Lovecrafter Online – Serienkritik: True Detective - Night Country
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Michael H. -
8. April 2024 um 12:00 -
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Handlung
Die Serie startet am 17. Dezember in der abgelegenen Stadt Ennis in Alaska zu Beginn der Polarnacht, in der es für lange Zeit keine Sonne und damit keine natürliche Helligkeit mehr geben wird. Eine Karibuherde stürzt sich scheinbar selbstmörderisch von einem Kliff und leitet damit eine mysteriöse Ereigniskette ein. Die acht Forscher der nahegelegenen Tsalal- Station verschwinden plötzlich. Als die hartgesottene Liz Danvers als leitende Ermittlerin drei Tage später eintrifft, da eine Lieferung zur Versorgung der Station diese verlassen vorfindet, findet sich nur eine herausgeschnittene Zunge, die zudem einem/er nativen Einwohner gehören muss. We are all dead steht auf einer Tafel.
In dem kleinen Ort Ennis kennt jeder jeden. Die Ermittlungen legen dabei private Konflikte aller Beteiligten ebenso frei wie den Interessenkonflikt zwischen der ansässigen Fabrik, den Einheimischen und den Behörden. Zunehmende Fehlgeburten durch Umweltverschmutzungen, die größer werdende Armut und Rassenkonflikte gären schon länger. Es scheint so, als hätte der zurückliegende, ungeklärte Mord an der jungen Aktivistin Annie Kowtok mit den aktuellen Ereignissen zu tun. Den Fall bearbeitete bis zu seiner erzwungenen Einstellung Officer Evangeline Navarro. Danvers arbeitete vor Jahren mit der Inupiak-Kollegin zusammen, mit der sie sich inzwischen überhaupt nicht mehr versteht. Danvers hat nur wenige Verbündete im Ort, muss nun aber wieder mit Navarro zusammenarbeiten, um die Rätsel zu lösen.
Die Wissenschaftler werden in der Umgebung der Station gefunden, nackt und mit von Angst verzerrten Gesichtern und bizarren Wunden zu einem Eisblock zusammengefroren. Sie werden in der Eishalle weiter untersucht und langsam aufgetaut. Viele Fäden führen ins Nichts und einige private Probleme der Beteiligten binden zusätzliche Kapazitäten. Danvers streng naturwissenschaftliche Herangehensweise kollidiert mit der eher spirituellen Vorgehensweise der indigenen Ermittlerin. Manche Dinge sind nicht so, wie sie scheinen: Die Natives haben ebenso Geheimnisse wie die Kollegen bei der Polizei, die Minenbesitzer und die Forscher. Alle Gruppen sind verschlossen und abweisend, kaum hilfreich für die Ermittlungen.
Das Symbol der Spirale taucht immer wieder auf. Einer der Wissenschaftler ist nicht in dem gefundenen Eisblock eingefroren. Dieser Raymond Clark scheint mehr Geheimnisse zu haben und ist auf der Flucht. Danvers und Navarro versuchen, das Geflecht aus Lügen, Geheimnissen und Vertuschungen zu entwirren. Es gab wohl schon früher solch bizarre Todesfälle im ewigen Eis, die Toten scheinen in die reale Welt einzugreifen. Visionen und eine Art Ruf des ewigen Eises beeinflussen vor allem Navarro und Ihre Schwester.
Das Ermittlerinnen-Duo stößt schließlich auf ein Höhlensystem unter dem Eis und ein ewig im Permafrost eingeschlossenes, jahrhundertealtes, gefährliches Mysterium. Eine finale Polarnacht bringt die Entscheidung.
Lovecrafteske Momente
“Allein, wir wissen nicht, welch Monstren die Nacht erträumt, wenn ihre langen Stunden sich strecken, sodass nicht einmal Gott sich des Schlafes erwehren kann.”
Dieses der Serie vorangestellte Zitat entstammt dem Werk Robert W. Chambers. Es ist aus Der König in Gelb, genauer der Geschichte Der Wiederhersteller des guten Rufes. Wie schon Staffel eins der True Detective-Serie, bezieht sich die Night Country-Staffel auf das Werk von Lovecrafts dunklem Idol. Gerade den gelben König schätzte er über die Maßen: “...The King in Yellow (...),deren gemeinsamer Hintergrund ein monströses, geheimes Buch bildet, dessen Lektüre Panik, Wahnsinn und gespenstische Tragödien auslöst, erreicht wirklich bemerkenswerte Höhen kosmischen Schreckens, (…)”. (Zitiert nach: H.P.Lovecraft in Das übernatürliche Grauen in der Literatur/Golkonda).
Sowohl das Zitat als auch Lovecrafts Einschätzung ist auf Night Country anwendbar. Neben dem wirklich gelungenen Setting in Alaska der ewigen Nacht verschwimmen hier die Grenzen der Realität bei den Protagonisten, bei einigen mehr (Navarro, deren Schwester), bei anderen (Danvers) weniger. Schlaflosigkeit, ewige Dunkelheit, Konflikte und Depressionen zerren an den Nerven und der Rationalität. Ob die übernatürlichen Phänomene echt oder letztlich der Panik, Schlaflosigkeit oder einem Kälte-Delirium zuzuschreiben sind, bleibt dabei Interpretationssache.
Nicht nur mit dem schon in Staffel Eins aufgetauchten Symbol der Spirale wird im Hintergrund dezent am Worldbuilding gearbeitet. Neben dem geisterhaften Auftauchen eines gewissen Travis Cohle, des aus Alaska stammenden Vaters von Rust Cohle, finanziert noch die Tuttle-Organisation als NGO die Tsalal-Forschungsstation und die Fördermiene. Der Tuttle-Kult war in die Ereignisse der ersten Staffel der Serie verwickelt und spann im Hintergrund der Ermittlungen die Fäden, um die Aufklärung der Kindermorde zu behindern. Weitere Verweise gibt es in der gesamten Staffel, sehr deutlich nochmals im Finale. Die Suche nach Easter-Eggs ist lohnend, aber nicht erforderlich.
Wie bei Lovecrafts Geschichten kann man hier von der Handlung unabhängig und spannend unterhalten werden. Der zusätzliche Hintergrund macht aber Insider*Innen Spaß und bietet einen Mehrwert, deutet er doch eine tiefer liegende, größere Geschichte an, tiefere und komplexere Zusammenhänge. Diese könnten in der - bereits bestätigten - fünften Staffel weiter ausgeführt und dieses Netz noch größer gesponnen werden. Das ähnelt den Verbindungen in den Romanen und Kurzgeschichten und etabliert eine eigene, zusammenhängende Welt als Leinwand für einzelne Geschichten.
Die uralte, im Eis der Arktis lauernde Gefahr ist klassischer Lovecraft, der einäugige Eisbär eher an die Albino-Pinguine aus den Bergen des Wahnsinns angelehnt als an den Werken Chambers. Ganz zu Schweigen von einer von Männern angeführten Arktis-Forschungsstation. Geräusche und Stimmen im Schneegestöber, Polarlichter und die ewige kalte Weite tragen zur gelungenen Stimmung des Unheimlichen bei. Das Setting sind ebenso eher dem Werk Lovecrafts zuzurechnen: Unterirdische Eishöhlen und Gänge, mysteriöse Tode im Eis und das Aufspüren längst ausgestorbener Lebensformen. Das “She is awake”-Motiv zieht sich durch die gesamte Serie wie das Motiv des Menschen, der in einen unwirtlichen Lebensraum vordringt, forscht, freilegt und manipuliert um so eine große Gefahr herauf zu beschwören. Einige philosophische Themen wie beispielsweise die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Angesicht der kosmischen Weiten und der Konflikt Naturalismus/Spiritismus werden hier behandelt, wenn auch eher am Rande.
Cinematographische Notizen
Die Staffel wurde mit einem Budget von 60 Millionen Dollar hauptsächlich in Island gedreht, bei bis zu -23 Grad Celsius. Die stimmungsvollen Landschaftsbilder und ewigen Flächen im Eis tragen viel zur Atmosphäre der vierten True Detective-Staffel bei. Der Kopf hinter den ersten drei Staffeln, Nic Pizzolatto, hat erstmals nicht mitgeschrieben und ist - wie die Stars der ersten Staffel - nurmehr Executive Producer. Kopf der Staffel ist die mexikanische Regisseurin Issa Lopez, die sich hier von The Thing, dem Hotel aus The Shining und der Nostromo aus Alien inspirieren ließ. Die von ihr geschriebene Story mischt bewusst Elemente anderer, realer seltsamer Geschichten wie der des Segelschiffes Mary Celeste und den mysteriösen Ereignissen am Djatlow Pass dazu. Diese Geschichte wurde die Blaupause für Night Country.
Ziel war eine Spiegelung der ersten Staffel, zwei Ermittlerinnen im ewigen Eis statt der Hitze des amerikanischen Südens, eine eher von Frauen dominierte Umgebung statt des männlich geprägten Bibelgürtels und eine spirituelle statt christliche Hintergrundkulisse. Die trostlose, sonnige Weite der Südstaaten weicht der erdrückenden Enge der geschlossenen Gemeinschaft einer im Eis gefangenen Stadt in ewiger Dunkelheit. Dieses dunkle Setting wird durch eine passende Songauswahl gestützt und entgegen mancher Kritik empfand ich den Titelsong der - zugegebenermaßen omnipräsenten - Billie Eilish durchaus passend zum Ton ("When we all fall asleep - where do we go?") und Inhalt von Night Country. Dazu kommen gut arrangierte und eingesetzte Songs, z. T. mit Trommeleinsatz und nativen Musikelementen.
Neben dem Setting, den Kulissen und der Geschichte wurde ein großartiger Cast verpflichtet. Jodie Foster in ihrer ersten Fernsehserie trägt mit Newcomerin Kali Reis die Last des Großteils der Staffel. Gerade in den gemeinsamen Szenen erlebt man feinstes Schauspiel auf höchstem Niveau. Unterstützt von durchweg gelungen besetzten Nebendarsteller*Innen gelingt eine ausgewogene Balance von Krimi und Drama mit etwas Mystery, Symbolismus und Geistergeschichte.
Hinter den Kulissen kam es zu Spannungen, da dem Serienerfinder die Hinwendung zur Horror- und Geistergeschichte mit übernatürlichen Elementen nicht gefiel. Die Kritiken fielen ebenso sehr gemischt aus, vor allem die Auflösung der Geschichte erfuhr entweder viel Zustimmung oder viel Ablehnung. Da das Ende nicht alle Rätsel auflöst und nicht definitiv geklärt wird, ob Übernatürliches im Spiel war oder nur Visionen und Halluzinationen - ggfls. ausgelöst durch Schlaflosigkeit, Kälte, Hypothermie oder ähnliches - und es uns mit der Bürde der eigenen Interpretation zurücklässt, was aus einem der Hauptcharakter letztendlich wurde, weicht Issa Lopez von der üblichen Erzählweise einer Krimigeschichte ab. Für Freunde des klaren Endes im Sinne einer True Crime-Erzählung vielleicht zu viel verlangt. Das nicht alle Elemente nahtlos zusammenpassen und die Auflösung nach dem großen Aufbau des Rätsels letztendlich profaner als erwartet ausfällt, kann man legitim kritisieren. Den Unterhaltungswert des Gesehenen schmälert das aber an keiner Stelle.
Bewertung
Nach der phänomenalen ersten Staffel von True Detective lag die Messlatte viel zu hoch. Staffel Zwei versuchte etwas ganz anderes und Staffel Drei war ebenso eher mediocre. Eine Art Reboot mit der Vierten zu starten, darf daher als notwendig erachtet werden. Die Kürzung auf sechs statt acht Episoden ist Segen und Fluch zugleich. Verständlich ist die Kürzung, nachdem die Vorgängerstaffel locker zwei Episoden zu lang(weilig) war. Der Aufbau des Mysteriums und des Falles gelingen in der vierten Staffel hervorragend, die Schauspieler haben genug Zeit, ihre Rollen an den Zuschauer zu bringen und das Szenario aufzubauen. Die Dualität von spirituellen Geistergeschichte, deren Regeln von einer zugekifften Mutter von Rust Cohle etabliert werden, und der rationalen Mordgeschichte funktioniert bis zum Finale gut. Die Auflösung wirkt dann etwas profan bis billig, eher gehetzt umgesetzt und wird dem Hype nicht gerecht. Viele Verweise und Referenzen auf die erste Staffel sind gelungen und clever umgesetzt, einige wirken aber auch gewollt und künstlich eingebracht. Das dürften sie durch die beschriebene Entstehungsgeschichte als eigene Story ohne True Detective-Basis auch sein, es rumpelt da an mancher Ecke aber gewaltig.
Kommissar Zufall und Gehilfe Koinzidenz sind bizarr oft tätig. Andererseits muss attestiert werden, dass dabei unterm Strich eine mitreißende und spannende Fernsehserie entstanden ist, die blendend zu unterhalten versteht. Staffel Eins war und ist ein meisterhaftes Stück Seriengeschichte mit hohem Wiederseh-Faktor. Staffel Vier geht in die richtige Richtung, es fehlt aber definitiv an Feinschliff und Finesse; der Unterhaltungs- und Spannungswert stimmt aber. Was an brillanten philosophischen Dialogen fehlt, wird mit unheimlichen Momenten, mit einem Staffel Eins durchaus ebenbürtigen Schauspiel und dem wunderbaren Setting aufgewogen.
Time is a Flat Circle, die nächste Staffel kommt bestimmt. Schauen wir mal, wie Issa Lopez sich schlägt, wenn sie in Staffel Fünf direkt für das True Detective Franchise schreibt und sich vorher die richtigen Fragen stellt…
Fazit
True Detective: Night Country ist wie ein gelungenes Lovecraft-Pastiche. Nicht so gut wie das Original, aber sehenswert und ein spannender, großartig gespielter, eiskalter ( ) Binge-Tipp.