Lovecrafter Online – Rezension: Metempsychosen
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AndreasGiesbert -
25. März 2024 um 08:00 -
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Irgendwann um 2020 haben sich fünf Autor*innen aus dem NightTrain-Umfeld versammelt und den Plan eines Novellenkreises geschmiedet. Das erste Ergebnis – Die Zeit der Feuerernte (2020 beim Train erschienen und 2022 bei Blitz neu aufgelegt) – sollte nicht das letzte bleiben. Mit Drommetenrot folgte 2023 ein zweiter Band, etwa ein Jahr später gefolgt von den hier besprochenen Metempsychosen.
Das etwas ungewöhnliche Format “Novellenkreis” meint, dass sich die in den Bänden versammelten Novellen bzw. Kurzgeschichten um ein zentrales Thema drehen und dabei gewisse Querverweise aufweisen. So ein Kreis ist also etwas mehr als eine Anthologie, aber auch keine streng zusammenhängende Erzählung. Das bedeutet übrigens auch, dass die drei Kreise jeweils für sich stehen und unabhängig voneinander gelesen werden können. Die eng zusammenarbeitenden Autor*innen zeichnen sich ganz grob dadurch aus, in der Tradition der Weird Fiction zu stehen, also Elemente des kosmischen Horrors weiterzuführen und dabei insbesondere die Frage nach der Realität immer wieder neu zu stellen. Und das findet sich natürlich auch in den Novellenkreisen wieder.
Zukunft 2000
Den Anfang macht eine Geschichte von Ina Elbracht. Elbracht überzeugt mich kontinuierlich durch ihre Fähigkeit, weitgehend absurde Grundannahmen mit einer Präzision so zu erzählen, dass sie zu Selbstverständlichkeiten werden. Mit sprachlicher Brillanz und Liebe für ihre Charaktere nimmt sie mich immer wieder mühelos in teils hochkomplexe Welten mit. So auch in Zukunft 2000. Hier begleiten wir eine Protagonistin, die hauptberuflich Farbexpertin ist und große Stücke darauf hält, über ein perfektes Farbsehen zu verfügen. Dafür ist sie gesichtsblind und leidet unter einem Herzleiden. Wie gut, dass es in der Zukunft 2000 Institutionen gibt, die sich um letzteres kümmern. Denen Herzen eine “Herzensangelegenheit” sind, oder – wie die Protagonistin reflektiert – vielmehr marode Herzen. Denn die Institution, in die unsere Protagonistin einkehrt, hat sich auf Herztransplantationen spezialisiert. Die Geschichte entpuppt sich letztlich als ein ewiges Wartespiel, das mit Unsicherheit, Überwachung und Ausgeliefertsein arbeitet. Die ebenso umfangreiche wie brillante Geschichte wirft Ideen, Fragen und Gefühle auf, um …
Paradigma
… sogleich in die nächste Geschichte überzugehen. In Paradigma nimmt sich WhiteTrain/NightTrain Operator Tobias Reckermann des Magiers Rastiniak an. Die Geschichte ist eine reizende Mischung aus Zukunftsvision und mittelalterlicher Mystik, die für mich durch das angedeutete Worldbuilding überzeugt. Die Magie, die Rastiniak anwendet ist detailliert und – wenn man so will – glaubwürdig entworfen. Reckermann gelingt hier eine Wanderung zwischen schneller Cyberpunk Noir Handlung und teils philosophisch-mystischer Spekulation über Realität. Ihm ist es mit der Phantastik auf eine Weise ernst, die weit über übliche Fantasy hinausgeht. Hier verändert sich die Wirklichkeit und affiziert das Spiel mit der Wirklichkeit die Charaktere nachhaltig. Dass das dann auch noch unterhaltsam gelingt, ist eine eigene Qualität.
Ich bin die Gärtnerin
Diese eigene Qualität kann man fraglos auch Ich bin die Gärtnerin von Felix Woitkowski zuschreiben. Die Geschichte hat sich unerwarteter Weise als mein heimlicher Liebling des Bandes entpuppt. Woitkowski baut eine bedrohliche Dorfkulisse aus, die aus der Perspektive einer Gärtnerin erzählt wird. Die hat die mitnichten banale Aufgabe einen stetig wachsenden eisernen Wald zu bändigen. Ihr stetiger Kampf mit der bedrohlichen Kulisse wird so immersiv geschildert, dass man Schwielen vom Lesen bekommt. Als Ausgleich verliert sich die Gärtnerin in einem Arcadespiel, dass auf faszinierende Weise mit der Handlung verknüpft wird. Allein der zweite Teil der Geschichte hat mich leider nicht ganz überzeugen können, da er die bedrohlichen Versprechen für meinen Geschmack etwas zu absurd weiterführt.
Die Mär vom vierten Wind
Den Abschluss des Novellenkreises macht Übersetzer und Autor Christian Veit Eschenfelder. Eschenfelder hat sich schon in den vorherigen Bänden durch verschachtelte und besonders anspruchsvolle Erzählweisen ausgezeichnet. Diesmal kommt seiner cyberpunkigen Geschichte zudem die Aufgabe zu, die Fäden der anderen drei Geschichten zusammenzuhalten. Auf die Gefahr hin unfair zu werden: Das gelingt für mich nicht. Es mag an meinem zerfransten und teils unkonzentrierten Lesen gelegen haben, aber mir sind die Fäden zunehmend aus den Fingern geglitten. Dabei konnten mich einige Passagen durch ihre Sprache wirklich überzeugen. Wenn es lapidar heißt: “Kein Licht, keine Fenster, keine sanitären Einrichtungen. Kein Ort für Menschen”, dann ist die an Becketts Endspiel erinnernde kalte Frage “Ob je irgendetwas wieder gut werden würde?” nicht weit. Trotz solcher Passagen und einer spannend entworfenen Welt habe ich mich hier leider einfach etwas verloren gefühlt.
Fadenspiel
In der letzten Geschichte zeigt sich ein Problem, dass auch schon die anderen Novellenkreise hatten. So ganz will das Konzept der verschränkten Geschichten nicht aufgehen. Zwar finden sich immer wieder Querverweise, diese sind aber meist assoziativ und nicht substantiell. Sie suggerieren ein Webwerk, das leider kein großes Ganzes ergibt. Schlimmer noch: die Geschichten leiden sogar etwas darunter, dass sie ihre Auflösung an die anderen Geschichten weitergeben, die diese Auflösung nicht halten können. Diese harsche Kritik soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir hier vier außergewöhnlich starke Geschichten außergewöhnlich guter Auto*innen vorfinden. Auch wenn das Projekt nicht in der gewünschten Weise aufgeht, haben wir es in allen Bänden der Reihe mit Geschichten zu tun, die auf höchstem Niveau operieren und – wichtiger noch – fernab von ausgetretenen Klischees arbeiten. Wer etwas andere Phantastik sucht, die mit gelegentlichen Schwenks ins Surreale an die Substanz geht und den ein oder anderen Webfehler verzeihen kann, der*die sollte unbedingt einen Blick auf die Reihe werfen.
Nachbemerkung: Der Fairness halber muss gesagt werden, dass ich mich dem NightTrain sehr verbunden fühle, aber hoffentlich die Arbeiten für sich sprechen lasse. Wer mehr zum Kollektiv erfahren will, findet übrigens im Lovecrafter 10 mehr über den Kleinverlag.
Metempsychosen
Blitz-Verlag, 2023
Softcover, 270 Seiten, 12,95 €
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