Lovecrafter Online – Filmkritik: Strange Dreams

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Ich habe mir oftmals die Frage gestellt, ob die Mehrheit der Menschen jemals innehält, um über die gelegentlich titanische Bedeutsamkeit von Träumen und über die finstere Welt, der sie angehören, nachzusinnen.

(H.P. Lovecraft / Jenseits der Mauer des Schlafes).

Lovecraft war fasziniert von Träumen, ganze Passagen und Geschichten in seinem Werk sind niedergeschriebene Traum- oder Alptraumbilder. Eine Reihe seiner fantastischen Geschichten sind im Traumlandezyklus gesammelt. Der Faszination des Traumes widmet sich der kleine kanadische SF-Horrorfilm Come True (in Deutschland – unnachvollziehbar, wie oft – umbenannt in Strange Dreams) von 2020, der letztes Jahr in Deutschland erschienen ist.

Handlung

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Ob nun die Träume das Fieber auslösten oder das Fieber die Träume - das wusste Walter Gilman nicht zu sagen...

(H.P.Lovecraft / Träume im Hexenhaus)

Die junge Sarah erwacht aus einem bizarren Alptraum: Sie ist von zuhause ausgerissen und übernachtet meist bei Freundin Chloe oder auf der Rutsche des örtlichen Spielplatzes. Auf die Anrufe Ihrer Mutter reagiert sie nicht und kehrt nur nach Hause zurück, wenn sie sicher ist, allein zu sein. Hinzu kommen zunehmend Schlafstörungen, Mobbing von Schulkameraden und immer häufiger immer düsterer werdende Alpträume.


Eine im Aushang der Schule beworbene Schlafstudie scheint die Lösung für Ihre Probleme zu sein. Geld verdienen bei der Gelegenheit, einen festen, sicheren Schlafplatz zu erhalten, vielleicht sogar Hilfe bei Ihren Schlafproblemen. Nach anfänglichem Erfolg wird Sarah jedoch in einen Strudel von Ereignissen gezogen, der sie immer weiter in einen Teufelskreis aus Schlafparalyse, Panikattacken und bewusstseinstrübenden Anfällen führt und sie bald verstört und verängstigt nach dem eigentlichen Ziel der Experimente forschen lässt. Was ist Schlaf, was Realität und wie unterscheidet man sie? Wie tief geht Ihr Abstieg in das eigene Unterbewusstsein?


Mehr Informationen sollte man vor dem Filmgenuss nicht einholen um die zahlreichen Wendungen der Geschichte zu genießen.

Lovecrafteske Momente

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...fügt man diesem Gefühl der Angst und des Bösen die unvermeidliche Faszination des Staunens und der Neugier hinzu, so entsteht eine Mischung aus heftigen Emotionen und Anregungen der Phantasie...

(H.P. Lovecraft / Das übernatürliche Grauen in der Literatur)


Der eine Prüfstein des wahrhaft Unheimlichen ist dieser - ob im Leser ein tiefgreifendes Angstgefühl geweckt wird, ein Gefühl, mit unbekannten Sphären und Mächten in Berührung gekommen zu sein...

(H.P. Lovecraft / Das übernatürliche Grauen in der Literatur).


Träume und Lovecraft, wo fängt man da an? Alle Kapitelzitate Lovecrafts dieser Kritik haben einen starken Filmbezug. Der deutlichste Bezug ist dabei sicherlich die der Traumsequenzen, die den Film durchziehen und die ausgesprochen effektiv in den Bann ziehen. Schon die erste ist hypnotisch und unheimlich, da schwebt man in monochromer Optik auf eine Insel zu, um durch Pforten auf eine unheimliche Gestalt zuzufahren. Das Ganze ist, wie der gesamte Film, von extrem passender, treibend-sphärischer Synthesizer-Musik unterlegt (Electric youth / Pilotpriest).

Anleihen von Tangerine Dream bis John Carpenter sind unverkennbar zu hören und unterstützen die gezeigte Optik. Der gesamte Film ist stark farbreduziert gefilmt, alles sieht für einen Indiefilm sehr gut aus und ist auf Stimmungsaufbau ausgerichtet.


Wer sich darauf einlassen kann, erlebt eine sich steigernde Atmosphäre mit dem ständigen Gefühl von Unheil und Bedrohung. Das Vermählen von Horror und Wissenschaft zieht sich durch den Film und Lovecrafts Werk (From Beyond, Jenseits der Mauer des Schlafes). Dies wird hier in retrofuturistischem Design des Labors und dem Ziel der Schlafstudien im weiteren Filmverlauf deutlich. Die Ambivalenz der Wissenschaft zwischen Neugier, Hilfsgedanken und einem “ zu weit gehen“ trägt viel zur Handlung bei.


Die Frage der Realität und was das eigentlich ist bezieht der Film auf Referenzen zum Werk von SF Autor Philip K. Dick, was sich wie in unserem Bewusstsein manifestiert fußt auf C. G. Jung und seiner Traum- und Selbstanalyse. Letzteres dürfte Lovecraft eher weniger gefallen haben, da er Freud und Jung nicht besonders geschätzt hat.


Das gesamte Setting und die sehr gute Ausstattung des Filmes lassen eine exakte zeitliche Einordnung nicht zu, eine gewisse Desorientierung und Zweifel am gesehenen ist gewollt und gut umgesetzt. Der Film kommt mit wenigen Personen aus, aber auch die gesamte Szenerie ist gewollt meist menschenleer und unheimlich. Das alle Träumer im Schlaflabor am Ende Ihrer Träume im REM Schlaf immer derselben unheimlichen Gestalt begegnen, einer Art großem schwarzen Mann mit leuchtenden Augen verquickt erneut Wissenschaft mit alten Mythen, da solche Erscheinungen tatsächlich Bestandteil der modernen Schlafforschung sind. Das in Träumen Gefahren lauern, ist ein typischer Topos bei Lovecraft (Hypnos).


Das Motiv der Schlafparalyse - ein ähnlicher Zustand widerfährt dem Protagonisten in Polaris - ist ebenso Gegenstand der heutigen Forschung, die noch in den Anfängen steckt. Bei Lovecraft führen Träume ins Grauen (Träume im Hexenhaus) oder sollen Verheißung bringen (u.a. Der silberne Schlüssel), diesen Spagat hat auch der Film zum Thema. Der Film erschafft einen hypnotischen Sog, wir steigen in die psychologischen Untiefen des Bewusstseins und Fiebern dem Finale entgegen.

Cinematographische Notizen

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Eine bestimmte Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mächten muss vorhanden sein, und es muss eine Andeutung jener schrecklichen Vorstellung des menschlichen Verstandes geben....

(H.P. Lovecraft /Das übernatürliche Grauen in der Literatur).

Regisseur Anthony Scott Burns drehte den Film in Kanada mit einem geringen Budget von knapp 1 Mio. Dollar und viel Engagement von allen Beteiligten. Es ist erst sein zweiter eigener Langfilm. Er hat in Personalunion die Story mitentwickelte und geschrieben, an der Musik ist er als Pilotpriest beteiligt und hat Kamera und Schnitt selbst übernommen. Beeinflusst wurde er bei der Storyentwicklung von einer Studie zur Sichtbarmachung von Gehirnaktivitäten der Uni Berkeley, einer Dokumentation über Alpträume und Schlafparalyse (The Nightmare / Die Doku gibt es auf Youtube zu erwerben) und seines Studiums der Werke von C.G. Jung. Letzterer lieferte auch die bedeutsamen Kapitelüberschriften (Persona, Shadow, Animus and Anima, Self) für die vier Abschnitte, in die der Film gegliedert ist sowie den psychologischen Überbau für das Ende.


Produziert wurde der in Alberta hauptsächlich nachts gedrehte Film unter anderem von Regisseur Vincenzo Natali (Cube/Splice).


Die relativ lange Drehzeit von 60 Tagen nach langem Casting nutzte er vor allem, um seine Schauspieler und die Crew einzustimmen und zu proben.


Die schauspielerischen Leistungen sind alle gut, insbesondere die exzellente Hauptdarstellerin Julia Sarah Stone schafft es, den Zuschauer in Ihren Bann zu ziehen, mitleiden zu lassen und durch den Film zu führen. Ihr mitnehmendes Spiel ermöglicht viel der melancholisch-düsteren Grundstimmung.


Referenzen im Film sind mannigfaltig verteilt, Romeros Nacht der lebenden Toten läuft im Kino, ein Terminator und ein Immer Ärger mit Bernie Poster sind zu sehen, der ganze Film ist in Stil und Optik sehr an die frühen Werke David Cronenbergs angelehnt. Der Film wurde von den Kritikern gelobt und war auf dem Sitges Film Festival als bester Film nominiert. Das Ende hat gelegentlich polarisiert und als einziges ernste Kritik erfahren (dazu später mehr).


Die Brotkrumen zur Lösung der rätselhaften Geschehnisse sind überall verteilt.

Es sind viele Ideen und faszinierende Konzepte im Film.

Für den Fan von Filmen zum Mitdenken wird es sicher nicht langweilig. Inszenierung, Wendungsreichtum und die Faszination für das Unbekannte halten bis zum Finale die Spannung aufrecht.

Der Film ist zum streamen z.B. auf Prime und i-Tunes oder als Bluray von Koch Media erhältlich.


Aber wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe? Eine etwas persönliches Fazit.

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Atmosphäre ist das Allerwichtigste, denn der maßgebliche Prüfstein der Glaubwürdigkeit ist nicht die Gliederung einer Handlung, sondern das Erzeugen bestimmter Gefühle.

(H.P. Lovecraft / Das übernatürliche Grauen in der Literatur)

Dieser Prämisse Lovecrafts folgt der Film hervorragend.


Der Film ist langsam und stimmungsvoll erzählt. Wer schnelle oder allzu blutiges von dem Film erwartet, wird enttäuscht werden. Die Metamorphose der Hauptfigur Sarah von der Getriebenen über die Suchende zur Erkennenden ist mitreißend und fesselnd. Es ist bemerkenswert, wie gelungen diese kleine Produktion insgesamt ist.


Aber das Ende.... Dieses spaltet und kann auf den ersten Blick zunächst etwas unterwältigend und verwirrend, ja billig konstruiert wirken. Der Schlüssel zum Tor der Träume (Grüße an Randolph Carter gehen raus) ist hier ein Handy - Minispoiler - okay; die unheimliche Waldsequenz kurz vor dem Finale ist klasse umgesetzt und echt unheimlich, aber dann kommt das finale Finale und mir entfuhr erstmal ein „Echt jetzt?“.


Nach der ersten Filmsichtung war ich in der Stimmung: 95 % des Films sind großartig aber dann ein seltsames Ende. Wirklich? Ehrlich gesagt ging mir der Film nicht mehr aus dem Kopf und ich musste ihn verdauen - oder ins Unterbewusstsein lassen? - und hab ihn dann nochmal angesehen. Klar, nicht jedermanns Sache, akzeptiert. Man kann auch einfach hundert hypnotische Minuten Traumtrip genießen und den Plot-Twist als schlechte Auflösung abhaken. Das ergibt immer noch einen guten Film.


Letztlich ist das Ende sehr konsequent und kein übliches „ein-Twist-geht-noch“-Unsinnsfinale, wie sie so häufig produziert werden. Es erschließt sich nur nicht sofort, für mich erst bei der Zweitsichtung. Der Film gewinnt mit der Zeit, er arbeitet nach und fordert heraus. Welcher Film geht einem im Zeitalter der vergessenswerten Blockbusterschwemme tagelang durch die graue Masse und will durchdacht, nachgedacht werden? Die Beschäftigung mit seinen vielen Ideen, Hin- und Verweisen und Denkanstößen vermehren die Tiefe der Geschichte und lässt ihn und das Ende in neuem Licht erscheinen.


Das kommt Lovecraftlesern irgendwie bekannt vor, denke ich. Für mich daher: Ein sehenswerter, hypnotischer, audio-visueller Trip ins Unterbewusstsein einer surrealen Traumwelt. Ein wunderschöner Alptraum von einem Film.