Lovecrafter Online – Eine lovecraftsche Interpretation von Hellraiser

Zitat

„Die Welt hatte so viele Zeitalter gesehen. Das Zeitalter der Aufklärung; der Reformation; der Vernunft. Und nun endlich, das Zeitalter der Begierde. Und danach – das Ende der Zeitalter; das Ende von vielleicht allem. Denn die Feuer, die nun geschürt wurden, waren grimmiger als die arglose Welt glaubte. Es waren schreckliche Feuer, die die Welt in einem letzten, grimmigen Licht erstrahlen würden.“

- Clive Barker, Das Zeitalter der Begierde

Zitat

„Der Wert eines menschlichen Wesens bemisst sich heute nach seiner wirtschaftlichen Effektivität und seinem erotischen Potential, und das sind genau die beiden Dinge, die Lovecraft am meisten verabscheute.“

- Michel Houellebecq, Gegen die Welt, gegen das Leben. H. P. Lovecraft

Kalter Materialismus. Eine lovecraftsche Interpretation von Clive Barkers Hellraiser (1987)

Der Dramatiker Clive Barker hatte bereits in den 1970er Jahren mit den im experimentellen Stil eines Kenneth Anger gehaltenen Kurzfilmen Salome und The Forbidden erste Filmerfahrungen gesammelt. Nach der erfolgreichen Veröffentlichung der sechsbändigen Kurzgeschichtensammlung Bücher des Blutes in den Jahren 1984 und 1985 – eine der enthaltenen Erzählungen thematisiert „Casanovas Traum“: „Sex ohne Ende, ohne Kompromiss oder Rechtfertigung“[1] – folgte sein Langfilmdebüt Hellraiser, eine Adaption seiner Novelle Das Tor zur Hölle (The Hellbound Heart).


Von Beginn an könnte es eine Lovecraft-Geschichte sein, die hier verfilmt wurde: Frank Cotton (Sean Chapman) wird in einem verfallenen Haus beim Öffnen einer mysteriösen Puzzle-Box mit Ketten in eine seltsame Zwischenwelt gerissen, die von den Cenobites bewohnt wird, eigenartigen, in Lederkorsagen gekleidete Wesen, die ihn extremster Schmerzerfahrungen aussetzen. Später beziehen Franks Bruder Larry (Andrew Robinson, bekannt als der Killer „Scorpio“ aus Dirty Harry) und seine zweite Frau Julia (Clare Higgins), die zugleich Franks frühere Geliebte war, das Familienanwesen. Beim Einzug verletzt sich Larry an der Hand. Die Bluttropfen ermöglichen es Frank als gehäutetes Wesen (Oliver Smith) auf den Speicher des Hauses zurückzukehren. Er kann die verängstigte Julia überreden, Männer mit der Aussicht auf ein sexuelles Erlebnis in das Gebäude zu locken, wo sie mit einem Hammer niedergeschlagen und von Frank ausgesaugt werden, damit dieser sich regenerieren kann. Larrys Tochter aus erster Ehe, Kirsty (Ashley Laurence) beobachtet eines Tages ihre Stiefmutter in Begleitung eines unbekannten Mannes. Im Haus wird sie von Frank angegriffen. Kirsty gelingt es schließlich mit der Puzzle-Box zu fliehen, sie bricht auf der Straße zusammen und wird gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik gebracht. Dort öffnet sie den würfelartigen Gegenstand, die Cenobites erscheinen erneut.


Viele Aspekte erinnern an Lovecrafts Die Ratten im Gemäuer (The Rats in the Walls, 1923), auch wenn die Grundthematik eine andere ist: wie Delapore wird auch Kirsty von Albträumen gequält, beide werden schließlich in die Psychiatrie eingewiesen. Die Beschreibungen von Skelettteilen, Opferstätten und Käfigen finden ihre Entsprechung in Barkers drastischen Bildern des mit Leichen befüllten Speichers und vor allem in der mit Ketten und Fleischerhaken ausgestattete Welt der Cenobites. Der von Lovecraft thematisierte Kybele- und Attis-Kult ist ebenfalls sexuell konnotiert und beinhaltet einen grausamen, im antiken Rom verbotenen Kastrations-Ritus[2]. Auch die Cenobites fungieren als eine verborgene Priesterschaft des Schmerzes: ihre Körper tragen sichtbare Verstümmelungen, an besonders empfindlichen Körperstellen ist die Haut zusammengenäht. Präsent sind auch die bei Lovecraft titelgebenden Ratten, welche im Film bei Franks Verbrechen anwesend sind und von ihm ebenfalls gequält werden. Lovecraft nimmt häufig Bezug zu historischen Ereignissen, vor allem zur britischen, aber auch zur französischen Geschichte wie in Das gemiedene Haus (The Shunned House, 1937): Hellraiser IV – Bloodline (1996) thematisiert, dass es mehrere Exemplare der Lemarchand-Box geben soll, die ursprünglich von einem Spielemacher im absolutistischen Frankreich konstruiert wurden.


In der Erzählung Barkers erfährt man, dass ein solcher Würfel einst dem Marquis de Sade gehörte, der ihn während seiner Haft in der Bastille gegen Papier eintauschte, um Die 120 Tage von Sodom zu schreiben[3]. In diesen und anderen Werken beschreibt de Sade grausame, überwiegend von Angehörigen der gesellschaftlichen Oberschicht verübte Gewalttaten. Die Täter versuchen ihre Handlungen philosophisch zu legitimieren. So bezeichnet sich eine der Sadeschen Figuren als Maschine in der Hand der Natur, „die sie nach ihrem Belieben bewegt, und jedes meiner Verbrechen dient ihr“. Bezugnehmend auf zeitgenössische Theoretiker wie La Mettrie oder den Baron d'Holbach wird auch die Willensfreiheit als „Hirngespinst“ negiert: bei allen Handlungen werden die Menschen „von einer übermächtigen Macht getrieben“ und Verbrechen seien „für die Natur unabdingbar“[4]. Entsprechend wirkt vor allem Julias Verhalten künstlich, mechanisch, „maschinell“, völlig von ihren Gefühlen für Frank geleitet.


Der sich als „mechanistischer Materialist“ und „Indifferentist“ bezeichnende und von der Sinnlosigkeit des Kosmos überzeugte Lovecraft argumentierte – möglicherweise unter Bezugnahme auf die gleichen Quellen – ähnlich. „Der Determinismus,“ so Lovecraft 1921 „herrscht unerbittlich (…)“, denn es wird „jedes Ereignis im Kosmos durch die Einwirkung vorhergehender Kräfte der Umgebung verursacht (...)“. Die Summe aller Handlungen sind in Wahrheit „das unausweichliche Produkt der Natur und nicht unseres eigenen Willens (…)“. Das von blinden, unpersönlichen Kräften regierte Universum – so Lovecraft in einem Brief aus dem Oktober 1930 „schert sich keinen Pfifferling, pro oder contra, um die speziellen Wünsche (…) von Moskitos, Ratten (…) Menschen (…) und anderen Erscheinungsformen biologischer Energie“[5]. Die Cenobites selbst wahren für sich eine nahezu wissenschaftliche Neutralität und bezeichnen sich Kirsty gegenüber als „Forschungsreisende in die weiten Regionen der menschlichen Erfahrungen“, die manchen als Engel, anderen als Dämonen erschienen.


Nur wenige Jahre nach seinem legendären Lovecraft-Essay[6] beschrieb Michel Houellebecq in seinem Roman Ausweitung der Kampfzone (1994) Sexualität als ein vom Geld weitestgehend unabhängiges „zweites Differenzsystem“: „In einen völlig liberalisierten Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt (…) die Frauen kämpfen um wenige junge Männer; die Männer um einige wenige Frauen.“[7] Der wahre Horror, den Hellraiser zeigt, ist die Angst vor Vereinsamung und die verzweifelte Suche nach unerfüllter Liebe, was besonders die kalten, sterilen Bilder zum Ausdruck bringen, wenn Julia ihr erstes Opfer in einer Bar trifft. Einer der ihr unbekannten Männer spricht davon, schrecklich einsam zu sein, was Julia sofort bestätigt. Sowohl Larry als auch Julia sind unglücklich in ihrer Beziehung. Frank sucht „Erfahrungen jenseits aller Grenzen“, die letztendlich aber nicht seinen Vorstellungen von flüchtigen, sexuellen Abenteuern entsprechen. Ist es bei Lovecraft häufig „die besondere Verrufenheit eines Ortes“, welches zu „Isoliertheit“ führt[8], wird in Hellraiser eine geradezu gleichgültige Gesellschaft gezeigt: die ermordeten Männer scheinen von niemanden vermisst zu werden, schließlich fungieren die Cenobites selbst als strafende und ordnende Instanz.


Der erste Teil Hellraiser (zwischenzeitlich gibt es neun Fortsetzungen sowie aktuell ein Remake) erzählt im Grunde – und hier findet sich auch die stärkste Parallele zum damals zeitgenössischen Horrorfilm – eine Familiengeschichte: der Lead Cenobite (Doug Bradley) und Michael Myers sollten 2003 sogar in einem Hellraiser-Halloween-Crossover aufeinandertreffen: das Drehbuch sollte Clive Barker schreiben und ein weiterer begeisterter Lovecraft-Leser war als Regisseur vorgesehen: John Carpenter! Dieses Projekt wurde leider verworfen. Vielleicht wird dieser Film doch noch realisiert, eingebettet in die unheimlich-herbstliche Atmosphäre des Lovecraft-Gedichts Hallowe’en in a Suburb:


„For new and old alike in the fold

Of horror and death are penn’d,

For the hounds of Time to rend.“


[1]Barker, Clive (2003): Die Bücher des Blutes IV – VI. Erftstadt, S. 248. Das titelgebende Zeitalter der Begierde ist gekennzeichnet durch die „Jagd nach Lust“.

[2]Derie, Bobby (2017): Sex und Perversion im Cthulhu-Mythos. Ein intimer Blick auf H. P. Lovecraft und sein literarisches Erbe. Leipzig. S. 125 ff.

[3]Barker, Clive (1997): The Hellbound Heart. London. S. 47.

[4]Alle Zitate: Schuhmann, Maurice (2007): Die Lust und die Freiheit. Marquis de Sade und Max Stirner. Ihr Freiheitsbegriff im Vergleich. Berlin. S. 42 f., 70 ff.

[5]Alle Zitate: Mosig, Dirk W. (1997): H. P. Lovecraft: Mythenschöpfer. In: Rottensteiner, Franz (Hrsg.): H. P. Lovecrafts kosmisches Grauen. Frankfurt am Main. S. 163.

[6]Houellebecq, Michel (2002): Gegen die Welt, gegen das Leben. H. P. Lovecraft. Köln. „Nur wenige andere Menschen waren wie Lovecraft in diesem Grade von der absoluten Nichtigkeit jedes menschlichen Strebens geprägt und bis auf die Knochen durchdrungen. Die Welt ist nur ein (…) Übergangszustand in Richtung Chaos, das letztendlich siegen wird. (...) Alles wird verschwinden. Und die menschlichen Handlungen sind genauso frei und sinnleer wie die freien Bewegungen der Elementarteilchen.“

[7]Houellebecq, Michel (1999): Ausweitung der Kampfzone. Berlin. S. 99.

[8]Koseler, Michael: Anmerkungen zur Erzählkunst Howard Phillips Lovecrafts. In: Rottensteiner, Franz (Hrsg.): H. P. Lovecrafts kosmisches Grauen. Frankfurt am Main 1997. S. 117 f. Das Cotton-Haus als Gebäude fungiert als „Konzentrationspunkt des Un-Normalen in einer normalen Umwelt.“