Lovecrafter Online – Filmkritik: Cold Skin


Hans Scheibler ist ein auffällig unauffälliger Typ Mensch. Der etwas anachronistische und distanzierte Fabrikantensohn mit einer Vorliebe für angestaubtes Vokabular wird von seinem Vater mit finanziellen Hintergedanken zur eigensinnigen Tante Lilly in das noch eigensinnigere Vettseiffen geschickt. Deren auf Groschenromane spezialisierter Oclave-Verlag hat ein seltsames Problem: Unregelmäßige Lochungen durchziehen den Textsatz. Und da Hans Scheibler schon einmal mit Lochkarten zu tun hatte, soll er sich des Problems annehmen.
Vettseiffen? Die Erinnerungen Scheiblers an seine gelegentlichen Besuche sind eher unangenehm und schon das Sprichwort „Vettseiffen, Vettseiffen, da scheißt der Teufel Fett und Seifen“ verspricht nichts Gutes. In der Tat entpuppt sich der Ort, der zum heimlichen Hauptcharakter der Erzählung wird, als ein verschlossener und rundum ungesunder Platz. Adam Hülseweh, Beziehungsweise seine schreibende Hand: Ina Elbracht [https://elbracht.blogspot.com], gelingt es nicht nur, den seltsamen Hans Scheibler detailliert und vielschichtig zu präsentieren, sondern auch den seltsamen Ort in der Eifel. Es sind die zahlreichen Details und Hintergrundschichten, die Vettseiffen zusammen mit einem kreativen und gewitzten Schreibstil zu modrigem Leben erwecken. Die Absurdität des Ortes fährt uns gewissermaßen in die Knochen, kann aber auch das ein oder andere Lächeln hervorrufen, ohne dabei albern zu werden. Mit der absurdeste Ort ist vermutlich das modernde Antiquariat von Jean-Paul Marcuse: Dem vielleicht einzigen Antiquariat, das gar kein Interesse an Verkauf hat und dessen Bücher aus dem Eigenverlag auf ewig ungelesen bleiben werden. Umso spannender, dass sich gerade dieser Ort an ein reales Vorbild anlehnt.
Mysteriöse Orte sind dabei ebenso typisch für Das Vexyr von Vettseifen wie Elbrachts Spiel mit Sprache und unseren Leseerwartungen. So wird das modernde Antiquariat vermutlich schnell überlesen, bis wir Anteil daran haben, wie Hans sich wundert, dass er ebenfalls modern statt modernd gelesen hat. Elbracht ist uns Lesenden sprachlich immer einen Schritt voraus und spielt gekonnt mit unseren Lesegewohnheiten und der Sprache. Kaum ein Charakter, der nicht durch einen eigenen Sprachstil oder Dialekt auffiele, kaum ein sprachliches Detail, das nicht bewusst platziert wäre. Ja selbst das Thema der Lochkarten wird durch eine auffällige Auslöschung einzelner Buchstaben im Textbild aufgegriffen. Ein Effekt, der das Lesen zwar leider etwas stocken lässt, aber noch lange in Erinnerung bleiben wird. Spätestens wenn sich Hans selber ans Schreiben eines Groschenromans im Roman macht, einen ersten Entwurf verwirft, sich für seinen Stil rügt und einzelne Stilblüten fortan auch im Haupttext sichtbar korrigiert werden, dürften bei den meisten Lesenden die Hirnknotungen beginnen.
Überzeugend ist dabei, dass solche – sagen wir einmal postmodernen – Spielereien mit dem Text und uns Lesenden nicht forciert wirken und meist auch in der Handlung selber relevant werden. Elbracht aka Hülseweh brilliert mit ihrer Freude am Schreiben und zieht uns so in ein morbide farbenfrohes Abenteuer, das sich als echtes Unikat liest. Die Mischung aus morbidem Grauen, gewitzten Anspielungen mit Augenzwinkern und dem bildreichen Sprachstil sind sicherlich Geschmacksache, können handwerklich aber auf ganzer Linie überzeugen. Auch im Welten- und Mythenbau ist Ina Elbracht ganz vorne dabei. Vettseiffens vermeintliche Nähe zum Hochmoor, die eigensinnige Bevölkerungszusammensetzung, selbst die Familienplanung der Bewohner*innen sind wohldurchdacht und erzeugen ein vielschichtiges Setting. Das zentrale Mysterium hingegen arbeitet konsequent mit der titelgebenden Vexyr-Idee, kombiniert diese mit Fett und Seifen und wertet so eine stellenweise erwartbare Handlung merklich auf.
Dass mehr in dem Ort und seiner Geschichte steckt als im Buch zutage tritt, zeigt sich auch darin, dass Elbracht viele ihrer Geschichten in einem lose verzahnten Universum ansiedelt. So können besonders eifrige Leser*innen in der aktuellen Cthulhu Libria Neo [https://www.blitz-verlag.de/index.php?action=buch&id=2658] mit Die Großen Alten würfeln nicht eine Art Prolog zum Roman finden, der einen Nebencharakter weiter mit Leben füllt und sogar Verbindungen zum Klungaverse andeutet, also dem ersten unter Hülseweh veröffentlichen Roman: Klunga und die Ghule von Köln [http://klunga.blogspot.com]. Und schließlich runden drei Zeichnungen von Jörg Kleudgen das Buch stimmungsvoll ab.
Das Vexyr ist in der Reihe H.P. Lovecrafts Schriften des Grauens erschienen und wirft damit natürlich die Frage auf, wie viel Arkham in Vettseiffen steckt. Die Antwort ist gar nicht so einfach zu geben. Wer Mythosreferenzen, Große Alte und eine klassische Mythos-Schematik erwartet, wird fraglos enttäuscht werden. Elbracht aka Adam Hülseweh präsentiert uns eine Geschichte, die für sich steht und nur lose Anknüpfungen zum Mythos bietet. Zuerst wäre da ein Spiel mit Erwartungshaltungen. Kaum in Vettseiffen angekommen, findet sich Hans Scheibler in einem alten Damenhaus mit zahlreichen Porzellanfiguren wieder. Die weisen aber einige Besonderheiten auf:
“Neben dem in Hans’ Augen üblichen süßlichen Kitsch von traditionellen heimischen Figuren, Tieren und Fabelwesen hatten Tante und Onkel ein Faible für die Darstellung von Fischen und Tie■seetieren gehabt und auch solchen Kreaturen, die Künstler als Mischf■rmen aus Meeres- und Landlebewesen geschaffen hatten, zum Teil ulkige Kabinettstückchen, zum anderen aber groteske Scheuß■ichkeiten, geflügelte Unholde mit Tentakeln, Insektenfühlern, menschlich anmutenden Köpfen und raupenhaft verzerrten, primatenhaften Körpern, deren Beine nicht selten in hufartigen Scheren mündeten.“ (S.23)
Abgesehen von den bereits angesprochenen ausgelassenen Buchstaben, fällt hier das Spiel mit lovecraftesquen Tropen auf. Fischwesen, Tiefseetiere, groteske Scheußlichkeiten, Mischwesen – der Bezug auf Lovecrafts Mythos dürfte klar sein. Tatsächlich wird auch später ein einsamer Verweis auf fremde, außerirdische Spezies gegeben. Die stehen aber nicht im Fokus der Erzählung und können ähnlich wie die Fischwesen eher als Anspielung oder stimmungsvolles Begleitmotiv gelten. Auch das zentrale Mysterium ist nur bedingt cthuloid zu nennen. Zumindest wird hier kein bekanntes Mythosmotiv verwendet, sondern ein „Etwas“ präsentiert, dass man durch seinen nicht-rationalen, unfassbaren Charakter dem kosmischen Horror zuschreiben kann, aber in keinen Kanon passen will. Hier wird Lovecraft dann auch stilistisch verarbeitet. Sind Stilanleihen vielleicht schon in der vorherigen Passage zu erkennen, arbeitet Elbracht bei der Beschreibung mit dem Unbeschreiblichen deutlich mit widersprüchlichen Umschreibungen, wie man sie vom Sonderling aus Providence kennt. Tatsächlich geht sie noch einen Schritt weiter und thematisiert auch das Stilmittel selber: „Zu formulieren, es wäre so, wie jemandem Geschmack und Aromen von Lebensmitteln zu beschreiben, die dieser nicht kennt, wäre völlig unzureichend, auch solche Hilfsbilder, wie Blinden Farbe erklären zu wollen oder einem Höhlenbewohner die Sonne, bleiben schattenumringt.“ (S.181)
Durch Lovecraftstilmittel und -motivik, sowie dem kosmischen Grauen kann man das Werk durchaus einer cthuloiden Tradition zurechnen. Der deutlichste Bezug kommt aber im Charakter des Dr. Lobkraft auf. Die Verballhornung von Lovecrafts Namen braucht keine weitere Erklärung. Allerdings ist Lobkraft ein weitgehend eigenständiger Charakter. Er tritt als unsympathischer Wunderheilmittelhersteller auf, der weitgehend die Rolle eines Antagonisten spielt. Man kann Lovecraft vieles vorwerfen, aber dass er mit Quacksalberei und Tinkturen zu tun hatte, gehört nicht zu seinem Klischeebild und Elbracht bemüht sich glücklicherweise auch nicht, hier Bezüge zu erzwingen. Ja, man kann sich fast fragen, warum es die Namensnähe braucht, kann mit etwas Mythoswissen aber noch verdeckte, indirekte Anspielungen auf die Nähe von Lob- und Lovecraft finden.
In einer späteren Passage schimmert aber vielleicht noch ein zweiter Zweck etwas durch, nämlich wenn sich Lobkraft als ewiggestriger Rassist und Antisemit entpuppt. Ob es diesen Seitenhieb braucht, ist fraglich, zumal er für die eigentlich mit dem sprachlichen Florett fechtende Elbracht verhältnismäßig brachial auftritt. Da es sich aber nur um wenige Zeilen handelt, dürften auch Lovecraftfans mit dieser Kränkung leben können. Die Stärken des Buches liegen zweifelsohne an anderen Stellen, nämlich da, wo ein kreativer und frischer Umgang mit dem Mythos stattfindet.
Ina Elbracht alias Adam Hülseweh ist mit Das Vexyr von Vettseiffen ein ungewöhnliches und äußerst hochklassiges Horrorabenteuer gelungen. Lovecraftianer, die eine Cthulhu-Pastiche suchen, werden zweifelsohne enttäuscht. Wer hingegen einen frischen, spielerischen Umgang mit dem kosmischen Horror schätzt, dürfte vom Buch begeistert werden. Das Vexyr brilliert dabei vor allen Dingen auf sprachlicher Ebene und ein gewitztes Spiel mit uns Lesenden. Wer Wortwitz und überbordende Kreativität schätzt, wird hier gute und niveauvolle Unterhaltung finden, die zeigt, dass der Mythos auch 2021 noch neue Wege findet um zu überraschen. Und wenn es dazu ein paar fehlende Buchstaben braucht …
Das Vexyr von Vettseiffen: https://www.blitz-verlag.de/index.php?action=buch&id=2666