Lovecrafter Online – Der Alchemist von Kamenica
-
Neodyn -
28. März 2022 um 12:00 -
1.187 Mal gelesen -
0 Antworten
»Schneller! Was macht er da auf dem Kutschbock nur? Setzte er doch die Peitsche ein. Schneller!«, war es aus der Kutsche zu hören, während diese in einem höllischen Tempo den Hügelkamm hinunter rauschte.
»Professor! Professor Magnus! Machen Sie das Fenster auf«, kam es lautstark als Antwort vom Kutschbock zurück.
»Ja, was ist denn?«, erwiderte der Professor. Ein kleines Fenster in der Tür der Kutsche öffnete sich und das graubärtige Gesicht eines in die Jahre gekommenen Mannes lugte hervor.
»Professor, sehen sie dort, der Himmel. Wir sind zu spät!«
Professor Magnus folgte dem Blick des Kutschers, welcher versteinert auf der Szenerie vor ihnen lag. Einem Malstrom gleich wirbelten pechschwarze Wolken über dem vor ihnen liegenden Talkessel. Blutrote Blitze zuckten in alle Himmelsrichtungen empor und von den umliegenden Hügeln strömte ein eiskalter Windhauch hinab, welcher den gesamten Talgrund mit einem undurchdringbaren Nebel flutete. Die Strahlen einer im Sterben inbegriffenen Sonne tauchten die gesamte Landschaft in die unnatürlichen Farben einer unwirklichen, dämonischen Unterwelt.
»Beim allmächtigen Herrgott. Was hat dieser Wahnsinnige da nur angerichtet«, gab der Graubärtige entsetzt von sich.
»Professor, was – was ist das? Sind das etwa die Pforten zur Hölle?«, erklang die wimmernde und von Angst übermannte Stimme des jungen Burschen auf dem Kutschbock.
»Nein, mein werter Freund«, erwiderte der graubärtige Mann resigniert.
»Jenes dort ist weitaus älter und schlimmer als das Höllenreich unseres lieben Herrgotts. Es ist der Abgrund des puren Chaos und der Finsternis. Und wenn wir uns nicht beeilen, wird dieser wahnsinnige Alchemist noch die ganze Welt ins Verderben stürzen. Agricola, du vermaledeiter Tor. Glaubst du etwa wirklich, sie würden ihre Macht mit dir teilen?«, schrie er hinaus in das Tal und ihrem Ziel entgegen. Ihrem Ziel, der Stadt Kamenica, das Zentrum dieses wirbelnden Chaos.
***
Einige Tage zuvor, in der Stadt Kamenica.
»Ja, wer ist da?«, ertönte eine alte, raue Stimme aus dem Arbeitszimmer – eine mürrische Reaktion auf das Klopfen an der Tür.
»Ich bin es, Meister. Ich bin wieder zurück«, antwortete eine junge Stimme.
Sofort war das Klacken eines schweren Türschlosses zu hören und mit einem lauten Knarren öffnete sich eine robuste Eichentür.
»Ah, mein Junge, du bist es. Komm herein, komm herein. Ich habe deine Rückkehr sehnlichst erwartet. Hast du es erhalten? Hast du denn, weswegen ich dich losgeschickt habe?«
»Ja, habe ich. Es ist hier in dieser Schatulle.«
Der junge Mann griff in einen alten zerlumpten Jutesack und ein kleines, edel verziertes Kästchen kam zum Vorschein. Blitzartig klammerten sich die Hände des Alten um die Schatulle und er zog sie an sich. Langsam öffnete er den Deckel. Seine Augen wurden groß und eine Mischung aus Erstaunen und sinnlicher Befriedigung erfüllte seinen Blick.
»Das hast du sehr gut gemacht, mein Junge. Na los, komm‘ her und sieh es dir genauer an.«
Langsam näherte sich der Junge seinem Meister. Dieser griff in die Schatulle und holte einen etwa apfelgroßen Stein hervor. In den Augen der beiden Männer spiegelte sich ein dunkler Glanz wider. Der Stein, den er erblickte, war kein gewöhnlicher Stein. Er wies die Form einer halben und glatten Kugel auf, die schwärzer als das dunkelste Onyx war. Das Innere der Kugel war ausgehöhlt; hier funkelte eine schier unendliche Anzahl kleinster und feinster hellweißer Edelsteine. Jeder noch so schwache Lichtstrahl, der auf diese traf, wurde wie von einem Kaleidoskop in alle nur erdenklichen Farben gebrochen.
Entfernt erinnerte ihn dieser Stein an eine der vielen Geoden, die sein Meister überall in seinem Haus aufgestellt hatte. Jedoch gingen von diesen keine so unbewusste und dennoch spürbare Anziehung aus. Dieser Stein war besonders. Es war nicht einfach nur ein Stein; was es aber war, wusste er nicht. Anhand des Funkelns in den Augen seines Meisters sah er jedoch, dass dieser sich dem Wert des Schatzes in seinen Händen bewusst war.
»Dies hier, mein junger Freund, wird die Krönung meiner jahrelangen Arbeit sein. Nach diesem Stein suche ich schon mein halbes Leben lang, seit dem Tag, als ich zum ersten Mal in den Aufzeichnungen der alten italienischen Universitäten von ihm gelesen hatte. Ich wusste, dass er existiert, dass er existieren muss. Auch wenn man scheinbar alles versucht hat, um seine Existenz zu leugnen oder gar die Beweise dafür zu vernichten.«
»Und um was für einen Stein handelt es sich?«, fragte der Junge voller Neugier.
»Nun, einige Gelehrte glauben, es handelt sich hierbei um den Lapis philosophorum, den Stein der Weisen. Aber das ist völliger Unsinn. Der Lapis philosophorum ist ein reines Hirngespinst des minderbemittelten Geistes, der glaubt, der Mensch wäre dazu in der Lage einen magischen Stein zu erschaffen. Einen Stein, der ihm die Macht verleiht, die Lebenden zu heilen, die Toten zu erwecken oder gewöhnliche Objekte in Gold zu verwandeln und so einen Unsinn. Nein, mein Junge, dieser Stein hier ist nichts was ein Mensch, weder heute noch in der Stunde seines Verrinnens, in der Endlosigkeit der Zeit jemals erschaffen könnte. Dieser Stein ist weit älter als die Menschheit und wird auch noch Äonen nach ihr existieren. Und einen Namen, nun, den besitzt er nicht. Einige exzentrische Mönche glauben, es handelt sich um ein göttliches Artefakt, dem heiligen Gral oder der Bundeslade gleichgestellt. Auch erfuhr ich von fernöstlichen Reisenden, dass in den dort ansässigen Kulturen gelegentlich von einem heiligen Stein oder Juwel der Seelen gesprochen wird. Und ich wette mit dir, mein junger Freund, dass die Spanier auf ihrem Eroberungsfeldzug in ihren neuen Kolonien weit im Westen ebenfalls Hinweise zu diesem Stein finden werden. Zumindest würde es mich nicht verwundern.«
Wieder einmal erstaunt über das vielseitige Wissen seines Meisters stand der Junge berührt still und starrte – wie in Bann geschlagen – den ungewöhnlichen Stein an. Die Lichtstrahlen der späten Mittagssonne schienen durch die geschlossenen Fenster und hüllten den Raum in ein mattes Licht. Jene Lichtstrahlen jedoch, die dem Stein zu nahekamen, wurden auf seltsame Art ihrem natürlichen Verlauf entrissen. So schien die onyxschwarze Halbkugel alles Licht in der Nähe zu verschlucken und tauchte so die Umgebung in eine unheilvolle Düsternis, während aus der juwelenbesetzten Öffnung die Lichtstrahlen geradezu empor stachen und die Luft förmlich zerschnitten. Es war wahrlich das wundersamste Objekt, das er jemals erblickt hatte. Und je länger er diesen Stein anstarrte, umso mehr verfiel er in eine Trance. Irgendetwas, tief in seinem Unterbewusstsein wurde auf unnatürliche Art von diesem angezogen. Als würde sein Geist kriechend seine körperliche Hülle verlassen und von dem onyxschwarzen Dunkel verschluckt werden.
Ein unsanfter Klaps gegen seinen Kopf löste jedoch abrupt seine Fesselung.
»Jetzt komm wieder zu dir. Die Macht dieses Steins kann einem unvorbereiteten Geist schwer zusetzten. Du bist noch nicht so weit, dieser wirklich widerstehen zu können.«
Der Alte legte den Stein zurück in die Schatulle, klappe diese zu und drückte sie dem Jungen in die Hände. Leicht benommen, wie soeben aus einem Tagtraum erwacht, blieb dieser stumm stehen und verfolgte die Schritte seines Meisters, hin zu seinem großen Arbeitstisch. An diesem zog der Alte eine kleine Schublade heraus und kramte einen Schlüssel hervor.
»Hier, nimm den. Dies ist der Schlüssel zu meiner Truhe im Studierzimmer. Du weißt welche. Die große mit den eisernen Beschlägen. Leg die Schatulle dort hinein und dann bring mir den Schlüssel wieder.«
»Jawohl, Meister«, erwiderte er folgsam. »Und was habt ihr nun vor, jetzt, nachdem ihr diesen Stein habt?«, fragte er noch leicht zögernd nach.
Der Alte starrte ihn mit einer nachdenklichen Miene an.
»Nun, ich denke es ist an der Zeit, dass ich dich einweihe in das, was nun kommen wird. Verdient hast du dir es. Du bist mir nun seit vielen Jahren ein gehorsamer und strebsamer Schüler. Deine Ausbildung in den weltlichen Wissenschaften der Mathematik und Mineralogie, als auch der Philosophie sind vorbildlich. Auch in den Künsten der Alchemie hast du deutliche Fortschritte erlangt. Ich glaube, du bist bereit mir bei dem was kommen wird zu assistieren. Aber jetzt erst einmal genug davon. Ich muss mich zunächst um andere Belange kümmern. Wir reden später weiter. Nun erfülle erst einmal deine Pflicht.«
»Jawohl, Meister. Eine Sache nur noch: Als ich hereinkam, stand draußen vor dem Haus wieder eine Gruppe von Leuten, die wohl zu euch wollen. Darunter war auch der ehemalige Abt des Klosters.«
Mit einem lauten Stöhnen ließ sich der alte Mann in seinen Stuhl fallen und rieb sich die Augen.
»Nicht schon wieder Abt Hilarius. Als ob ich daran schuld wäre, dass ihm die Mönche in Scharen abgewandert sind und er das Kloster an den Kurfürsten abtreten musste.«
»Nun, er wird glauben, ihr hättet dies damals noch verhindern können, als ihr Bürgermeister von Kamenica wart. Immerhin seid ihr Georgius Agricola, ein Gelehrter vom herausragenden Leumund. Ihr habt an den großen und alten Universitäten in Italien studiert. Seid durch die Lande des ganzen Reiches gereist. Habt umfassende Kenntnisse der Mathematik, Medizin, Philosophie und vielem mehr. Eure Expertise in Mineralogie sucht wohl weltweit ihresgleichen und ihr genießt einen exzellenten Ruf am Hofe des Kurfürsten. Euer Wort hat dort Gehör und euer Rat ist stets willkommen. Abt Hilarius hoffte wohl, dass ihr euch beim Kurfürsten für ihn und das Kloster einsetzt, als getaufter Katholik, der ihr seid. Da ihr dies nicht getan habt, habt ihr ihn wohl auf ewig gegen euch aufgebracht.«
»Ach, hör mir nun auf damit und geh endlich«, schnaufte der alte Agricola. Er war es leid, sich mit den Problemen der Vergangenheit und den nichtigen Belangen des einfachen Pöbels auseinanderzusetzen. Seine Studien waren weitaus wichtiger als alle weltlichen Interessen um ihn herum.
Der Junge drehte sich um und schritt zur Tür. Gerade als er diese öffnen wollte, hörte er hinter sich noch einmal seinen Meister rufen.
»Ach und Sebastian. Eines noch. Lass die Finger von den Büchern, die du in der Truhe siehst. Ich weiß sehr wohl, dass du heimlich die Bücher und Folianten meines Studierzimmers liest, auch wenn ich es dir untersagt habe. Aber wehe dir, du schlägst auch nur eines der Bücher in der Truhe auf. Du verstaust die Schatulle darin und bringst mir unverzüglich den Schlüssel. Hast du mich verstanden?« Der junge Sebastian drehte sich um und nickte nur als Zeichen der Bestätigung. Nur selten sprach ihn sein Meister mit seinem Namen direkt an. Immer nur dann, wenn er in Sorge oder im Zorn war. Aus welcher Gemütslage heraus er ihn gerade ansprach, konnte er jedoch nicht deuten. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, sah er auch schon die Gruppe von Menschen, angeführt von Abt Hilarius, das Haus betreten. Als er an ihnen vorbeiging, bemerkte er recht deutlich die finsteren Mienen in ihren Gesichtern. Er fragte sich, was es wohl diesmal war, was sie gegen seinen Meister ins Feld führten. Egal was es auch sein mochte, seinen Meister würden sie damit nicht vertreiben können, sondern nur wieder einmal mit Wut und Zorn erfüllen.
Als Sebastian die Tür des Studierzimmers hinter sich schloss, verstummten für ihn auch die letzten lauten Wortfetzen, die der Abt und sein Meister sich gegenseitig entgegenwarfen. Langsam schritt er durch den Raum, stellte die Schatulle auf einen Tisch und ließ sich neben dieser auf einem kleinen Hocker nieder. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Er liebte den Geruch dieses Zimmers, den Geruch von altem Pergament, Büchern und Folianten. Den Geruch der Tinte, gemischt mit einem Hauch von Schwefel und Salpeter. Der Geruch von Experimenten und dem Streben nach Wissen. Wenn er nicht gerade im Auftrag seines Meisters unterwegs war, verbrachte er viel Zeit in diesem Zimmer. Auch wenn sein Meister ihm verboten hatte, nicht ohne seine ausdrückliche Erlaubnis eines der Bücher zu lesen, so hatte er heimlich ein Werk nach dem anderen geradezu verschlungen. Insgeheim wusste er wohl, dass sein Meister sein unerlaubtes Eigenstudium stillschweigend akzeptierte und so hatte er im Laufe der Jahre alles gelesen, was in diesem Raum an Wissen zusammengetragen war. Alles, bis auf jene Bücher in der Truhe mit den eisernen Beschlägen, für die er nun den Schlüssel in der Hand hielt.
Eine Zeit lang saß er regungslos da und starte die Truhe in der Ecke an, unschlüssig, ob er dem Befehl seines Meisters gehorchen oder seiner Neugier nachgeben sollte. Schließlich stand er auf, nahm die Schatulle an sich und schritt zu der Truhe. Er kniete sich vor diese nieder und steckte den Schlüssel in das schwere eiserne Schloss. Nach zwei lauten, knackenden Umdrehungen legte er seine Hände auf den Deckel und zögerte für einen kurzen Moment. Es war für ihn, als würde er gleich den Deckel einer Schatzkiste öffnen. Eine Schatzkiste, nicht voller Gold und Juwelen, sondern mit Wissen und Erkenntnis. Langsam hob er den Deckel an und erblicke die von ihm begehrten unbekannten Schriften. Er verstaute pflichtbewusst die Schatulle mit dem außergewöhnlichen Stein in der Truhe, bevor er – die strikten Anweisungen seines Meisters ignorierend – sich den verbotenen Büchern widmete. Er hatte nicht wirklich vor eines zu lesen, aber zumindest das Betrachten der Einbände sollte ihm doch erlaubt sein.
Einige der Bücher waren nicht in Latein verfasst, sondern wiesen auf ihrem Einband die grazilen Linien orientalischer Schriftzeichen auf. Andere wiederum waren mehr mit bildlichen Symbolen als mit Worten versehen. Lose Zettel ragten aus diesen hervor, mit Andeutungen von Übersetzungen. Zwischen all diesen kuriosen, jedoch für ihn nicht lesbaren Büchern, befanden sich aber auch einige in lateinischer Sprache. Eines dieser Werke erweckte seine besondere Aufmerksamkeit. Es war ein kleiner, dicker Foliant mit einem schwarzen ledernen Einband, einzig nur versehen mit einer Aufschrift auf der Vorderseite: Georgius Agricola, De Obscurae silvae libri.
»Das Buch des dunklen Waldes« übersetzte er diesen sonderbaren Titel für sich. Scheinbar war sein Meister Autor dieses Buches. Dies war an sich zunächst nichts Bemerkenswertes, hatte sein Meister doch bereits diverse Bücher über Mineralogie und Metallkunde verfasst. Dieses Buch hier war jedoch anders. Der Titel war kryptisch und das Buch recht klein und schlicht gehalten. Und wieso hatte es sein Meister vor ihm geheim gehalten? Die ersten Schriften, die er je zu lesen bekam, waren gerade jene Ausarbeitungen seines eigenen Mentors. Er wusste, dass es ihm verboten war, dieses Buch aufzuschlagen, aber die Neugier war zu groß. An welchem herausragenden Werk arbeitete sein Meister da im Verborgenen nur? Er konnte nicht anders und schlug das Buch in der Mitte auf, um zumindest einen flüchtigen Blick über dessen Inhalt zu erhalten. Er legte seine Stirn in Falten, als er begann, die Texte und deren Bedeutung zu entziffern. Es war kein Buch über Mineralogie oder Medizin oder einer anderen, ihm bekannten Wissenschaft. Er blätterte einige Seiten durch, aber überall waren Hinweise auf uralte Rituale, Beschwörungen und dunkle Magie zu finden. Gelegentlich las er Worte wie Shub-Niggurath oder Yog-Sothoth, die er nicht übersetzen konnte. Zuweilen waren ganze Textpassagen in einer ihm gänzlich unbekannten Sprache verfasst. Je mehr er in diesem Buch blätterte, umso mehr durchzog ihn ein unheilvoller Schauder und kalter Angstschweiß bildete sich langsam auf seiner Stirn. Auf was für ein widernatürliches Geheimnis war er hier nur gestoßen?
Das lautstarke Krachen einer zugeschlagenen Tür riss ihn aus seinem Bann. Es war die Tür des Arbeitszimmers oder des Hauses, und es signalisierte ihm, dass der Abt und seine Gefolgschaft wohl von dannen gezogen waren. Rasch verstaute er das Buch wieder in der Kiste an jener Stelle, wo er es vorgefunden hatte, schloss diese zu und eilte die Treppe hinunter zu seinem Meister. Vor der Arbeitstür angekommen wischte er sich noch schnell den Angstschweiß von der Stirn, bevor er sacht an diese klopfte. Nachdem prompt ein aufbrausendes »Was?« als einzige wütende Reaktion auf das Klopfen erfolgte, öffnete er zögerlich die schwere Tür.
»Ich bin es nur, Meister. Ich wollte euch nur den Schlüssel wiederbringen.«
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst ihn mir unverzüglich wiederbringen? Was hat da so lang gedauert?«, fuhr ihn der alte Agricola mit Wut an. Wut, die wohl mehr von seinem Gespräch mit dem Abt, als von der verspäteten Rückgabe des Schlüssels herrührte.
»Es tut mir leid. Aber ich hörte eure lautstarke Auseinandersetzung und da dachte ich, es wäre wohl besser euch dabei nicht zu unterbrechen«, erwiderte Sebastian demütig und legte den Schlüssel zügig auf den Arbeitstisch. Schnaubend schaute der alte Agricola ihn mit finsterem Blick an.
»Nun, sei es drum. Ich will, dass du dich heute Abend nach Sonnenuntergang bei mir einfindest. Ich werde im Studierzimmer sein. Und nun geh. Ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen.«
***
Die Sonne war bereits untergegangen und die ersten Sterne funkelten am Firmament, als Sebastian zu seinem Meister zurückkehrte. Den ganzen Tag verbrachte er mit Nichtigkeiten, auf welche er sich nie wirklich konzentrieren konnte. Zu sehr beschäftigte ihn die Entdeckung des kleinen schwarzen Buches. Als er das Studierzimmer seines Meisters betrat, saß dieser in seinem Stuhl an seinem Tisch und war, wie so üblich, in irgendeinen Text oder ein Experiment vertieft, sodass er die Ankunft seines Schülers nicht bemerkte. Die Tür bereits geöffnet, klopfte Sebastian als Zeichen seiner Ankunft an. Der Moment, als sein Meister sich jedoch zu ihm wandte und somit die Lektüre auf seinen Tisch für ihn sichtbar wurde, versetzte ihm einen Schock. Denn er erkannte das kleine schwarze Buch mit dem seltsamen Titel, als auch die Schatulle mit dem seltsamen Stein. Hatte sein Meister etwa sein unerlaubtes Studium bemerkt?
»Ah mein Junge, komm her und setz dich«, forderte sein Meister ihn auf.
»Da uns heute am Tag leider nicht die Zeit vergönnt war, ausführlicher über deine Reise und den Erwerb dieses äußerst wichtigen Objektes zu reden, scheint nun der passende Zeitpunkt gekommen zu sein. Also bitte sprich. Wie war deine Reise? Ist alles planmäßig verlaufen?«
Sebastian setzte sich auf den Hocker neben den Tisch seines Meisters, auf welchem er heute schon einmal Platz genommen hatte.
»Es verlief alles wie von euch geplant Meister. Nun ja, fast alles.«
»Na dann, nun sprich. Was war unstimmig? Gab es Probleme mit dem orientalischen Händler?«
»Nun ja, geringfügig. Wie ihr es vorausgesagt hattet, war der Orientale am Hofe des Kurfürsten kurz nach meiner Ankunft eingetroffen und hatte die Schatulle mit dem Stein bei sich. Er wollte diesen, zusammen mit anderen wertvollen Dingen, dem Kurfürsten verkaufen und so wie ihr es vorhersagtet, nahm er nur reines Silber als Zahlungsmittel an. Und ebenfalls, wie vermutet, hatte der Kurfürst kein reges Interesse an diesem Stein. Dies lag aber wohl auch an dem horrenden Preis, der dafür verlangt wurde. Was ihr jedoch unbedacht gelassen habt, war die Anwesenheit von Professor Magnus.«
»Professor Magnus? Hat dieser lästige Zeitgenosse also doch davon erfahren. So viel Spürsinn habe ich ihm eigentlich nicht zugetraut. Und, hat er dir Probleme bereitet?«
»Anfangs nicht. Als der Kurfürst kein Interesse an dem Stein zeigte, wollte ihn Professor Magnus im Namen seiner Universität kaufen. Jedoch überstieg der Kaufpreis die seinigen Mittel, sodass ich letztlich mit der von euch mitgegebenen Zahlung den Erwerb tätigen konnte.«
»Und wie hat der Professor reagiert? Ich hoffe doch, du hast dich nicht als mein Schüler zu erkennen gegeben.«
»Keine Sorge Meister, das habe ich nicht. Jedoch war der Professor äußerst misstrauisch mir gegenüber und fragte mich, in wessen Namen ich unterwegs sei. Ich nannte ihm den wahllosen Namen eines Kaufmannes, aber er bestand darauf, das Silber auf seine Echtheit untersuchen zu wollen. Der Orientale wurde dadurch sichtlich misstrauisch und erst als ich ihm den einen echten Silberbarren, den ihr mir mitgabt, untersuchen ließ, war er überzeugt mit mir den Handel einzugehen. Jedoch glaube ich, dass unser Schwindel mit den anderen unechten Silberbarren nicht lang unentdeckt bleiben wird.«
»Ach papperlapapp. An dem Zeitpunkt, an dem unsere Finte auffliegt, wird es eh zu spät sein. Bis dahin habe ich mein Ziel längst erreicht.«
Nervös saß Sebastian seinem Meister gegenüber und fragte sich, was dieses Ziel nur sein mochte. Angesichts der verbotenen Lektüre auf dem Tisch und seinem Wissen über dessen Inhalt, zögerte er jedoch nachzufragen, wohl aus Furcht vor der Antwort die er erhalten würde. Seinem Meister entging diese Nervosität nicht. Dessen Blicke durchbohrten ihn förmlich und erneut bildete sich kalter Angstschweiß auf seiner Stirn. Ohne jedoch genauer auf das seltsame Verhalten seines Schülers einzugehen, ergriff der alte Agricola das kleine schwarze Buch und streckte es Sebastian hin.
»Ich möchte, dass du einen Blick in dieses Buch wirfst«, forderte er ihn mit ernster Stimme auf.
Sebastian schluckte und zögerte kurz, griff dann aber beherzt zu. Er schlug das Buch auf, zufällig an jener Stelle, wo er heute bereits geblättert hatte und begann erneut die fremdartigen Namen und unbekannten Zeichen zu lesen.
»Und was hältst du davon?«, fragte ihn sein Meister nach einiger Zeit.
»Ich… ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Meister«, antwortete er mit Zögern und Unsicherheit in seiner Stimme. »Worum geht es in diesem Buch? Ihr seid ein angesehener Gelehrter und Wissenschaftler. Ihr könnt euch doch unmöglich ernsthaft mit schwarzer Magie und Hexerei befassen. Und was hat es mit diesen seltsamen Worten wie Shub-Niggurath auf sich? Was hat dies alles zu bedeuten?«, platzten schließlich unverhohlen die Fragen aus ihm heraus.
»Sei vorsichtig mit dem, was du von dir gibst. Es gibt Namen, die niemand unbedacht aussprechen sollte«, fuhr sein Meister ihn harsch an.
»Ich sehe schon, ich muss dir so einige Dinge mehr erklären als erwartet«, seufzte er, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Sebastian indes saß wie angewurzelt und bis in die Haarspitzen angespannt da.
»Nun gut. Das, was du da gerade so unbedacht ausgesprochen hast, ist der Name eines Wesens, besser einer Gottheit, die älter und mächtiger ist als alles Menschenerdenkliche. Und sie ist nur eine von zahllosen gottgleichen Wesenheiten, die da draußen in der dunklen, unendlichen Schwärze zwischen den Sternen existieren. Es grenzt schon an ein Wunder, dass diese bisher noch nicht die Menschheit binnen eines Wimpernschlages vernichtet und diese Welt eingefordert haben. In Anbetracht dieser Wesen ist nämlich unsere bloße Existenz ein einziger Witz.«
»Aber Meister, das kann doch unmöglich euer Ernst sein. Das ist Gotteslästerung«, brach es aus Sebastian unwillkürlich heraus.
»Schweig du Narr, was weißt du schon. Ich weiß, dass sie existieren, denn ich habe einst eines von ihnen gesehen. Sag mir, mein Junge. Was weißt du über den großen bewaldeten Gebirgszug, der sich südlich von Kamenica erstreckt?«
Von dieser Frage gänzlich überrascht schwieg der Junge eine kurze Zeit lang, unsicher, was sein Meister als Antwort erwartete. Erst als sein Blick auf das Buch in seinen Händen fiel, kam ihm die mögliche Antwort in den Sinn.
»Nun, der Wald, welcher sich über den ganzen Gebirgszug erstreckt, ist uralt; ein Urwald, wie er lange vor den Menschen hier bereits existiert hat und der nach wie vor nur schwer zugänglich und sehr wenig besiedelt ist, trotz seiner reichen Vorkommen an kostbaren Erzen, wie dem Silber. Die Menschen meiden die ganze Region und jene, die an seinen Grenzen leben, nennen ihn den Miriquidi, den Finsterwald.«
»Du sagst es, der Miriquidi, der finstere oder auch dunkle Wald«, bestätigte ihn sein Meister, bevor er in seinen Ausführungen weiter fortfuhr.
»Dieser Wald ist alt, unglaublich alt und in solchen Wäldern existieren Wesen, die ebenfalls uralt sind. Und sowohl sie, als auch der Wald sind unbarmherzig und grausam. Selbst erfahrene Jäger verirren sich nach wie vor in diesem Wald und werden nie wieder gesehen. Einfache Bauern oder Knechte fallen ihm auch oft genug zum Opfer. Welche Überlebenschance hätte da wohl ein Knabe von gerade einmal 6 Jahren frage ich dich? Richtig, keine! Und dennoch sitze ich hier. Ja, du hast richtig gehört. Ich hatte mich in meiner Kindheit einst verirrt in diesem Wald. Schon nach einem Tag der Suche gaben meine Eltern jegliche Hoffnung auf, mich lebend oder gar überhaupt wieder auffinden zu können. Aber nach drei Tagen und drei Nächten allein in diesem Forst stand ich wieder vor ihnen. Ich hatte den Wald und seine tiefen, unaussprechlichen und dunklen Geheimnisse überlebt. Mehr noch, ich sah sie mit meinen eigenen Augen. Ich irrte ziellos durch das unwegsame Unterholz, als ich es erreichte, das finstere Herz des Waldes. Dort erblickte ich es. Das dunkle Junge des Shub-Niggurath. Ich sah eine der Brutstätten der Finsternis selbst und wie es waberte und vor sich hin kroch. Tausend Mäuler und tausend dunkle Fangarme, aber kein Gesicht, nicht einmal einen richtigen Körper besaß es. Und mittlerweile weiß ich, dass dies nur eines der zahllosen Kinder dieser dunklen Gottheit war. Wer weiß schon wie lang es in diesem Wald vor sich hin brütet und wächst. Eines aber ist gewiss; wenn der Tag kommt, an dem es ausgewachsen ist, wird es unser aller Leben einfordern und die Welt in einen dunklen Kataklysmus des Chaos stürzen. Weder weiß ich, wie ich bis zu diesem finsteren Ort vordringen, noch von ihm wieder entfliehen konnte. Aber diese Begegnung veränderte mich. Die darauffolgenden 55 Jahre meines Lebens verbrachte ich im Geheimen mit dem Studium dunkler Künste, heidnischen Ritualen und der Alchemie, einzig zu dem Ziel, mir die Macht dieser Wesenheiten untertan zu machen. Doch es benötigt ein hohes Maß an Vorbereitung und Wissen, um sich diesen Wesen stellen zu können. Dank dir jedoch sind nun alle Vorbereitungen so gut wie beendet. Der Stein war das letzte und wohl auch wichtigste Glied, das mir noch gefehlt hat. Nun kann ich meinen Traum endlich erfüllen.«
Wie versteinert saß Sebastian da, unfähig zu einer Antwort oder Regung. Zu tief saß der Schock über diese Offenbarungen seines Meisters. Er wusste nicht, was er davon halten sollte; was er von seinem Meister jetzt noch halten sollte. Ob es die Wahrheit war oder purer Wahnsinn, was er da vernommen hatte.
»Nun, ich sehe schon. Es ist nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet habe, aber dass du allein diesen Worten nicht Glauben schenken kannst, dachte ich mir schon«, sprach der Alte zu ihm, während er sich aus seinem Stuhl erhob. Er nahm das Buch aus den schwitzigen Händen seines Schülers und steckte es in einen Jutesack zusammen mit dem Stein.
»Los, steh auf und folge mir!«, forderte er mit Nachdruck. Sebastian starrte seinen Meister weiterhin mit einem leeren Blick an und folgte dieser Aufforderung nur zögerlich.
»Ich werde dir den unumstößlichen Beweis erbringen, den du benötigst, um meine Worte als wahr anzuerkennen. Ich werde dir das zeigen, was nicht sein darf. Heute ist deine erste Lehrstunde als mein wahrer Schüler. Und nun komm!«
***
Die Stadt lag bereits in tiefen Schlaf, als sie sich durch die menschenleeren Gassen schlichen. Sebastian fragte sich, was denn nun ihr Ziel sei. Welchen unumstößlichen Beweis konnte sein Meister ihm nur zeigen wollen? Er glaubte nicht daran, oder vielmehr wollte er nicht daran glauben, dass auch nur eines der Worte dieser absurden und in allem Maße beängstigenden Erzählung wahr war. Sie liefen quer durch die Straßen Richtung Stadtgrenze. Eine Zeit lang dachte er, sein Meister würde ihn aus der Stadt hinausführen und hinein in diesen finsteren Wald, den Miriquidi, um ihm diese unaussprechliche Wesenheit zu zeigen. Erleichtert stellte er jedoch fest, dass ihr Weg vor einem der Wehrtürme der Stadtmauer jäh endete. Einen Schlüssel aus seinen tiefen Manteltaschen ziehend, schloss sein Meister die Tür des Turmes auf. Sie betraten einen kleinen Raum, der vollgestopft war mit allerhand Kisten und Rüstzeug. Schweigend reichte der alte Agricola Sebastian seine Laterne und deutet ihm zu leuchten, während er einige Kisten zur Seite zu schob und somit eine verborgene Falltür im Boden offenbarte. Eine eiskalte und von modrigen Gerüchen erfüllte Luft blies ihnen entgegen, als sie diese öffneten. Ohne zu zögern betrat der Alte die schmale und steile Treppe, die hinunterführte in das finstere Erdreich. Zögernd und zitternd stand Sebastian da und beobachtete, wie sein Meister langsam vor ihm in der Tiefe verschwand. Nur kurz warf dieser einen finsteren Blick über die Schulter, seinem Schüler entgegen. Sebastian schluckte und fürchtete sich. Es war Furcht vor dem, was da unten wohl sein mochte und Furcht vor seinem Meister. Er hätte wegrennen sollen, doch er tat es nicht. Dem finsteren Blick folgend, stieg er hinter seinem Meister hinab. Die Stufen zogen sich in schier unergründliche Tiefen und je weiter sie voranschritten, umso mehr wuchs die Furcht in Sebastian heran. Was für ein Gang war dies und was wartete an dessen Ende? Er wusste nicht mehr, wie lange sie in die immer tieferen Sphären dieser Unterwelt vordrangen. Jegliches Zeitgefühl war von ihm genommen, als sie schließlich vor einer hölzernen und mit Eisen verstärkten Tür standen.
»Lösche dein Licht«, forderte sein Meister ihn auf. Eine vollkommene Finsternis war nun um sie herum. Ob seine Augen geöffnet oder geschlossen waren, konnte er nicht sagen. Die Dunkelheit schien ihn verschluckt zu haben und seine Furcht begann, ihn in einen Mantel kalten Angstschweißes zu hüllen. Einzig sein rasendes Herz vermochte die totengleiche Stille dieser endlosen Schwärze zu durchdringen. Als das lautstarke Klacken des Türriegels ertönte, zuckte er instinktiv zusammen und unterdrückte nur mit aller Kraft einen angsterfüllten Schrei. Er hörte wie die Tür knarrend aufschwang und vernahm leise Schritte. Langsam tastet er sich vor, bis auf einmal ein mattes rotes Licht vor ihm aufleuchtete. Das Licht schien schwach, aber dennoch erkannte er die wagen Umrisse seines Meisters und wie sie sich entfernten, um eins mit der Dunkelheit zu werden. Erneut glomm ein schwaches rotes Licht auf und ein leises Murmeln war von der Stelle, wo sein Meister stand, zu hören. Weitere rote Lichter leuchteten auf. Erst als sich Sebastian einem dieser näherte, erkannte er, dass es kein Feuer war, was entzündet wurde. Es waren riesige Bergkristalle. Sein Meister musste diese mit seinen alchemistischen Kenntnissen und dunklen Künsten erschaffen haben. Sie konnten keinesfalls natürlichen Ursprungs sein. Nichts auf Gottes schöner Erde wäre in der Lage ein derart unnatürliches Licht auszustrahlen. Benommen und von Angst erfüllt taumelte er durch den Raum, der sich nun langsam vor seinen sich an die Dunkelheit gewöhnenden Augen auftat. Die Umrisse von grotesken Gerätschaften, Tischen mit uralten Folianten und Wände mit blasphemischen Symbolen wurden sichtbar. Er konnte nicht glauben, was er sah. Das Studierzimmer eines leibhaftigen Hexenmeisters.
Von diesem Anblick übermannt, taumelte er rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Als seine Hände jedoch eiserne Gitterstäbe umklammerten, merkte er, dass er nicht an einer normalen Wand lehnte. Erst jetzt wurde er sich eines schwachen und rhythmischen Lufthauchs in seinem Nacken bewusst. Ehe er dessen Bedeutung jedoch erahnen konnte, erkannte er vor sich drei lange und dunkle Gebilde, wie sie sich langsam von hinten in das blutrote Blickfeld seines Gesichtes schoben. Einen Todesschrei ausstoßend stürzte er nach vorn auf den Boden und drehte sich unbewusst dem Schrecken, der ihn gerade packen wollte, entgegen. Ein lauter und schriller, die Seele zerreißender Schrei erklang ihm als Antwort und klauenbewehrte Hände lechzten durch die Gitterstäbe nach ihm. So lag er nun da, in einer Lache aus Schweiß und Urin und erblickte das, was nicht sein darf. Ein Wesen unbeschreiblicher Abscheulichkeit und wider die Natur. Ein Wesen, das in der Finsternis wandelt und niemals das Licht der Welt erblicken darf. Das Gezücht, geboren aus einer dunklen Gottheit und dem widerwärtigen Streben eines verkommenen Alchemisten. Den unumstößlichen Beweis allen Schreckens.
***
Drei Tage waren vergangen, seitdem Sebastian einen Blick in die unaussprechlichen Abgründe der Hölle geworfen hatte. Er erwachte einige Zeit später im Hause seines Meisters. Dieser hatte ihn dorthin gebracht, als er durch den Schrecken übermannt in eine gnädige Ohnmacht gefallen war. Die Hoffnung, es sei nur ein unbeschreiblicher Albtraum gewesen, wurde jedoch jäh zunichtegemacht, als ihm sein Meister das weitere Vorgehen unterbreitete. So plane er schon seit vielen Jahren ein großes Ritual, um sich die Macht des großen alten Wesens in den Wäldern anzueignen. Nach Jahren der Forschung und alchemistischen Experimenten mit niederen Kreaturen wie Ratten, Fledermäusen und dem Abschaum der Bettlergassen, hatte er es geschafft, jene widernatürlichen Kreaturen zu züchten. Jedoch sei er nicht in der Lage, sie zu kontrollieren und vollendet seien sie auch nicht. Das Licht der Sonne sei wie Gift für sie. Allein die Macht dieser dunklen Gottheit könne seine Schöpfung vollenden und der seltsame Stein sei der Schlüssel zu jener Macht. Minutiös weihte er Sebastian in alle Details seines Planes ein. In drei Tagen sei es soweit. Zum Mittsommertag, dem längsten Tag des Jahres, sei die Macht der Finsternis am schwächsten und mit einem ausreichend großen Opfer sei er in der Lage, es zu beschwören und sich untertan zu machen. Einzig welches Opfer zu erbringen wäre, verschwieg er.
In diesen drei Tagen studierte Sebastian unter strengster Aufsicht seines Meisters die dunklen Rituale des kleinen schwarzen Buches. Dabei achtete der wahnsinnige Agricola akribisch darauf, dass er auch nur jene Rituale lernte, welche für die Beschwörung der Wesenheit gedacht waren. Sebastian indes tat dies nicht aus eigenem Antrieb oder Loyalität seinem Meister gegenüber. Seit jenem Abend war er wie in Bann geschlagen. All sein Denken und Handeln unterlagen einem allumfassenden Gefühl der Angst und dieses Gefühl betäubte seinen Geist. Es gab nur wenige Momente, in denen er klar denken konnte und noch weniger, in denen er allein war. In diesen fasste er jedoch den Entschluss, etwas gegen diesen Wahnsinn unternehmen zu müssen. Aber was konnte er schon allein ausrichten? Allein war er ein Nichts angesichts des Schreckens und der Macht seines Meisters. Er benötigte Hilfe, das war für ihn klar. Er dachte darüber nach, sich Abt Hilarius zu offenbaren, doch zweifelte er daran, dass dieser ihm auch nur ein Wort glauben würde. Und täte er es doch, so würde nicht nur sein Meister, sondern auch er auf dem Scheiterhaufen der Stadt landen. So erschien ihm als einziger Ausweg im Geheimen einen Boten loszuschicken, um Professor Magnus über die finsteren Pläne in Kenntnis zu setzen. Dieser würde sicherlich das Vorhaben vereiteln wollen, sei es aus welchen Beweggründen auch immer. Doch die Hoffnung, der Professor würde rechtzeitig eintreffen, schwand dahin, als der Zeitpunkt des Rituals immer näher rückte.
Der Mittsommertag war angebrochen und die Sonne hatte ihren Zenit fast erreicht, als sie erneut hinab in die tiefen Abgründe der Erde stiegen. An jenem in blutrotes Licht getränkten Ort sollte das Ritual stattfinden. Zwei Bannkreise waren auf den modrigen Boden gezeichnet, um einen jeden von ihnen zu schützen. Beide standen sie nun an ihren Positionen und Sebastian begann die Formel von dem Pergament in seinen Händen aufzusagen. N’gai, n’ghaaa-h’yuh; lä!Shub-Niggurath, n’ghaaa-ha’yo…
»So ist es recht, mein Schüler«, erfreute sich der dunkle Alchemist. Mit dem kleinen schwarzen Buch in der einen und dem geheimnisvollen Stein in der anderen Hand begann nun auch er mit dem Ritual.
»Oh schwarze Mutter des Waldes. Hiermit bringe ich dir all jene Seelen dieser Stadt als Opfer dar. So erhöre nun meinen Ruf.« I’ytz gn’tha, al i’ytz y’thul; Ph’nglui fhtagn!
Voller Entsetzten unterbrach Sebastian seinen kehligen Singsang. Hatte er richtig gehört? Sein Meister wollte das Leben aller Menschen der Stadt opfern? In diesem Augenblick begann der onyxschwarze Stein zu glühen und aus dem kristallbesetzten Inneren schossen alles zerschneidende Lichtstrahlen empor. Der Raum war getaucht in die Farben eines kosmischen Grauens und Schwaden fremdartiger Ausdünstungen stiegen aus den tiefsten Ebenen der Unterwelt empor. Hinter den Gitterstäben verfiel das widernatürliche Gezücht in einen bestialischen Rausch und seine Schreie bildeten eine Kakophonie des Grauens, während die Ausdünstungen begannen sich langsam zu einer unförmigen und gotteslästerlichen Form zu manifestieren.
Es war ein Moment des instinktiven Handelns, als sich Sebastian mit einem Satz auf seinen Meister stürzte und ihn zu Boden warf.
»Es ist zu spät, du Narr!«, zischte dieser mit einem triumphalen Lächeln.
Reflexartig ergriff Sebastian Stein und Buch und stürzte Richtung Ausgang. Als hätte er nur für diesen einen Moment je existiert, schlug er einer inneren Eingebung folgend das Buch auf und begann mit dem Stein in seiner Hand die dortige Formel zu rezitieren. Ygnaiih, ygnaiih ngh’aaa y’hah; Yog-Sothoth, h’yuh…
»Nein! Nicht!«, waren die letzten Worte, die er von seinem Meister vernahm.
Ein dunkles Grollen erhob sich und die Erde begann zu beben. In einem Aufschrei kosmischen Grauens, der jenseits aller irdischen Wahrnehmung lag, zerfiel die sich manifestierende Masse und die rasende Tobsucht des Gezüchts schwang sich in ungeahnte Sphären empor. Wie zu einer leblosen Steinsäule erstarrt, stand Sebastian da und rezitierte die Formel weiter, während Grollen und Tobsucht weiter zunahmen und die verzweifelten Schreie seines Meisters erstickten. Schließlich zerbarst die Manifestation eines finsteren Chaos vollends und der Zorn der Erde brach über sie herein. Gelöst aus seiner Versteinerung rannte Sebastian durch den endlosen schwarzen Gang, während die Erde begann seinen Meister und sein Gezücht für alle Ewigkeit zu begraben. Nur schwach erkannte er das weit entfernte und rettende Licht der Oberwelt, als die Schwärze auch über ihm zusammenbrach.
***
Der Himmel klarte langsam auf und die Nebelschwaden verzogen sich, als die Kutsche des Professors die Stadt erreichte. Die Straßen waren gesäumt von Menschen, die sich langsam aus einer tiefen Trance befreiend zurück in ihr Leben kämpfen. Keine dieser Seelen war sich des unaussprechlichen Schreckens bewusst, welchem sie gerade noch entkommen waren, als die Kutsche vor einem der Wehrtürme der Stadtmauer zum Stehen kam. Von dem Turm war außer einem rauchenden Haufen Schutt nicht viel übriggeblieben. Kurz bevor sie die Stadt erreichten, fuhren aus dem Zentrum des Mahlstromes unzählige rot leuchtende Blitze in diesen hinab und eine Präsenz des Schreckens war zu erahnen. Eine Präsenz, welche im tiefsten Inneren die Seele eines jeden lebenden Wesen zu zerreißen drohte. Kurz darauf brach der Turm in sich zusammen und das unaussprechliche Grauen war vorüber.
Durch die dampfenden Trümmer wandernd, erblickte der Professor etwas Sonderbares. Als er sich diesem nähertrete, erkannte er die ins Groteske entstellten Überreste eines vormals menschlichen Körpers. Ausgedörrt und in sich eingefallen glich dieser Körper einer Jahrtausende alten Mumie, doch erkannte der Professor mit Schrecken darin die Gesichtszüge des Jungen, welcher den Stein des Orientalen erwarb. Vorsichtig beugte er sich über diesen, um ihn näher zu begutachten. Plötzlich ergriffen die knochigen Hände seine Schulter und aus der vertrocknenden Kehle der totengleichen Gestalt ertönten die in sich ersterbenden Worte »Verbrennt es!«. Kurz darauf zerfloss diese in eine schmierig stinkende Lake menschlicher Überreste. Voller Entsetzten taumelte der Professor zurück und bemerkte in der stinkenden Pfütze ein kleines schwarzes Buch und den glanzlosen, seltsamen Stein.