Lovecrafter Online – Rezension: 100 Jahre Weird Tales - Die Jubiläumsedition
-
Nils -
30. Oktober 2023 um 12:00 -
2.666 Mal gelesen -
3 Antworten
H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens von einem seiner Markenkerne abzuwenden schien. Ein herber Schlag für ein Publikum, das auf weitere Titel von Autoren aus Lovecrafts Umfeld und der unheimlichen Phantastik in deutscher Übersetzung gehofft hatte. Eine erfreuliche Trendwende ließ sich beobachten, als die Reihe nur wenig später eine Art Comeback feierte. Mit dem Zusatz ‚Limited‘ versehen, hält sie nun eine bunte Mischung aus Romanen bereit, die mit lovecraftigen Stoffen und Motiven in Verbindung zu bringen sind. Als dann Lovecrafts Gesamtwerk nebst schickem Schuber neu aufgelegt und jüngst mit Festa Weird Fiction gar eine neue Reihe ins Leben gerufen wurde, die sich gänzlich den Klassikern des Genres widmet, wurde deutlich, dass das übernatürliche Grauen im Festa Verlag einmal mehr seinen festen Platz gefunden hatte. Nun krönen Frank Festa und Hardy Kettliz diese Entwicklung mit einem Paukenschlag allererste Güte: Zum 100. Geburtstag von Weird Tales haben sie eine üppige Hommage an das ikonische Pulp-Magazin zusammengestellt. Fünf prachtvolle Hardcover-Bände in einem passend gestalteten Schuber laden dazu ein, schaurige Geschichten aus 4 Jahrzehnten zu entdecken und mehr zu erfahren über den historischen Hintergrund des ‚Unique Magazine‘.
Es ist noch nicht allzu lange her, da der Festa Verlag aus Leipzig – seit Gründung eine feste Anlaufstelle für deutschsprachige Weird-Fiction-Afficionados – sich mit der Einstellung der etablierten ReiheZwar fehlt der Edition ein Vorwort der Herausgeber, der auf ein Gesamtverständnis zielende Charakter wird jedoch durch die Beigabe einer Einführung Peter Hainings (1940 – 2007) unterstrichen. Es ist schon mehrere Jahrzehnte alt, kann aber nach wie vor als guter Überblick dienen für alle Leserinnen und Leser, die bislang mit der Historie der ‚Pulps‘ und der spezifischen Rolle von Weird Tales weniger vertraut sind. Jene auf billigem Papier gedruckten Hefte, welche unser heutiges Bild der ‚Pulps‘ prägen, begannen spätestens nach dem 1. Weltkrieg den US-amerikanischen Markt zu erobern. Günstige Magazine mit Erzählungen und Romanen hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben, wobei es seit den 1890er-Jahren in den USA vor allem Publikationen aus dem Verlagshaus Frank A. Munsey waren, die den Markt dominierten. Ob diese schon als ‚Pulps‘ bezeichnet werden können, ist umstritten (Haining subsumiert jegliche Massenliteratur unter diesem Label), in jedem Fall aber ebneten sie den Weg für Hefte wie Weird Tales. Lovecraft selbst gehörte als späterer ‚Pulp‘-Leser und -Autor bereits früh zu den regelmäßigen Käufern von Heften wie Munsey’s Magazine und All-Story Weekly oder auch Argosy; an letztere Publikation, die sich auf populär geschriebene Kurzgeschichten konzentrierte, richtete er diverse kritische Leserbriefe, mit denen er das Niveau des Blattes zu heben gedachte. Dankenswerterweise werden einige Abbildungen der Hefte beigegeben. Eine Verfahrensweise, die im Zusatzband der Edition ihre Fortsetzung findet. Doch dazu später mehr.
Geburt einer Legende
Die ‚Pulps‘ zeichneten sich von Beginn an durch thematische Festlegungen aus, um ein je an spezifischen Inhalten interessiertes Publikum anzusprechen und, wenn möglich, zu binden. Hefte wie The Railroad Man’s Magazine und Adventure feierten Erfolge bei Reise- und Abenteuerlustigen, während das Detective Story Magazine und Black Mask Anlaufstellen für Krimi-Fans boten. Publikationen wie das Western Story Magazine, das Sport Story Magazine oder das Love Story Magazine besetzten weitere Nischen. Allein, Hefte für unheimliche Phantastik gab es kaum, der Begriff ‚Science-Fiction‘ harrte noch seiner Prägung. Erst 1923, als der Absatz der ‚Pulps‘ derart an die Decke ging, dass manche Hefte statt monatlich wöchentlich bzw. statt wöchentlich nun 2x wöchentlich erscheinen konnten, kam mit Weird Tales ein phantastisches Schwergewicht an die Zeitungsstände des Landes. Lovecraft nahm das Heft zügig zur Kenntnis. Mehrere Leute aus seinem Bekanntenkreis wiesen ihn brieflich auf das neue Magazin hin (u. a. auch Clark Ashton Smith, mit dem er seit Sommer 1922 korrespondierte), sodass er ab der ersten Nummer zur Kundschaft gehören konnte. Vielen war sofort klar, dass sich hier eine Lücke für Lovecrafts Geschichten auftat, die bis dato nur in Amateurpublikationen erschienen waren. Bei anderen Heften hatte der Literatur-Enthusiast aus Providence zuvor keinen Erfolg gehabt. James F. Morton, einer seiner Freunde aus dem Amateurjournalismus, machte sich bei Herausgeber Edwin Baird besonders für Lovecrafts Storys stark. Bereits im Mai reichte HPL mehrere Geschichten ein (darunter Dagon und The Hound), die Baird alle gefielen, und es sollte nicht lange dauern, bis er in dem von Poe-Fan J. C. Henneberger gegründeten Heft zur festen Größe wurde. Da er es dort dennoch nicht immer leicht hatte, ist es gleichsam fest verbunden mit seinem Lebensthema: Dem Ringen zwischen literarischer Kunst um der Kunst willen und dem schnellen Schreiben von Kulturwaren, deren Popularität letztlich die Miete bezahlt. Entsprechend negativ hat er sich über das Heft manches Mal geäußert, so z. B. in einem Brief an C. A. Smith vom 07.11.1930: „Nur sehr, sehr selten erreichen die Geschichten in Weird Tales einen wirklich zufriedenstellenden Grad der Bedrohlichkeit […]“. Die Momente, in denen Lovecraft sich von der Redaktionspolitik oder dem vermeintlichen Geschmack des Publikums genervt zeigte, sind Legion. Dass er insgesamt massiv vom langen Atem der Heft-Macher profitierte, dies auch finanziell, gehört auch zur Wahrheit. Dass es Weird Tales selbst finanziell nie wirklich gut ging, lag neben anderen Faktoren auch in der speziellen Zielgruppe begründet. ‚Pulps‘ mit Proto-SF und unheimlicher Phantastik rangen stets um einen äußerst geringen Marktanteil, sodass die Gewinne selbst in Zeiten geringer Konkurrenz mager blieben. Die großen Abräumer der Branche waren immer Krimis, Western, Liebes- und – stets am stabilsten – Erotik-Storys. Treue Leserschaften sorgten auch für den ersten True-Crime-Boom des Jahrhunderts, allen voran ein legendäres Heft mit dem Titel True Detective.
Trotz seiner finanziell schwierigen Position dominierte Weird Tales das Genre bis in die 50er-Jahre, gab vielen heute bekannten Autorinnen und Autoren die Möglichkeit zur bezahlten Publikation und prägte mit seiner Auswahl an Geschichten und seiner ganz eigenen Cover-Gestaltung bzw. Illustrationskunst maßgeblich Inhalt und Ästhetik der Weird Fiction. Bei Haining lernen wir im Detail, wie das Magazin sich entwickelte, wie die Herausgeber wechselten, welche Rubriken es gab und wie sowohl Autoren als auch Leser zu dieser einzigartigen Publikation standen. In lockerem Ton geschrieben, verzichtet Haining auf das stupide Auflisten von Fakten, sondern gibt den kundigen Reiseführer. Manche Idealisierung und kleinere Ungenauigkeiten mag man ihm daher verzeihen, ebenso wie normative Volten und von der Forschung widerlegte Aussagen – denn heute wissen wir: Lovecraft war 1922 nicht im Gespräch für den Posten des Herausgebers, wie es Henneberger, der Lovecraft persönlich gekannt und sehr geschätzt hatte, später in seinem Leben auf Nachfrage gern zu Protokoll gegeben hat. Tatsächlich gab es Bestrebungen, Lovecraft 1924 nach Chicago zu locken, um Baird abzulösen, was dann aber aus verschiedenen Gründen nicht geschah. Auch die Behauptung, C. M. Eddys mit Lovecraft verfasster Nekrophilen-Schocker Die geliebten Toten habe landesweite Empörung ausgelöst, ist aus heutiger Sicht vielleicht skeptischer zu betrachten. Wie dem auch sei: Es gibt viel zu lernen in Hainings kleiner Gesamtschau, die es dank kursorischer Tiefe und Bebilderung ermöglicht, unkompliziert und mit hohem Unterhaltungswert den Rahmen abzustecken, in welchem die vorliegenden Storys ihre Wirkung entfalteten. Seien es die ‚Finanzakrobatik‘ eines Farnsworth Wright und die kritischen Stimmen der Leserinnen, der Einfluss der exploitativ ausgerichteten Horror-Heft-Konkurrenz oder die Übernahme der Redaktion durch Dorothy McIlwraith, die einige Neuerungen mit sich brachte, um Weird Tales in die kriegsgebeutelten 40er-Jahre zu führen. Die Einführung ist klug platziert und macht Lust sowohl auf die Geschichten als auch den Zusatzband der Edition.
Bizarr und außergewöhnlich
Gerne wird die These geäußert, es hätte den Autor H. P. Lovecraft ohne Weird Tales gar nicht geben können, und entsprechend positiv stellen sich manche der Sache gegenüber. Andere beklagen eine Einengung der Weird Fiction durch den Heftmarkt bzw. den später sich daraus entwickelnden Kleinverlagsbetrieb und hätten sich eine ‚seriösere‘ Verbreitung, mithin mehr Anerkennung durch ein bildungsbürgerliches Publikum gewünscht. Wie auch immer man sich hier positionieren mag, so kann rein empirisch gar kein Zweifel daran bestehen, dass Autoren wie Lovecraft, Robert E. Howard, Clark Ashton Smith und andere massiv von den Möglichkeiten profitiert haben, die ihnen ‚Pulps‘ wie Weird Tales boten. Wer schreibt, und dies gilt bei aller Pose auch für Lovecraft, will gelesen werden. In seinem Falle wird man gar einräumen müssen: Ohne den immensen Ruhm unter Magazin-Lesern hätte er es nie recht aus der kleinen Nische des Amateurjournalismus herausgeschafft und viele Geschichten, die heute als prägend gelten, wären vielleicht nie geschrieben oder nie gedruckt worden. Noch heute werden die ‚Pulp‘-Versionen von Lovecrafts Geschichten, trotz der mittlerweile vorliegenden rekonstruierten Urfassungen, abgedruckt, sind im Netz verfügbar, werden für Übersetzungen herangezogen. Das globale Lovecraft-Publikum kann daher nur dankbar dafür sein, dass Henneberger, Baird und Wright seine Garne immer wieder ins Blatt hoben.
Dass Lovecrafts Modus, das übernatürliche Grauen auf die Lesenden loszulassen, in Weird Tales bestens aufgehoben war, lässt sich auch erklären durch das Paradigma der Macher. Es war wohl der redaktionelle Mitarbeiter Otis Adelbert Kline – selbst Autor einzelner Storys und später Anteilseigner eines konkurrierenden Verlagshauses – der nach dem ersten erfolgreichen Jahr des Hefts einen erklärenden Text verfasste. Er findet sich im Band mit dem Zusatzmaterial. Kline weist auf den dichotomen Fokus von Weird Tales hin, der das besondere Profil des Hefts ausmachte. Gedruckt werden einerseits klassische Schauer- und Gespenstergeschichten, „okkulte Geschichten“, wie Kline sie nennt. Andererseits wird ein Forum geboten für „fantastische Geschichten“, womit Kline hier seiner Beschreibung nach das meint, was später Science-Fiction genannt werden sollte. Dies ist von hohem Interesse, denn mit technizistischen Utopien des späteren ‚Golden Age‘ haben sie nichts oder nur sehr wenig gemein. Tatsächlich war das spezifische Weird-Tales-Verständnis von ‚Fantastik‘ ausgerichtet auf die Verbindung des übernatürlichen Grauens mit Elementen der SF und damit genau auf jene Form, die Lovecraft mit seinen Geschichten und Essays in den folgenden Jahren definieren sollte.
Bereits die Titelgeschichte der ersten Ausgabe, die Festa und Kettlitz in ihrer Edition zurecht an allererster Stelle platziert haben, scheint wie gemacht für Lovecraft. In „Schlamm“, geschrieben vom unbekannt gebliebenen Mediziner Anthony M. Rud, finden sich formal und inhaltlich diverse Aspekte, die für spätere Lovecraft-Storys charakteristisch sein sollten; u. a. ist ihr möglicher Einfluss auf Das Grauen von Dunwich diskutiert worden. In vielen weiteren in der Edition enthaltenen Geschichten wird das klassische Genre-Terrain um eine dezidiert moderne Dimension erweitert. Da und dort wird hinsichtlich Form und Stimmung in Ansätzen schon hingedeutet auf umwälzende Arbeiten Lovecrafts wie Die Berge des Wahnsinns und Der Schatten aus der Zeit oder den vorwiegend in Episteln sich abspielenden Horror aus Der Flüsterer im Dunkeln. Manchmal ist es auch umgekehrt, und man liest Geschichten aus späteren Jahren, die klar von Lovecraft oder Smith beeinflusst scheinen. Das Prinzip der gegenseitigen Bezugnahme in der ‚Pulp‘-Szene ist nicht zu übersehen. Zu genießen ist dies dank der hervorragenden Gestaltung der Bände in einem Satz, der direkt den originalen Publikationen entnommen ist, sodass der Eindruck einer ‚Pulp‘-Lektüre optisch entstehen kann. Gegeben werden auch vielfach die zeitgenössischen Illustrationen.
In den Anfängen sind es weiterhin Geschichten wie „Hinter der Tür“, die eine szientifische Chronik des Grauens beinhaltet, und auch Harry Houdinis Debunking-Bericht „Die Täuschungen des gespenstischen Liebhabers“, die ‚lovecraftige‘ Wegmarken setzen. Der früh verstorbene Entfesselungskünstler schaffte es gleich mehrmals aufs Cover, einmal bekanntlich sogar mit Lovecrafts Hilfe. Zu nennen ist auch „Die Insel der Evolution“, die sich geschickt bei H. G. Wells und gängigen zoologischen Debatten bedient, um uns das Fürchten vor einem Zuviel an Wissensdurst und vor… Tentakeln zu lehren, während „Die Saat aus dem All“ von einem Meteoriten erzählt, der Fremdes auf die Erde bringt. Beide Storys stammen aus der Feder Edmond Hamiltons, einem notorischen Vielschreiber, dessen vorrübergehender Weggang während der Großen Depression das Heft schwer traf. Heute ist Hamilton vor allem als SF-Autor und Erfinder von Captain Future in Erinnerung geblieben, aber gerade seine Beiträge für Weird Tales zeigen, dass er auch ein Könner im Bereich des Unheimlichen war. Nicht zuletzt ist auch Donald Wandreis „Die Feuervampire“, wo ein ‚Experte für kosmische Lebensformen‘ einen fiesen Angriff aus dem All abwehren muss, ein exzellent geschriebenes Stück kosmischer Unterhaltung. Joseph Payne Brennans den produktiven Ekel nutzender Tiefsee-Schocker „Schleim“ hat dieses Label gleichfalls verdient, insofern sich an ihm die Nachwirkung von Lovecrafts Philosophie erkennen lässt. Wer Lovecrafts ganz eigenen Humor zu schätzen weiß, wird sicherlich Freude haben an einer Seelentausch-Satire wie „Der Teddybär des Professors“, verfasst von Theodore Sturgeon, der zu einem der einflussreichsten SF-Autoren werden sollte.
Vermessung des Feldes
Nicht zu leugnen ist jedoch, dass erstere Variante der von Kline genannten Geschichten zahlenmäßig überwiegt. Hier wartet Weird Tales mit klassischen Stoffen ebenso auf wie mit Exotisch-Märchenhaftem. Man denke hier einerseits an Bram Stoker und H. G. Wells, die beide enthalten sind und in deren Tradition sich bspw. der Anwalt Orville R. Emerson („Das Grab“) und die englische Pianistin G. G. Pendarves („Der Schwarze Mönch“) stellen. Auch „Die Insel der dunklen Magie“, eine Quasi-Robinsonade des Lovecraft-Korrespondenten Hugh B. Cave, kann herangezogen werden, ebenso wie Edmond Hamiltons „Der Mann, der zurückkehrte“. Man denke hinsichtlich der Exotik dann an Clark Ashton Smiths dekadente Fantasie „Adomphas Garten“ und an Anthony Bouchers „Der Ausgemergelte“, oder an die balladenhaft anmutende Story „Die Baghita“ von Val Lewton, der ins Filmbusiness einsteigen und das Gesicht des Horrors der 40er-Jahre durch sein Engagement bei RKO maßgeblich prägen sollte. Spinnt man den Faden hier weiter, so langt man potenziell bei der genuinen Fantasie einer C. L. Moore („Shambleau“) an, aber auch Fritz Leiber, der spätere Meister früher Urban Fantasy, gerät ins Blickfeld („Der Wolfshund“). Die 111 von Festa und Kettlitz handverlesenen Geschichten bieten eine Vielfalt an Stilen und Themen, die eine exzellente Idee von der Bedeutung des Hefts vermittelt.
Auch die ‚Modernen Meister‘, wie Lovecraft u. a. Algernon Blackwood und Arthur Machen nannte, werden einem breiteren Publikum vorgestellt, aber vor allem spätere Schwergewichte wie Ray Bradbury und Richard Matheson dürften für Überraschungen sorgen. Die beiden toben sich in bitterbösen Grausamkeiten („Kommt, wir spielen vergiften“) bzw. einer spürbar unangenehmen Heimsuchung („Feuchtes Stroh“) aus; heute sind sie eher für bahnbrechende Romane wie Fahrenheit 451 bzw. I Am Legend bekannt. Natürlich kann eine Jubiläumsedition nicht halt machen vor den großen Namen aus Lovecrafts Umfeld, sodass wir August Derleth und Carl Jacobi gleich mehrfach begegnen, ebenso wie C. L. Moores Ehemann Henry Kuttner, dessen widerwärtiger Tierzombie-Horror „Die Friedhofsratten“ erst jüngst in Guillermo del Toros Cabinet of Curiosities Verwendung fand. Lovecrafts floridianischer Freund Henry S. Whitehead gibt sich die Ehre mit einem vielleicht weniger bekannten Karibik-Horror („Die Lippen“). Richard F. Searight führt seine ‚Eltdown Shards‘ als Bestandteil des Cthulhu-Mythos ein („Die versiegelte Urne“), und auch Lovecrafts enger Weggefährte Frank Belknap Long ist zu finden. Dieser hat gleich vier Plätze erhalten. Seine bekannten Mythos-Geschichten „Die Hunde des Tindalos“ und „Die Weltraumfresser“ durften nicht fehlen – die eine gilt als erste, nicht von Lovecraft selbst stammende Mythos-Story, während die andere gleich Lovecraft selbst als fiktionalisierten Protagonisten benutzt.
Etwas weniger geläufig dürften dagegen die anderen beiden Storys sein; in „Fußgänger der Luft“ begegnen wir dem Bänkelsänger Francois Villon, während „Tödliches Gewässer“ eher in Richtung eines William Hope Hodgson sich neigt. Gleichwohl gekonnt komponiert, stellt Letztere aber mit ihrem herb-stumpfen Rassismus ein trauriges Zeugnis des damaligen Bewusstseinsstandes dar – oder sie dient als Beispiel für die Skrupellosigkeit, mit der im Unterhaltungssektor seinerzeit gewisse Themen ausgebeutet wurden, um den Hunger des Publikums nach Exotischem und Primitivem zu bedienen. Dies schlägt sich auch in Andrew Brosnatchs Titelbild der entsprechenden Heftnummer nieder. Beim bereits erwähnten C. A. Smith – immerhin abseits seiner Lyrik auch ein extrem produktiver ‚Pulp‘-Autor – könnte eine zu geringe Berücksichtigung bemängelt werden, wohingegen Fans von ‚Two-Gun Bob‘, Robert E. Howard, mit einer Mischung aus seinen typisch harten Reißern und einer „Solomon Kane“-Geschichte gut bedient werden. Auch das frühe Schaffen von Lovecrafts letztem Schüler ist zu entdecken. Gemeint ist kein anderer als Psycho-Autor Robert Bloch, der sogar mit gleich fünf Storys in der Edition vertreten ist; darunter eine makabre Schauermär um einen legendären Serienmörder („Hochachtungsvoll, ihr Jack the Ripper“) und „Die Mutter der Schlangen“, die Lovecraft sehr lobte, gleichwohl das haitianische Setting einmal mehr ideologische Fallstricke birgt. In einer Story wie „Enoch“ dagegen zeigt Bloch bereits psychologische Stärken, die seine spätere Existenz als Autor böser Kriminalromane vorwegnehmen. Hier darf nun auch ein Verweis auf David H. Keller nicht fehlen, der zwar mit einer eher unbedeutenden kleinen Erzählung Aufnahme fand und der von Lovecraft überwiegend nicht geschätzt wurde, der aber später zu einem der ersten Lovecraft-Forscher wurde und so das Feld für systematische biographische Arbeiten mit bereitete. Last but not least: Natürlich ist auch HPL selbst mehrfach vertreten, wenngleich die Auswahl eine gewisse Zurückhaltung zeigt. Hier wollte man wohl unbekannteren Autorinnen und Autoren mehr Platz gönnen, was zu befürworten ist.
So oder so stößt man aber, wie es bei Anthologien kaum zu vermeiden ist, auf bereits bekannte, teils schon vielfach veröffentlichte Geschichten. Sei es, dass diese sich in früheren Publikationen Festas finden (u. a. in den bewährten Übersetzungen von Andreas Diesel, Usch Kiausch und Malte S. Sembten) oder sei es, dass Verlage wie Heyne oder Pabel in der BRD bzw. Reclam in der DDR zu früheren Zeiten hier bereits Pionierarbeit leisteten. Dieser Aspekt sollte in der Beurteilung der nun vorliegenden Jubiläumsedition keine allzu große Rolle spielen; schließlich ist nicht jede heutige Leserin gleichzeitig Sammlerin antiquarischer Taschenbücher, und nicht jeder Weird-Tales-Interessent ist ein Festa-Abonnent der ersten Stunde. Insofern bleibt festzustellen, dass der Auswahl insgesamt eine angenehme Repräsentanz eignet, es aber auch abseits bekannter Pfade genügend Möglichkeiten gibt, neues Gebiet abzustecken. Hier fallen z. B. mit Manly Wade Wellman und Seabury Quinn zwei Giganten der ‚Pulps‘ ins Auge, die ein rein auf deutsche Übersetzungen sich kaprizierendes Publikum jüngeren Baujahrs vielleicht noch nicht auf dem Schirm hatte. Zwar könnte man sich wundern, dass Quinn nur mit einer seiner Storys um den okkulten Hercule-Poirot-Verschnitt ‚Jules de Grandin‘ vertreten ist, denn dank der verdienstvollen, durch Felix F. Frey erstellen Auflistung im Zusatzband wissen wir: Er war der am häufigsten in Weird Tales gedruckte Autor. Da seiner Herangehensweise eine gewisse Formelhaftigkeit zu Eigen ist, mag dies aber für einen ersten Eindruck vollauf genügen. Gleiches gilt, möchte man meinen, auch für Wellman. Letztlich zählen beide Schriftsteller zu den weiland vielgelesenen Giganten der Zunft, aber Vieles aus ihren Federn besteht den Test der Zeit nicht.
Auf andere Prominenz wiederum hat man gänzlich verzichtet. Von Lovecrafts Freund E. Hoffmann Price bspw. findet sich keine einzige Erzählung in der Edition. Auch den belgischen Phantasten John Flanders (d. i. Jean Ray) sucht man vergebens, ebenso den vielgedruckte Klassiker E. F. Benson oder den von Lovecraft für seinen Roman The Moon Pool sehr geschätzten A. Merritt. Der unheimlichen Lyrik immerhin hat man mit der Aufnahme eines Poems der Leah Bodine Drake eine Markierung gesetzt, und auch auf die bisweilen beliebten Streiche des Blattes wird hingewiesen (nicht wahr, Ken Gary?). Zur Auswahl bliebe gewiss noch viel zu sagen, eine größere Zahl gedruckter wie ungedruckter Beitragender muss der Übersichtlichkeit halber unerwähnt bleiben. Dass nicht alle enthaltenen Ergüsse beim heutigen Publikum noch zu zünden vermögen, ist ein stets einzupreisendes Risiko. Ein geringer Preis jedoch, bedenkt man, was zu entdecken ist. Wer unter heutigen Gelegenheitslesenden hätte je gehört von M. L. Humphreys und Henry Ferris Arnold? Vom britischen Buchhalter Rex Dolphin, der neu-englischen Aristokratengattin Greye La Spina, oder einer Mary E. Counselman, deren „Die drei markierten Pennys“ nicht selten zu Weird Tales‘ Bestem gezählt wird. Bedenkt man überdies, dass viele im englischen Sprachraum erschienene Anthologien (dazu zählt auch die aktuelle Kollektion 100 Years of Weird von J. Maberry) sich auf eine deutlich abweichende Auswahl stützen bzw. entweder weniger voluminös kommen oder den Zeitraum deutlich breiter anlegen (immerhin gibt es Weird Tales bis heute), so muss bei aller Diskussionsmöglichkeit doch ein durchweg anerkennendes Fazit hinsichtlich der Herausgeber gezogen werden. Wer ein Bild des Fundaments sich machen möchte, der findet hier eine absolut hinreichende Möglichkeit, und da einige Geschichten noch nie in deutscher Übersetzung vorhanden waren, dürften auch Kennerinnen der Materie noch umfänglich auf ihre Kosten kommen.
Tote erinnern sich
Für literarhistorisch Interessierte ist der Band mit dem Zusatzmaterial ein echtes Schätzchen. Hier finden sich tatsächlich alle Weird-Tales-Cover von 1923 bis 1954 in Farbe! Da, sehr löblich, alle KünstlerInnen angegeben sind, kann man hier nicht nur in der sich wandelnden Ästhetik schwelgen, sondern sich sogleich einen genauen Überblick verschaffen über die verschiedenen Stile der teils prominenten Cover Artists, wie z. B. Lee Brown Coye, einem späteren Buchillustrator und Wandmaler; Virgil Finlay und Hannes Bok, zwei der bedeutendsten phantastischen Magazinkünstler; Matt Fox, der bei Aufkommen der Comics das Medium wechselte; Margaret Brundage, erste Illustratorin von Weird Tales und bekannt für ihre erotischen Motive, die wohl recht verkaufsfördernd wirkten – und zu jener berüchtigten Anekdote beitrugen, nach welcher Lovecraft die schlüpfrigen Cover stets vom Heft getrennt haben soll, um diese zu entsorgen. Mindestens genauso verdienstvoll ist die genaue Auflistung der Heftinhalte, sodass alle, die tiefer in das Universum von Weird Tales einsteigen wollen, hier ihre erste Anlaufstelle zur Recherche finden.
Kernstück des Bandes sind aber zweifellos die Erinnerungstexte verschiedener für das Heft wichtiger Akteure. Diese stammen aus Robert Weinbergs noch heute gültigem Klassiker The Weird Tales Story von 1977, wobei manche der Texte schon etwas zuvor geschrieben und von Weinberg gesammelt wurden. In jedem Fall wird hier ein spannender Blick hinter die Kulissen und in den Maschinenraum ermöglicht, wenn Autoren wie Frank B. Long und Robert E. Howard oder Robert Bloch und H. Warner Munn sich erinnern, wie es damals so zuging und wie sie es aus ihrer Perspektive erlebten. Mancher Text bleibt dabei Fragment oder Vignette, andere holen weiter aus. Hervorzuheben ist hier der leider nicht im fiktionalen Teil der Edition stattfindende E. Hoffmann Price, der sich an Chefredakteur Farnsworth Wright erinnert (von Lovecraft in Briefen oft liebevoll ‚Farnie‘ genannt). Price (1898 – 1988) ist als eine der herausragenden Randfiguren der Szene zu sehen. Selbst nie so populär wie Lovecraft, Howard oder andere, hatte er als ehemaliger Soldat und Westpoint-Absolvent in den 30ern den Schritt ins professionelle Schreiben gewagt. Er tummelte sich im an Schreiberlingen nicht eben armen New York und veröffentlichte regelmäßig in verschiedenen ‚Pulps‘. Später lebte er in New Orleans, wo er sein Zeilengeld als Angestellter einer Chemiefabrik aufbesserte. Price war ein äußerst geselliger Typ, sein Vernetzungsgrad in der Szene ist unerreicht. Er gilt als einziger Autor, der sowohl Lovecraft als auch Howard und Smith persönlich getroffen hatte. Freundschaften verbanden ihn zudem mit Otis Adalbert Kline und Edmond Hamilton, aber auch mit Henry Kuttner und Seabury Quinn war er bestens bekannt. Sein Talent, Erinnerungen lebhaft in Worte zu fassen, ist nicht zu unterschätzen, und so ist den Herausgebern einmal mehr für eine kluge Auswahl zu danken.
Eine einzigartige Edition
Mit 100 Jahre Weird Tales hat der Festa Verlag eine Großtat vollbracht. Es wird der klassischen Periode des Hefts ein Denkmal gesetzt, indem viele Geschichten erstmals in exzellenten Übersetzungen vorgelegt und andere, denen man zum Teil antiquarisch hinterherjagen müsste, erneut zugänglich gemacht werden. Dazu hat man den Blick für den Gesamtkontext behalten und literahistorische Einordnungen ermöglicht. Auch dies ein gewisses Novum, gibt es doch ein deutschsprachiges Sekundärwerk zum Thema bislang nicht (Matthias Käther, übernehmen Sie). Ein wahrlich geglücktes Jubiläum, wenn es auch schade ist, dass wohl nicht alle interessierten Personen sich die Edition ins Regalstellen können, da es sich bei der schmucken Kassette und den fünf Hardcovern mit Lesebändchen um ein limitiertes Vergnügen handelt. Warum Weird Tales?, fragt Otis Kline in seinem oben zitierten Aufsatz. Wer noch zaudert, den und die kann vielleicht der Chef überzeugen. Farnsworth Wright gab einmal in einem Gelegenheitsgedicht die Antwort aus Sicht des Chefredakteurs; lassen wir ihm die letzten Worte:
„So come, ye bards and raconteurs, send him your stories creepy;
Be sure they’re weird, for if they’re not, they’ll merely make him sleepy;
Stories that bite as well as bark, convincing yarns that floor him –
There are, to him, both food and drink; all other kinds just bore him.“
- Self-Portrait (1935)
Die Edition wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.
Antworten 3