Lovecrafter Online – Buchrezension: In einem dunklen Spiegel (Erzählungen) von J. Sheridan Le Fanu
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Alex -
17. Juli 2023 um 12:00 -
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Mit Joseph Sheridan Le Fanus In einem dunklen Spiegel erscheint der nächste Horrorklassiker in der von Andreas Fliedner herausgegebenen Reihe Festa Weird Fiction. In der Übersetzung von Michael Siefener liegt sie zum ersten Mal vollständig in deutscher Sprache vor.
Ein Klassiker zwischen Romantik und Moderne
In einem dunklen Spiegel ist im Gegensatz zu anderen Bänden der Weird-Fiction-Reihe gewissermaßen vorkuratiert: Die Zusammenstellung der Erzählungen nahm Le Fanu ein Jahr vor seinem Tode selbst vor. Unter dem Titel In A Glass Darkly erschien sie 1872 als Sammelband in London. Die Edition vereint fünf Erzählungen Le Fanus aus den 1840er bis 1870er Jahren. Gerahmt werden sie durch die Figur des deutschen Arztes Dr. Martin Hesselius, dessen gesammelte medizinische Fallberichte, post mortem von seinem Sekretär durchgesehen, sie darstellen. Im Grunde handelt es sich also um Binnenerzählungen, und gemeinsam ist ihnen jene begleitende Kommentierung durch Hesselius und dessen Sekretär, die ein Spannungsverhältnis zwischen modernistischer Ratio und schauerromantischer Tradition kennzeichnet. Hesselius ist ein Anhänger des schwedischen Wissenschaftlers und Theosophen Emanuel Swedenborg, der eine geistige Grundlage aller physischen Gegebenheiten annahm. Die Berichte chargieren – wie für die noch nicht ganz von Magie und Mystik emanzipierte Medizin seiner Zeit gar nicht untypisch – zwischen naturwissenschaftlichen und metaphysischen Schlussfolgerungen; das Nervensystem spielt hier eine Rolle ebenso wie das postulierte "dritte Auge", das dem Menschen den Blick für die Geisterwelt öffne. Le Fanu nimmt hier bereits einen zentralen Punkt des fünfundzwanzig Jahre später erschienenen Romans Dracula von Bram Stoker vorweg: Die Konfrontation der dämmernden, aufklärerischen Moderne mit archaischen Mächten, bei der nicht immer ganz klar ist, ob übernatürlicher Fluch oder somatische Erkrankung die Figuren heimsucht.
Zwischen Medizin und Okkultem
Die ersten zwei Kurzgeschichten – bzw. eben "Fallberichte" des Dr. Hesselius – drehen sich um die Heimsuchung eines jeweiligen Patienten durch schattenhafte Wesen unklarer Herkunft. In Grüner Tee sieht sich ein englischer Geistlicher mit einem schwarzen Affen konfrontiert, den nur er erblickt und der zunehmend sein Leben durcheinanderbringt. In Der Plagegeist erscheinen einem ehemaligen Seemann merkwürdige Geräusche und geisterhafte Manifestationen, die in Verbindung mit seiner Vergangenheit zu stehen scheinen. Le Fanu nimmt hier ein Motiv vorweg, das vor allem durch Guy de Maupassants Der Horla (1886) prominent geworden ist: die Getriebenheit des Besessenen, bei dem nervliche Krankheit und heimsuchender Dämon nicht mehr zu unterscheiden sind. Die "medizinischen" Gründe – Nervenkrankheit, gewisse Substanzen – oder aber das eingeholtwerden durch die eigene Vergangenheit? Le Fanu bleibt enigmatisch, das ist sein Rezept. Auch in der dritten Erzählung, Richter Harbottle, ereilt die Titelfigur ihr Schicksal scheinbar als Konsequenz ihrer Taten – der erbarmungslose Richter sieht sich, der Realität rätselhaft entrückt, selbst in einem obskuren Gerichtsszenario inmitten phantasmagorischer Gestalten angeklagt.
An der Zeitenwende
Die zahlreichen Details der "Berichte" des Dr. Hesselius erfordern – für Kurzgeschichtenverhältnisse – ein klein wenig Sitzfleisch. Sie sind unökonomischer und weniger pointiert als etwa die von M. R. James – dessen Modernität im Vergleich deutlich aufscheint. Gleichzeitig fehlt ihnen jenes Sich-Einspeisen selbst kleinster Einzelheiten in einen Kosmos allumfassender Obskurität, wie es etwa die Werke der kontinentaleuropäischen Kollegen Meyrink oder Grabiński kennzeichnet. Vielmehr ähnelt Le Fanu hier seinem Landsmann Bram Stoker – und bleibt literarisch eher konventionell. Es erscheint möglich, dass Lovecraft genau dieser Aspekt an Le Fanu abstieß und er die Innovationen und einnehmenden Bilder des Iren folglich nicht zu schätzen in der Lage war. Lovecraft schreibt in den wenigen Worten, die er über Le Fanu verlor, von eher vernachlässigbarer, mittelmäßiger Gothic Fiction (während er James über alles schätzte). Erneut entpuppt sich hier jene Zeitenwende, an der die Hesselius-Berichte geschrieben wurden, als Auslöser von Unverständnis. Umso wertvoller erscheint die Lektüre Le Fanus hingegen, bedenkt man diese merkwürdige Position seines Werkes kurz vor der Karriere der (zeitgenössischen oder späteren) Genrestars Stoker, James, Dunsany, usw. mit.
Ganz über einen Kamm scheren kann man die Sammlung In einem dunklen Spiegel hingegen auch nicht. Das liegt einerseits an den unterschiedlichen Entstehungszeiten der Episoden, andererseits an den unterschiedlichen Erzählenden: Hesselius und sein Sekretär sammeln und kommentieren zwar, aber bis auf Grüner Tee sind die Berichte von jeweils anderen Personen verfasst. Das hat zur Folge, dass sich der Roman Das Zimmer im Dragon Volant ganz anders gestaltet als die drei vorhergehenden Segmente. Er dürfte die Geister spalten: Einerseits trumpft das Kammerspiel mit liebenswerten Goth-Motiven und überbordendem Detailreichtum auf, andererseits werden die Lesenden mit erratischem Spannungsbogen und allgemeiner Vorhersehbarkeit selbst umgehen müssen. Wenn das klappt – und mitunter ist es eine individuelle Lesestärke, und keine -schwäche, nicht immer allzu viel vorhersehen zu müssen – dann erwartet einen im Dragon Volant skurriler und in vielen Situationen archetypischer Mysterygenuss.
Nur Vampirinnen küssen blutig
Lesbische Vampirinnen. Das ist es, womit Le Fanu allgemein seinen Einzug in die Genrekultur gehalten hat. Vor allem die Filmtrilogie Gruft der Vampire, Nur Vampire küssen blutig und Draculas Hexenjagd, mit denen die britischen Hammer-Studios in den 1970er Jahren berühmt-berüchtigte Adaptionen des Stoffes produzierten, hat das Motiv populär gemacht. Die Literaturvorlage wird hier ebenso um die meisten Elemente entkleidet wie die Figuren – von Le Fanus Carmilla bleibt wenig übrig. Die Übersexualisierung lesbischer Liebe für den (auch) männlichen Zuschauer ist eine Konstante jener Genre-Schmuddelecken, die bis heute scheinbar kein Verkaufsargument eingebüßt hat. Vampirismus, ohnehin gerne und oft als metaphorischer Transporter für sexuelle Begierde, Körperlichkeit und Übergriffigkeit interpretiert, scheint da die perfekte Ergänzung für einen ansehnlichen Cocktail aus Erotik und Horror zu sein. Carmilla ist nichts davon. In subtilen Untertönen getüncht, forschend, fragend, wenig aufdringlich präsentiert Le Fanu hier die Annäherungen der titelgebenden Gräfin und der Erzählerin Laura. Und irgendwie unschuldig. Fast tapsig. Zu Le Fanus Zeiten mag das dennoch als frivol gegolten haben, dennoch sind wir hier weit entfernt von dem meisten, was kommende Generationen in Schrift und Bewegtbild aus dem Motiv gemacht haben.
Fazit
"Weird Fiction" ist Le Fanus Literatur Genrekenner S. T. Joshi zufolge nicht. Lovecraft wusste den Iren nicht mal ansatzweise mit seinem eigenen Ansatz "kosmischen Horrors" – der oft als Blaupause "weirder" Schriftstellerei begriffen wird – in Verbindung zu bringen. Dennoch erscheint die Neuveröffentlichung von In einem dunklen Spiegel in Festas Weird-Fiction-Schriftreihe keineswegs unpassend, wurde doch mit den frühen Erzählungen Bram Stokers bereits deutlich gemacht, worum es geht: Über die einschlägig assoziierten Werke hinaus das "Weirde" auch außerhalb des Kanons zu suchen; Fluchtlinien, Spuren und frühe Ideen aufzuspüren und sichtbar zu machen. Und das gelingt ein weiteres Mal.
Das Buch In einem dunklen Spiegel wurde uns freundlicherweise vom Festa Verlag zur Verfügung gestellt.
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