisches Grauen. Frankfurt am Main. S. 24.
[8] Weber, Ulrich (2020): Friedrich Dürrenmatt. Eine Biografie. Zürich. S. 121.