Lovecrafter Online – Buchrezension: Das Äquinoktium der Wahnsinnigen von Anatol E. Baconsky
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KatharinaKuo -
22. Mai 2023 um 12:00 -
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Keine leichte Lektüre …
Ich gebe zu, dass es eine Weile gedauert hat, bis ich einen Zugang zu den Geschichten Baconskys gefunden habe. Sie lassen sich weder zeitlich noch räumlich verorten, sondern scheinen in einer Parallelwelt zu spielen, die der unseren ähnelt, bisweilen aber gänzlich anderen Gesetzen unterliegt. Da ist zum Beispiel der Steinmetz, dessen einzige Aufgabe darin besteht, Kreuze für den stets wachsenden Friedhof der Stadt herzustellen, während selbige immer bizarrer wird und schließlich aus Stein bestehende Einwohner an sein Fenster klopfen.
Genauso wie die Texte sich einer klaren historischen und geographischen Einordnung verweigern, folgen sie auch keinem Aufbau, wie man ihn von anderen phantastischen Geschichten kennt. Oft gibt es keine Einleitung, keine klar umrissene Handlung und auch keinen dramaturgischen Schluss. Mancher Text erinnert mehr an einen Traum als an eine klassische Geschichte. So handelt etwa die Kurzgeschichte Der Größte davon, dass eine Gruppe von Leuten auf die Ankunft des Größten wartet, von der man sich viel erhofft, ohne dass jedoch jemand weiß, wer genau der Größte überhaupt ist. Statt diesem kommen schließlich drei Propheten und die Menschen sind fortan so sehr mit deren Büchern beschäftigt, dass sie keine Zeit mehr haben, um an den Größten zu denken. Eine klare Bedrohung und greifbare Horror-Elemente sucht man in der Geschichte vergeblich. Und dennoch gelang es Baconsky damit, bei mir als Leserin eine beklemmende Stimmung und das Gefühl drohenden Unheils zu erzeugen.
Zitat„Während des langen Wartens erinnerten sich die Älteren wie stets an die Vergangenheit und erzählten Begebenheiten aus jener Zeit, da Der Größte von den wachen Kräften der Festung gewählt wurde und die Stimmen der Menschen seinen Namen riefen, um ihn zu ihrem Anführer zu bestellen. Diese Zeiten waren unverständlich für uns, weil seit langem niemand mehr fähig war, einen anderen Namen als den eigenen auszusprechen. Und seit langem konnte sich niemand mehr vorstellen, daß einer von uns Der Größte sein könnte.“ – Der Größte
… aber eine lohnende Lektüre
Obwohl mir der Einstieg schwerfiel, haben mich die Geschichten Baconskys zusehends in ihren Bann gezogen. Denn so bizarr die Schilderungen auch wirken, verbergen sich dahinter stets tiefgründige, meist philosophische oder politische Gedanken. Diese sind manchmal offensichtlicher, wie etwa in der Geschichte über einen alten Juden, der eines Tages von Unbekannten einfach weggebracht wird, die damit endet, dass der Protagonist bei dem Gedanken erschauert, dass die ganze Stadt in Schlaf versunken sein könnte und vielleicht niemand mehr da ist, der sich Gedanken macht. Andere Szenen interpretiere ich wiederum als Anspielungen auf die Diktatur Ceauşescus in Rumänien. Bei manchen Kurzgeschichten rätsle ich noch über die Aussage der Handlung, doch bei keiner von ihnen hatte ich das Gefühl, dass es sich lediglich um bizarre Szenen ohne weitere Bedeutung handeln könnte.
Die größte Stärke Baconskys sind in meinen Augen aber seine wortgewaltigen Beschreibungen der Orte, Städte und Landschaften. Diese sind voller Details und ungewohnter, aber doch passender Bilder. Sie wirken bisweilen unheimlich und seltsam und erzeugen so eine ganz eigene düster-phantastische Stimmung. Mehrfach fühlte ich mich dabei an Lovecrafts Traumlande erinnert.
Zitat„Da war der Leuchtturm, und da waren wir, die wir uns wie Nachtfalter versammelt hatten und ausharrten im Bereich seines kalten und fahlen Lichts – sinnlos ausharrten, weil uns in dieser Gegend des Verderbens nichts entschädigen konnte.
Aber für Menschen, deren Leben ziellos ist und zwecklos, hat es nie freigiebigeren Segen als Müßiggang, Einsamkeit und Öde gegeben. Und der schweigsame Horizont des Meeres verstand es, ein Nimbus überm Scheitel der Enterbten zu sein, die wir waren. Auch suchte uns niemand, und um unser Schicksal sorgte sich nur der Wind, der ständig vorüberzog wie die Zeit, der ununterbrochen die Richtung wechselte, der uns mit seinen Stößen umfing, uns liebkoste oder heftig auspeitschte, der das Blickfeld aufwühlte und den Sand der Wanderdünen umhertrug.“ – Der Leuchtturm
Fazit
Das Äquinoktium der Wahnsinnigen enthält zweifellos einige der interessantesten phantastischen Geschichten, die ich seit langem gelesen habe. Diese sind in einem sehr eigenen, faszinierenden Schreibstil verfasst, der hervorragend zu den düsteren Szenerien in den Geschichten passt. Es handelt sich um Texte, die sich sämtlichen Konventionen des Phantastik-Genres verweigern und für deren Lektüre man sich Zeit nehmen sollte. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Anatol Baconsky trotz seiner originellen Ideen und Sprachbilder im deutschsprachigen Raum bisher weitgehend unbekannt ist. Die Neuveröffentlichung im Blitz-Verlag wird hier hoffentlich Abhilfe schaffen.
Das E-Book zu Das Äquinoktium der Wahnsinnigen wurde uns freundlicherweise vom Blitz-Verlag zur Verfügung gestellt.
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