Ich kann das Stellen von 'provokanten Fragen' recht gut verstehen und sehe darin eine Art Ventil der selbstkritischen Beschäftigung, die hier aber mehr Dampf ablässt als notwendig.
Die etwas krude Metapher einmal aufgelöst: @Scharmützelmax: Ich werde das gefühl nicht los, dass dich die Vorwürfe gegen Lovecrafts Rassismus auch selbst stark berühren und du dich in einer Art moralischem Dilemma befindest. Bewegungen, die für mehr awareness und Aufmerksamkeit werben - auch aggressiver werben - finde ich gut, doch die von dir erwähnten Beispiele, den Namen Lovecrafts zu 'streichen' oder das Konterfei im Vereinswappen infrage zu stellen (die du, so lese ich das rein, auch nicht goutierst), hielte ich für Augenwischerei. Nicht nur ist es nicht hilfreich, die Symbole und Namen, die mit Rassismus verbunden sind, 'zu streichen'; vielmehr halte ich es für einen sauberen Diskurs, in dem man Phänomene, Konzepte, Namen etc. konkret benennen will um diese zu reflektieren, sogar für äußerst kontraproduktiv. (Stell dir vor, wir kritisieren Rassismus und keiner weiß, von wem...)
Ich habe nicht die Zeit gehabt, sämtliche Links durchzusehen, möchte aber den HBO-Artikel mal auszugsweise kommentieren.
Zitat
Lovecraft leaves no room for a debate about separating the artist from their art.
Das sehe ich anders. Zwar sind rassistische Stereotype bei vielen der Geschichten Lovecrafts omnipräsent und gerade im Lichte antirassistischer und awareness-mäßiger Denkkonstrukte auffälliger, dass man solch elementare Eigenschaften wie seinen Rassismus aber eher sekundär betrachten kann, zeigen die Beschäftigungen anderer Lovecraft-Lesegemeinschaften z.B. im Ausland (und ja, ich bin mir der Ironie meines Kommentars bewusst, wenn ich von 'Lovecraft'-Lesegemeinschaften schreibe^^). In Mexiko, Ecuador etc. z.B. wird auch Lovecraft gelesen (und das, obwohl die Südamerikaner*innen bei ihm auch nicht gut weg kommen, das wissen die), und liegt der Fokus der Horror-Rezeption weniger auf der xenophoben Angst, sondern vielmehr auf der Angst vor Vereinsamung in einem endlosen Kosmos (was m.E.n. mit dem vitalistischem Bild von lebendigen Farben und hunderten Arten weniger zusammenpasst, aber da sind kulturelle Unterschiede ja sehr spannend).
Die rassismuskritische Rezeption Lovecrafts ist mir eine richtige und wichtige. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sie besonders präsent in weißen, westlichen Mehrheitsgesellschaften ist, die langsam beginnen, ihr koloniales Erbe zu reflektieren. Wir lesen Lovecraft oft unter einer anderen kulturellen Brille als andere und hier die Texte auf die whiteness des ängstlichen Autors zu reduzieren, würde den Rezeptionstendenzen anderer Kulturen nicht gerecht.
Ich kann die Aussage Matt Ruffs hier daher nur unterstützen:
Zitat
“In giving vent to his bigotry, he taps into a larger fear that I think we all have of people who are different from us and mean us no good,” he said. “It’s one of the reasons you can take his stories and repurpose them. ... He may not have realized the universalism of some of what he was writing about, but I can take that away from his work.”
Die Angst vor dem Anderen, nicht zwangsläufig die Angst vor anderen Menschen, Kulturen, etc., sondern schlichtweg die Angst vor der Irritation, die eintritt, wenn das Weltbild zusammenbricht, wenn sich zeigt, dass man in einer anderen Welt lebt, als man diese sich vorgestellt hat und dass man - da widerspreche ich LaValle (der sagt, dass diese 'narzisstische Angst' der Weißen Schwarze nicht betreffe) entschieden - nicht Mittelpunkt der Welt ist, ist eine, die alle betrifft und mit der alle umgehen müssen.
Spezifisch bei HPL zeigt sie sich als kultureller Intertext einer verängstigten white-privilege-Gesellschaft, die weiß, dass sie ihren Reichtum durch Diebstahl erworben hat, die ihre heterogene Identität (selbst als Zuwanderergesellschaft) primär durch Abgrenzung und diffuse Begriffe definiert. Sie zeigt sich aber auch im präviktorianischen England, das um 1700 - 1800 mehr und mehr vom biblischen Weltbild wegrückte und mit Geologie und Paläontologie Zeiträume eröffnete, die die Genesis-Geschichte einfach verschluckt hätten. Sie zeigt sich in der religiösen Panik des Klerus, der sich dem heliozentrischem Weltbild gegenüber sah. Sie zeigt sich sogar in den traumatisierenden Begegnungen des Kleinkindes, das zum ersten Mal einsehen muss, dass nicht jeder Gedanke und jeder Schrei gleich mit sofortiger Bedürfniserfüllung verbunden ist und dass es eine Milliarde anderer Kleinkinder gibt, die auch schreien. Und sie zeigt sich (wenn vielleicht auch im geringerem Ausmaß) einer Mücke, die realisiert, dass der 'Brunnen' aus dem sie trinkt, auf einmal zurückhaut und sie zerquetscht (gibt's nen schönen Comic von Junji Ito zu).
Rassismus, so denke ich, ist eine spezielle, kulturell und wissensgeschichtlich oft sanktionierte (daher so präsente) Form von Angst vor dem Anderen, Angst vor Veränderung und dem plötzlichem Ereignis. Aber sie ist keine, der man selbst wehrlos gegenüber stehen muss.
Das 'Streichen' oder Canceln scheint mir mehr eine sehr affekthafte Ausprägung butlerscher Sprachkritik zu sein.
Zitat
Und wenn man sich die Diskussion anschaut von wegen "Lovecraft streichen", der Name darf nie wieder fallen, man darf nicht mehr über den Mann reden, der ist überschätzt blablabla, dann lohnt es sich, sich darauf vorzubereiten und der Diskussion zuvor zu kommen. Vielleicht kann man selber mal so eine Diskussion organisieren?
Die Gedanken eines größeren Forums gab und gibt es bereits. Die Stellungnahme war auch ein Manöver, eine Diskussion proaktiv einzuleiten (was ja, wie man hier sieht, auch geklappt hat, Leute kommen über das Forum). Eine größere Diskussionsrunde haben wir mal besprochen, bisher aus Zeit- und Pandemiegründen jedoch noch nicht in der Planung realisieren können. Konkrete Pläne gibt es noch nicht, ich spreche für mich, wenn ich aber sage, dass ich das gerne etwas international gestalten möchte.
Ich denke - aber das ist nur meine Meinung - dass ein*e jede*r, derdie Lovecraft oder vergleichbares liest, sich auch im Klaren darüber sein muss, dass er oder sie Teil dieses schrecklichen Universums ist, und diesem nicht oppositionär gegenüber steht. Das Sprechen über elementare Ängste und ihre schlimmsten Ausprägungen ist immer auch ein Sprechen über uns selbst und über das, was wir nicht von uns sehen wollen. Der Innsmouth-touch ist eine äußerst wirksame Metapher für das Triebhafte, Unkontrollierbare und sehr Schädliche (neudeutsch: toxische) in uns, mit dem wir uns auseinander setzen müssen, von dem wir uns nicht distanzieren können.