Lovecrafter Online – Filmkritik: Kill List

Zitat

Hinweis

Auch wenn das Ende hier nicht verraten wird, ist es leider nicht möglich, diesen Film spoilerfrei zu besprechen, da die lovecraftrelevanten Dinge erst im letzten Drittel des Filmes geschehen!

Empfehlung: Nur das Fazit lesen, bei Interesse den Film sichten und anschließend diese Kritik lesen. Es empfiehlt sich, den Film möglichst ohne Vorkenntnisse zu sichten.


H.P. Lovecraft schrieb seine Geschichten häufig um seine Albträume herum, baute diese in die Handlung ein oder nutzte sie als zentrale Elemente der beschriebenen Ereignisse. Regisseur und Autor Ben Wheatley verfuhr für seinen Crime-Thriller Kill List ähnlich und baute seinen Albtraum mit okkulten Elementen als Höhepunkt seines zweiten Langfilmes im Jahre 2011 effektiv ein.

Handlung

Jay ist ein Kriegsveteran und leidet an PTSD, was seine Familie mit Ehefrau Shel, selbst Ex-Soldatin, und Sohn Sam belastet. Er hat seit Monaten nicht mehr gearbeitet und die zunehmenden Geldprobleme erschweren die Achterbahn-Beziehung zusätzlich. Als das Paar mit seinem besten Kumpel und Kriegskameraden Gal bei einem Abendessen mit dessen neuen Freundin Fiona zusammensitzt, beschließen sie, einen neuen Job anzunehmen.


Sie sind ganz besondere Dienstleister: Gal und Jay sind Profikiller. Jay musste nach einem durch sein Verhalten entgleisten Einsatz in Kiew pausieren. Jetzt soll es wieder losgehen, denn sie wurden einem Klienten empfohlen. Gals neue Partnerin Fiona schlitzt währenddessen unbemerkt ein seltsames Zeichen in die Rückseite des Badezimmerspiegels der Familie… Drei Tötungen bestellen seltsame Auftraggeber per mit Blut besiegelten Vertrag am nächsten Tag bei den beiden Partnern. Der erste Job ist ein Priester, der sich extrem seltsam verhält, als er sein Schicksal erkennt.

Der zweite Job führt sie zu einem Buchhalter, der offensichtlich für einen Kinderpornographie-Ring arbeitet. Nach der Sichtung dessen Videomaterials dreht Jay durch und foltert nicht nur den Mann, sondern eliminiert ohne Absprache die Mittäter, deren Aufenthaltsort er aus dem Buchhalter buchstäblich herausgeprügelt hat. Die Ereignisse werden immer seltsamer und beunruhigender, auch im und um das private Zuhause Jays.


Ein Ausstieg aus dem Auftrag ist jedoch nicht mehr möglich und die beiden Killer fühlen sich immer mehr als Teil eines größeren, orchestrierten Geschehens. Jay wird dabei immer gewalttätiger und genießt dies sichtbar, selbst Gal kann ihn kaum noch zur Vernunft bringen. Der letzte Job soll einen Politiker treffen. Nachts auf dessen Grundstück eskaliert die Situation, als eine bizarre Kultprozession erscheint und Jay erneut seine Kontrolle verliert. Er löst damit eine Kette von Ereignissen aus, die für ihn, Gal und seine Familie direkt ins Verderben führen könnte.

Lovecrafteske Momente

Eine Krimihandlung oder Ermittlungen mit okkulten Elementen sind aus dem Lovecraftuniversum nicht mehr wegzudenken, sei es bei Rollenspiel-Umsetzungen, Videospielen oder Filmen. In seinen Geschichten finden wir diese Elemente prominent von The Call of Cthulhu über The Horror at Red Hook bis zu The Shadow over Innsmouth - um nur einige längere Texte anzuführen. Unheimliche Kultveranstaltungen und Prozessionen finden sich neben den genannten in zahlreichen weiteren Werken wie The Nameless City oder in Under the Pyramids und könnten von dort direkt in den Film übertragen werden. Sie bilden das lovecrafteske Rückgrat der Geschichte, die jedoch aus einer anderen Richtung an ihr Ziel gelangt.


Beginnend als Drama um Ehe, Freundschaft und Familie entwickelt sich das Narrativ zu einer harten Crime/Hitman-Geschichte und endet in einem okkulten Thriller mit deutlichen Folk-Horror-Anleihen. Die Verwendung von Zeichen als Hinweis für einen okkulten Hintergrund muss keinem Kultisten mehr erläutert werden. Der Film bindet dies geschickt so beiläufig wie unerklärt ein. Das Zitat des von Jay aufgesuchten Arztes über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft könnte direkt einem Essay Lovecrafts über Philosophie entstammen. Es trägt mit vielen mysteriösen, irreal wirkenden Geschehnissen zum Weirdness-Faktor der im Verlauf immer entrückter wirkenden Handlung bei.


Der Film vermittelt eine durchgehend beunruhigende Grundstimmung, wie es Lovecraft stets angestrebt hat. Die Lovecraft-Themen Religion, die Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen thematisiert der Film ebenso am Rande wie die Traumstruktur der vom Einzelnen empfundenen Realität. Ebenso werden Erinnerungen an ein literarisches Vorbild Lovecrafts wach: die Geschichten Arthur Machens (u.a. The Three Impostors). Sie sind ähnlich aufgebaut wie der Film, ähneln sie doch in der Handlungsführung und dem Verteilen der Hinweise einem Flickenteppich, der zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden will.


Auch wenn wir hier - anders als bei Machens vielen, unabhängig voneinander wirkenden Handlungssträngen - nur den Killern selbst folgen, muss der Zuschauer viel Aufmerksamkeit mitbringen, um ein vollständiges Bild aus den Versatzstücken in seinem Kopf zusammenzubauen. Die Hinweise auf die Ausrichtung der Handlung und des Finales sind beiläufig eingestreut und erfordern eine ähnliche Aufmerksamkeit wie das Entdecken der Verweise und Andeutungen in Lovecrafts oder Machens Geschichten. Bei den moralischen Eigenschaften der Killer denkt man an die Protagonisten von The Hound, für Jay später an die aus The Shadow over Innsmouth oder The Rats in the Wall. Das alles auf ein wenig erfreuliches Ende zusteuert ist offensichtlich - hier wie in den Erzählungen des Erfinders des Cthulhu-Kultes in seiner Konsequenz schockierend und bedrückend fatalistisch umgesetzt.

Cinematographische Notizen

Regisseur Ben Wheatley schrieb mit seiner Ehefrau Amy Jump das Drehbuch direkt mit den Hauptdarstellern im Hinterkopf. Ein Alptraum einer nächtlichen Prozession, die ihn gnadenlos und nicht aufhaltbar verfolgt, stellte dabei das Grundmotiv dar. Er beschreibt den Film selbst als drei aneinander geklebte Filme in einem. Viele Szenen wurden vor Ort beim Dreh improvisiert. Als Beispiel seien die vielen Streitszenen zwischen Jay und Ehefrau Shel genannt. Die Vorgabe war hier: Der größte Horror sind zwei sich anschreiende und aggressive Elternteile.


Dem gesamten Cast muss hier ein hervorragendes Schauspiel und maximaler Einsatz attestiert werden. Den Statisten, die teilweise bei strömenden Regen die teils nackten Kultisten darstellen, gebührt eine besondere Erwähnung. Die Hauptdarsteller durften ihre Figuren improvisieren und selbst gestalten, das Ergebnis ist beeindruckend authentisch. Ein wenig Humor zu der beängstigenden Grundstimmung liefern das Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller Neil Maskell und Michael Smiley, die mit MyAnna Buring eine glaubwürdige, dysfunktionale Beziehungskonstellation auf die Leinwand bringen. Der Film nimmt sich dafür die notwendige Zeit, ohne die das Finale nie funktionieren würde.


Seine Entwicklung vom realistisch gehaltenen Drama über einen kalten Thriller zu einem paranoiden Alptraum ist geschickt orchestriert. Es werden Erinnerungen an Filme wie The Wicker Man oder aus neuerer Zeit The Empty Man wach. Wheatley wollte den Kampf eines Mannes zeigen, der ohne es zu bemerken längst in einer Bärenfalle gefangen ist. Die teilweise verstörenden Gewaltausbrüche von Jay konnte der Regisseur selbst kaum ertragen (Stichwort: Hammereinsatz). Er überspringt diese nach eigener Aussage bei Zweitsichtungen des Filmes.


Der Film entstand mit einem kleinen Budget in Sheffield und konnte einige Preise auf Festivals und meist wohlwollende Kritiken einfahren. Kritik gab es meist nur am für viele unerwarteten und als unpassend empfundenen dritten Akt. Inzwischen durfte der Regisseur sein Talent für Hollywood verschwenden und den teuren Edeltrash The Meg 2: The Trench mit Jason Statham fabrizieren.

Gebt dem Mann bitte wieder weniger Budget ;-).

Bewertung

Kein Film für den Durchschnitts-Filmfan, dafür ist er zu sperrig, blutig und uneinheitlich. Der langsame Anfang ist eher ein verstörendes Ehedrama, das zu einem sehr unangenehm brutalen Killerfilm und im Finale letztlich zum okkulten, lovecraftigen Horrorfilm abbiegt. Geduld und Aufmerksamkeit vorausgesetzt, entwickelt sich hier aber ein spannender, kalter Thriller, der mit einer sehr verunsichernden Atmosphäre arbeitet. Es liegt ein verstörender, unbehaglicher Grundton vor, unterstützt von der Musik- und Tonkulisse sowie der Kameraführung. Diese filmt oft von hinten verfolgend, gerne mit der Handkamera, der Zuschauer wird so zum Beobachter und Komplizen der langsam entgleisenden Ereignisse. Man erlebt und spürt neben der extrem graphischen Gewalt einiger Mordszenen ein allgemeines Gefühl der Beunruhigung und Unbehaglichkeit, das sich bis zum alptraumhaften Finale ständig weiter in das Unterbewusstsein nagt.


Bei einer Zweitsichtung fallen die vielen Momente des Foreshadowing (Ankündigungen) auf, die bereits in den Familienszenen von Beginn an deutlich werden. Viele Szenen und Dialoge verweisen auf spätere Ereignisse, selbst wenn sie in anderem Kontext stattfinden (Fionas Beschreibung Ihrer Arbeit, verschiedene Interpretation des Verhaltens der Katze, Gespräche am Feuer etc.). Immer wieder sagt jemand im Film “Wake up” zu Jay, die Szenerien werden immer traum- bzw. albtraumhafter und unerklärlicher für die Filmcharaktere und die Zuschauenden.


Der Film gilt in Fankreisen oft als Kultfilm oder Meisterwerk, diesem Druck sollte man ihn aber nicht aussetzen. Es ist besser, ihn ohne Vorbelastung und Vorkenntnisse offen zu sehen und am Ende persönlich zu entscheiden, ob das Finale dem eigenen Geschmack und den Erwartungen entspricht oder nicht. Einem Lovecraftfan sollte das Abbiegen in den mörderischen Kultisten-Thriller keine Probleme bereiten, sind erste Andeutungen bereits im ersten Drittel erkennbar und diese Entwicklung damit konsequent. Dass viele Probleme und Wesenszüge in der traumatisierten Hauptperson Jay bereits angelegt und am Ende in aller Bitterkeit zum Tragen kommen, ist sehr lovecraftesk und entlässt die meisten Zuschauer nach Filmabschluss wohl nicht unberührt.

Fazit

Eine starke, bedrohliche Atmosphäre, eine beunruhigende Stimmung und verstörende Gewaltausbrüche in einem langsam okkulter werdenden Szenario. Der Film kann dem offenen Zuschauer unter die Haut kriechen und zu einem alptraumhaften, lovecraftesken Finale begleiten. Wie eine gute Horrorgeschichte sein sollte: ein unangenehmer Genuss.


Der Film kann auch auf Amazon/Freevee (leider mit stimmungsmordender Werbung) umsonst gestreamt werden.