Lovecrafter Online – H. P. Lovecraft wird 133 Jahre alt und wir sagen Danke!

Heute vor 133 Jahren, am 20. August 1890, wurde Howard Phillips Lovecraft geboren. Aber noch jemand – oder besser gesagt: etwas – feiert dieses Jahr ein denkwürdiges Jubiläum: Das US-amerikanische Pulp-Magazin Weird Tales, das die meisten von H. P. Lovecrafts charakteristischsten Kurzgeschichten veröffentlichte, ist 100 Jahre alt geworden. Ebenfalls vor 100 Jahren wurde in einer seiner ersten Ausgaben, nämlich jener vom September 1923, der erste Text Lovecrafts abgedruckt.


Interessanterweise handelte es sich dabei aber gar nicht um eine Kurzgeschichte, sondern um einen Brief: Lovecraft, der zuvor bezüglich seiner Kurzgeschichten einige Ablehnungen seitens anderer Zeitschriftenverlage zu verkraften hatte, musste sich erst von seinem Freundeskreis drängen lassen, es nun beim Newcomer Weird Tales zu versuchen. Dabei war er sich durchaus im Klaren, warum seine Werke bei den Verlagen selten auf Akzeptanz trafen: So schrieb er, dass er seine Erzählungen von vornherein bewusst nicht für ein breites Publikum verfasse, sondern nur für ihn selbst und seiner eigenen Unterhaltung willen. Aus alledem machte Lovecraft in dem Anschreiben, das die Zusendung fünf seiner Kurzgeschichten an Weird Tales begleitete, auch überhaupt keinen Hehl. Es ist eben dieser Brief, der in der Weird-Tales-Ausgabe vom September 1923 abgedruckt wurde, ehe je eine Kurzgeschichte Lovecrafts diese Ehre erhielt. Nicht nur wegen der ungewöhnlich forschen Direktheit des Briefes ist der Brief lesenswert, sondern auch wegen des guten Einblicks, den er in Lovecrafts eigentümliche Persönlichkeit und mittlerweile eingestellten Verdrossenheit gegenüber Zeitschriften-Verlegern gibt:


Zitat von H. P. Lovecraft in: Weird Tales, vol. 2, no. 2, September 1923, S. 80-81.

My Dear Sir: Having a habit of writing weird, macabre, and fantastic stories for my own amusement, I have lately been simultaneously hounded by nearly a dozen well-meaning friends into deciding to submit a few of these Gothic horrors to your newly-founded periodical. The decision is herewith carried out. Enclosed are five tales written between 1917 and 1923.

Of these the first two are probably the best. If they be unsatisfactory, the rest need not be read. […]

I have no idea that these things will be found suitable, for I pay no attention to the demands of commercial writing. My object is such pleasure as I can obtain from the creation of certain bizarre pictures, situations, or atmospheric effects; and the only reader I hold in mind is myself.

My models are invariably the older writers, especially Poe, who has been my favorite literary figure since early childhood. Should any miracle impel you to consider the publication of my tales, I have but one condition to offer; and that is that no excisions be made. If the tale can not be printed as written, down to the very last semicolon and comma, it must gracefully accept rejection. Excision by editors is probably one reason why no living American author has a real prose style... But I am probably safe, for my [manuscripts] are not likely to win your consideration. ‘Dagon’ has been rejected by –––, to which I sent it under external impulsion—much as I am sending you the enclosed. This magazine sent me a beautifully tinted and commendably impersonal rejection slip. [...]


„Challenge accepted“, musste sich wohl die Chefredaktion von Weird Tales gedacht haben, und nahm trotz oder gerade wegen dieses unkonventionellen Anschreibens die Erzählungen Lovecrafts an. Sobald präsentierte das Pulp-Magazin seinen Leser*innen in der Ausgabe vom März 1924 den berühmten „Dagon“; viele weitere Werke Lovecrafts sollten schon bald folgen und ihm eine Reihe von begeisterten Fans bescheren.


Es gibt viele Aspekte an H. P. Lovecrafts Erzählungen, die Leser*innen damals wie heute faszinierten und immer noch faszinieren. Drei stechen hierbei meiner Meinung nach heraus:

Allen voran steht natürlich der kosmische Horror und seine innewohnende Botschaft, dass der Mensch nicht mehr als ein insignifikantes Staubkorn im großen weiten Universum darstelle, in dem Entitäten existierten, deren Natur und Beweggründe ein Mensch nicht ansatzweise begreifen könne – der kleinste Blick hinter den Schleier führt unweigerlich zum Wahnsinn.

Eine weitere Besonderheit in Lovecrafts Kurzgeschichten ist, dass sie (von der Zeit ihrer Entstehung aus betrachtet) in der Gegenwart spielen. Die geschilderten Schrecken liegen nicht hunderte Jahre zurück und sind nun irgendwo in einer alten Schlossruine vergraben und vergessen, wie bei damaligen Schauergeschichten üblich, sondern bedrohen die Menschheit, die Leserschaft, in ihrem Hier und Jetzt.

Der wichtigste Aspekt, der Lovecrafts Schöpfung aus meiner Sicht ganz einzigartig macht und der beide zuvor genannten Eigenschaften krönt, ist jedoch, dass es sich im Grunde um ein Open-Source-Universum handelt: Immer wieder ermutigte Lovecraft nämlich seine Schriftstellerfreunde dazu, sich Entitäten, Namen und Begrifflichkeiten aus seinen Kurzgeschichten zu borgen, während er selbst das gleiche tat und die Erfindungen seiner Kollegen in seine eigenen Erzählungen einbaute. Als er davon hörte, dass Weird Tales eine Erzählung von August Derleth abgelehnt hatte, da dieser sich von Lovecrafts Mythos bedient hatte, empörte sich Lovecraft in einem Brief an August Derleth vom 3. August 1931:


Zitat von H. P. Lovecraft (3. August 1931)

Of all Boeotion blundering & irrelevancy! And what pointless censure of the introduction of Cthulhu & Yog-Sothoth – as if their use constituted any „infringement“ on my stuff! Hades! The more these synthetic daemons are mutually written up by different authors, the better they become as general background material. I like to have others use my Azathoths & Nyarlathoteps–& in return I shall use Klarkash-Ton’s Tsathoggua, your monk Clithanus, & Howard’s Bran.


Heute, über hundert Jahre später, befolgen wir, die gegenwärtige Generation der Lovecraft-Enthusiast*innen, diesen lovecraftschen Grundsatz des Open-Source-Universums immer noch. Immer mehr Menschen implementieren Lovecrafts Ideen und Schöpfungen in ihre eigenen Werke, insbesondere da seine Werke inzwischen tatsächlich gemeinfrei sind. Dies kann man nicht nur im literarischen Bereich beobachten, sondern auch und ganz besonders im cthuloiden Rollenspielbereich, der ganz entscheidend dafür war, dass H. P. Lovecraft und der Cthulhu-Mythos in der heutigen Popkultur angekommen und fest verankert sind.


Hier leistet die Deutsche Lovecraft Gesellschaft u.a. mit ihrem eigenen Rollenspielsystem FHTAGN einen richtungsweisenden Beitrag, indem sie so nah wie möglich an Lovecrafts Prinzipien der menschlichen Bedeutungslosigkeit und des kosmischen Horrors herangeht und diese dadurch am Spieltisch erlebbar macht. Indem außerdem andere Verlage ihre cthuloiden Rollenspiele in die Zeit der 1920er Jahre verlegen, in der Lovecraft gelebt hat, lassen sie jenen Gedanken Lovecrafts außer Acht, den Horror in die jeweilige Jetzt-Zeit zu setzen. Dieser Idee von Lovecraft bleibt FHTAGN hingegen treu und verfolgt sie aktuell insbesondere in ihrem Haupt-Setting „Zeitenwende“, das im Hier und Jetzt spielt.


Was aber weitaus wichtiger als die bloße Implementation von Lovecrafts Ideen ist, ja sogar eine Notwendigkeit darstellt, ist deren Weiterentwicklung. Dass Lovecraft rückwärtsgewandtes, rassistisches und homophobes Gedankengut vertrat, ist bekannt und damit setzt sich die Deutsche Lovecraft Gesellschaft kritisch auseinander, wie in unserer Stellungnahme zu Lovecrafts problematischer Weltanschauung nachzulesen ist. Dieses Gedankengut spiegelt sich leider allzu oft in Lovecrafts Texten wider. Auch sucht man Vielfalt in den Hauptcharakteren von Lovecrafts Geschichten vergeblich, in denen es sich bei ihren Protagonisten so gut wie immer um einen gebildeten weißen Mann handelt.

Zugleich bleiben die eigentlichen Themen von Lovecrafts Erzählungen – die Irrelevanz des Menschen im Universum, der immer da gewesene und immerwährende kosmische Horror, die menschliche Urangst vor dem Fremden – zeitlos und nach wie vor aktuell.


Gerade zur Beseitigung dieses „Dilemmas“ steckt in Lovecrafts quelloffenem Ansatz ein ungeheures Potential. Aus Lovecrafts ungefilterten Gedankenströmen können wir das Gold herauswaschen, und aus dem Gold neue Kostbarkeiten schmieden. Man denke da an die gesellschaftskritische Horrorserie Lovecraft Country mit afroamerikanischen Hauptfiguren, an die queeren lovecraftesken Kurzgeschichten des ebenfalls queeren Autoren W. H. Pugmire (dessen Anthologie Sesqua Valley & Other Haunts wir dieses Jahr im dLG-Radio ein Kosmisches Intermezzo widmeten) oder ganz generell an die Möglichkeit im cthuloiden Rollenspiel, einen Menschen beliebigen Geschlechts und beliebigen Hintergrundes in einem lovecraftschen Setting zu spielen, das auch frei von Rassismus, Sexismus, Homophobie und anderen verächtlichen Denkweisen sein darf (denn wenn Große Alte, Außerirdische und Hexenmeister real sein können, warum auch nicht eine diskriminierungsfreie Welt?).


Kurzum: Auch wenn Howard Phillips Lovecraft selbst solche Geschichten niemals erzählt und verfasst hätte, so können wir heute die Chance dazu ergreifen und das bedenkenlos tun, denn wir haben ausdrücklich seine Erlaubnis dazu erhalten, sein Universum und seinen Mythos in unseren Werken einzubauen. Dafür danken wir dir ganz herzlich, Howard, und wünschen dir einen wunderbaren 133. Geburtstag!


Laura D'Angelo

2. Vorsitzende