• Ich lese Genreliteratur und die Sub-Sektion der Literaturwissenschaft, die dies tut interessiert mich, da brauche ich selten Gerard Genete oder Foucault...

    Auch wenn ich mich des Vorwurfs der Ignoranz aussetze — aber diese Aussage kann ich unterschreiben.

    — Exkurs

    Mal Hand aufs Herz, Leute: Verfügt Ihr über unbegrenzte Zeitressourcen für spezielle und allgemeine Lektüren? Ich nicht, leider … und muss allein schon aus diesem Grund selektiv vorgehen. Wie wir im letzten Beitrag von derTräumer gesehen haben, verschlingt allein die US-amerikanischen Lovecraft-Forschung erheblich Zeit und Geld. Natürlich sind die daraus entwachsenden Publikationen nicht die allein maßgeblichen. Und Lovecrafts Werk und die Rezeption kann immer wieder gegen den Strich gebürstet, auf den Kopf gestellt, aueinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden — zu beackernde Felder tun sich ja stets aufs Neue auf.

    Was mich betrifft, so verdanke ich (neben der Erschließung biografischer Quellen und der Briefe) nach wie vor der Primärlektüre die meisten Erkenntnisse. Uns und der Forschung wäre manches Fehlurteil, mancher Trugschluss erspart geblieben (Beispiele liefere ich gerne, aber nicht in diesem expliziten Joshi-Thread), hätten die ForscherInnen zuerst und vor allem ihren Lovecraft gründlich gelesen, das Frühwerk wie das Spätwerk analysiert, verglichen und den Autor im literarischen Umfeld seiner Zeit und seiner Favoriten verortet. Das aber bedeutet: lesen, lesen, lesen. Und mit der Weird Fiction ist es da noch längst nicht getan. Ich denke an so Exotisches wie The Private Papers of Henry Ryecroft, The Riddle of the Universe/Die Welträthsel oder die Sagen des klassischen Altertums

    — Exkurs Ende


  • Ich glaube, hier hast Du genau den wunden Punkt von Joshi erwischt: Für Lovecraft mag diese Vorgehensweise funktionieren. Aber nicht für alle Schriftsteller. M. R. James, beispielsweise, hatte meiner Meinung nach einfach richtig viel Spaß am Schreiben und hat sich dabei in erster Linie über die Klischees des Gothic und der wissenschaftlichen Welt lustig gemacht. Da steckt keine komplexe, umfassende Weltanschauung hinter, zumindest keine, die er gezielt dort codifiziert hätte (was natürlich nicht bedeutet, dass in den Texten "nichts drinsteckt"). Eine etwas dynamischere und diskussionsfreudigere Herangehensweise hätte genau diese Probleme im Buch entschärft.

    (Was, wenn ich es richtig sehe, das Zitat von Rahel ist).

    Dem stimme ich zu. Interessant in dem Zusammenhang sind auch James' Aussagen zu Lovecrafts Supernatural Horror in Literature. Und eine ähnlich verhaltene Reaktion ist auch von Lord Dunsany bekannt.

    An M. R. James Letter

    Ich finde sogar die Kritik an einer Überbetonung des weltanschaulichen Aspekts bei Lovecraft selbst gerechtfertigt. Nun, diese Dinge sind ohne Zweifel vorhanden, aber ich fände den Eindruck falsch, wollte man den Autor als ausgepichten Philosophen darstellen. Mir kommt gerade in dem Diskurs die Tatsache zu kurz, dass Lovecraft Unterhaltungsliteratur schrieb und in seiner Zeit durchaus auch so wahrgenommen wurde. Mich selbst spricht zum Beispiel weniger sein materialistisches Weltbild an, sondern die stilistische und inhaltliche Exaltiertheit in seinen Geschichten (eben das, was ihm von seinen Gegnern gerne als "schlechter Stil" vorgeworfen wird).

  • Nachtrag:

    Damit es nicht wie undifferenziertes Gebashe gegen Joshi rüberkommt noch ein sehr positiver Punkt:

    In seinem Vorwort zu The Letters of August Derleth to Clark Ashton Smith ist Joshi sehr wohlwollend zugunsten Derleths und zeigt viel Verständnis für dessen Bemühen um die Veröffentlichung und die damit verbundenen Probleme von Smiths Büchern bei Arkham House. Auch macht Joshi hier sehr deutlich, dass Derleth steht's versucht hat Smith finanziell bestmöglich zu helfen.

    “I couldn’t live a week without a private library – indeed, I’d part with all my furniture and squat and sleep on the floor before I’d let go of the 1500 or so books I possess.”
    H.P. Lovecraft in einem Brief vom 25. Februar/1. März 1929 an Woodburn Harris
  • Erst einmal: Danke für die spannende Reaktion und viele anregende Lektüreempfehlungen. Außerdem: Große Zustimmung meinerseits zu vielen der genannten Punkte. derTräumer, ich finde nicht, dass du Joshi "bashst" - meiner Ansicht nach hast Du berechtigte Kritikpunkte, die Du differenziert darlegen konntest. Und den ganzen Mann hast Du damit jetzt auch nicht in die Tonne geworfen. Denn, ganz richtig: Niemand hat so viel für die Quellenarbeit getan.

    Da inzwischen mehrfach die Wissenschaften und die "-ismen" aufkamen: In der Tat, die "-ismen" sind out. Das ist ein Trend, der in den 70ern begann, in den 80ern Fahrt aufnahm und seit den 90ern beschlossene Sache ist - genau das gilt übrigens als Anfangszeit der Kulturwissenschaft. Weg von den rigiden Schubladen und hin zu einem interdisziplinäreren, anpassungsfähigeren Umgang. Beispielsweise ist die rigide Institutstrennung (Germanistik/Anglistik/Amerikanistik/...) seitdem nicht mehr ganz so beliebt; Unis, die nach dieser Zeit gegründet wurden, haben diese Trennung nicht mehr (bspw. Universität Siegen).

    Wer die Zeit hat für allgemeine und spezielle Lektüren ( Arkham Insider Axel) hat? Ich :D Weil es mein Job ist. Das erwarte ich aber auch nur von solchen akademischen Sesselpupsern wie mir (habe ein sehr kritisches Bild auf die Universität). Oder eben Leute wie Joshi, dessen Job es ebenfalls ist, nur von einer anderen Warte kommend. Ich glaube aber, genau daher kommen einige meiner Kritikpunkte:

    • Ich sehe, dass bei anderen Schriftsteller*innen deutlich besser zwischen den verschiedenen Instanzen (allgemein/speziell; akademisch/populärwissenschaftlich; etc.) kommuniziert wird. Ganz klar: Das sind dann Schreiberlinge, die fest in unserer Kultur verankert sind (bspw. Goethe). Ich würde mir wünschen, dass dies auch mit Autor*innen aus dem Bereich Horror/Gothic/Dark Fantasy/etc. gelingen würde, und eben speziell bei Lovecraft. Genau das ist aber vielleicht ein Beitrag, den eine Institution wie die dLG samt ihrer heterogenen Zusammensetzung leisten kann?
    • Joshi schießt sich für mich zu sehr auf die "gute" Weird Fiction ein und vernachlässigt/basht alles, was er als "schlecht" abtut. Das ist eben wieder so eine eingeschossene Sichtweise, die mich bei jemandem, der offensichtlich so viel Zeit mit dem Lesen der verschiedensten Primär- und Sekundärtexte liest, ärgert. Axel, Du nennst einige tolle Beispiele für "exotische Weird Fiction"; ich würde hier (mal wieder) den Verweis auf nicht-literarische Genres (bspw. der Comic; Videogames) sowie auf Strömungen des späten 20. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts legen --> das, was man gelegentlich als "New Weird" bezeichnet. Genauso passt zu dem Problem aber auch Niels’ Verweise auf diesen Komplex Joshi-Haefele-Pugmire-Derleth. Joshi lässt weder diese Primär- noch Sekundärbeispiele zu - schade! Demnach wäre es nämlich bereits der letzte Nagel im Sargdeckel der Weird Fiction gewesen, die mit diesem abschließenden Urteil nun stagniert; wo keine weitere Kulturschaffenden mehr etwas hinzuzufügen haben; wo quasi alles gesagt wurde, was gesagt werden muss.

    Dass Joshi wichtig für die Lovecraft-Forschung ist: Keine Frage. Aber da muss frischer Wind rein - insbesondere eben in die Aufarbeitung, die jenseits der Quellenforschung geschieht.

  • Klinger hat mit seinem kommentierten Lovecraft (so lesenswert der auch ist) natürlich nichts anderes gemacht als das, was Joshi bzw. Cannon schon in den 1990ern mit den The Annotated H. P. Lovecraft-Bänden vorgelegt hatten.

    Hm, da würde ich gerne genauer hinschauen. In meiner Erinnerung unterscheidet sich der Kommentierungsstil und die Dichte der Anmerkungen erheblich. Ad hoc belegen kann ich meinen Eindruck jedoch aus dem Kopf nicht.

  • Überschneidungen gibt es bis ins Detail. Zum Beispiel "Das Grauen von Dunwich"/"The Dunwich Horror", s. im Klinger (deutsche Ausgabe) S.418/419, FN14 bis 16 und den "Annotated Lovecraft" (Dell), S. 115, FN 32, 33 und S. 117, FN 38. Es wird jeweils erklärt, was Mariä Lichtmess bzw. Candlemas ist und was es mit dem alternativen Namen des Fests auf sich haben könnte (allerdings zwei Deutungen). Dann wird jeweils erklärt, was das Alderney Rind ist …

    Die angesprochene Dichte unterscheidet sich natürlich. Die Joshi/Cannon-Bücher sind 08/15-Taschenbücher mit einem geizigen Satzspiegel, der Klinger ist vom ganzen Format darauf angelegt nicht nur Kommentare, sondern auch Bilder zu bringen. Die sog. Marginalspalte in diesem Türstopper verdient ihren Namen schon fast nicht mehr.

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