• Die Anthologie ist schon seit jeher eine beliebte Form, um phantastische Erzählungen zu präsentieren. Waren es früher vor allem die zahllosen Sammlungen von Spuk- und Geistergeschichten, die das diesbezügliche Angebot dominierten, so kann ich mich angesichts einer vertieften Beschäftigung mit dem weiten Feld der HPL- und Mythos-Anthologien des zunehmenden Eindrucks nicht erwehren, dass letztere heutzutage schon rein quantitativ den guten alten Gespenstergeschichtensammlungen zunehmend den Rang abzulaufen scheinen.


    Dies ist insofern faszinierend, als dass man den „patient zero“ dieser epidemischen Entwicklung recht genau festmachen kann, und zwar dürfte es sich dabei um August Derleths vor ziemlich genau 55 Jahren bei Arkham House erschienene erste Inkarnation TALES OF THE CTHULHU MYTHOS handeln.

    Sicherlich waren einzelne Mythos-Geschichten auch vorher schon verstreut in „regulären“ Phantastik-Anthologien erschienen, aber eine komplette Sammlung, die sich vollständig der Lovecraft-Mythologie widmet, und dies mit einem hauptsächlichen Fokus nicht auf die originalen Werke des Meisters selbst, sondern auf die aufgehende Saat der epigonalen Experimente, Pastiches und Versuchen der Fortschreibung des Lovecraft‘schen Erbes aus der stetig wachsenden Gemeinder seiner Freunde und Bewunderer, das war sicherlich ein Novum.

    Während der gewohnt edel aufgemachte Arkham House-Hardcoverband zunächst nur in einer Auflage von 4024 Exemplaren erschien und hauptsächlich Mythos-„Klassiker“ aus dem reichhaltigen Weird Tales-Fundus nachdruckte - diese wurden nur um eine Handvoll Originalbeträge von (damals) jungen Autoren wie Ramsey Campbell oder Brian Lumley ergänzte -, kann die Mitte der 70er Jahre von Edward Berglund herausgegebene Sammlung mit dem durchaus als programmatisch zu verstehenden Titel THE DISCIPLES OF CTHULHU die Ehre für sich beanspruchen, erstmals den gesamten Inhalt mit neuen und eigens für diese Veröffentlichung verfassten Mythos-Stories bestritten zu haben. Bemerkenswert ist vor allem auch die Tatsache, dass Berglunds Anthologie ihre Premiere nicht mehr als ein (relativ) teures Nischenprodukt für ein exklusives Insider- und Sammler-Publikum a la Arkham House erlebte, sondern als preisgünstiges DAW-Taschenbuch für den Massenmarkt.

    Gemeinsam bildeten diese beiden Publikationen dann die Blaupausen für die Mythos-Anthologie der Folgejahre - zunächst ein eher sporadisch vor sich hin tröpfelndes Rinnsal in den 1970er und 1980er Jahren, dann in den 1990ern eine langsam steigende Tide, und schließlich in den Nullerjahren und 2010ern eine kaum mehr überschaubare und scheinbar nicht endende wollende Flut von einschlägigen Veröffentlichen, die sich auf die eine oder andere Weise auf Lovecraft und/oder seinen Mythos beziehen.

    Lange Zeit hatte mich persönlich solche „Lovecraftiana aus zweiter Hand“ grundsätzlich eher abgeschreckt, aber in den letzten Jahren habe ich gewisse perverse Faszination für diesen literarischen locus occultus entwickelt. Bisweilen scheint es sich zwar um ein Fass ohne Boden zu handeln, dessen (Un-)Tiefen nur mit einer gehörigen Portion Masochismus zu ergründen sind, aber dennoch findet sich zwischen Ungelenkem und Derivativem auch überraschend viel durchaus Passables, und bisweilen stößt man sogar auf echte Perlen…

    Woher kommt das Bedürfnis scheinbar zahlloser Autorinnen und Autoren, Lovecrafts fragmentarische Mythen und Ideen immer wieder weiterzuspinnen und in allen denkbaren Variationen durchzudeklinieren? Und was macht die Faszination für die Leserinnen und Leser aus, diesen Versuchen noch in die feinsten Verästelungen zu folgen? Gefühlt scheint es sich für mich nämlich, aller zeitgenössischen Lovecraft-Prominenz im Rollen- und Videospiel, in Film, Comic usw. zum Trotz, bei dieser genuin literarischen Erscheinungen nach wie vor eher um ein Nischenphänomen zu handeln - aber zugleich sprießen die einschlägigen Veröffentlichungen nach wie vor mit einer solchen Vehemenz aus dem Boden, dass man sich ernsthaft fragt, wo das alles enden mag…

    Irgendwie würde es mich daher schon reizen, die Entwicklung dieses Phänomens quantitativ zu analysieren, also zu erfassen, wieviele einschlägige Veröffentlichungen pro Jahr erschienen sind. Weiß zufällig jemand, ob eine solche Untersuchung vielleicht schon irgendwo durchgeführt wurde? Und falls nicht, was wäre ein sinnvoller Ansatz, um diese Fragestellung zu operationalisieren. Die Auswertung über einschlägige Tags in der ISFDB? Oder gibt es vielleicht irgendwo sonst brauchbare Listen von Mythosbezogenen Anthologien?

    Und zu guter Letzt: wie haltet Ihr es mit Lovecraft „aus zweiter Hand“? Top oder Flop, oder irgendwo dazwischen? Schließlich: in wessen Bücherregalen mögen die ganzen unzähligen Lovecraft-Hommagen der letzten Jahre wohl landen, über die auch ich, der ich mich doch inzwischen für einem relativ obsessiven Beobachter der Materie halte, beim besten Willen keinen Überblick mehr habe?

    P.S.: Einen Überblick über den Stand der Dinge circa Anfang der 2000er Jahre (mit einem offenkundigen Schwerpunkt auf den Chaosium-Themenanthologien) bietet Edward Berglunds Online-Version der „Latter-day Lovecraftian‘s library“. Eine noch wesentlich umfangreichere Liste bis Mitte der 2010er bot Alexplorers Halloween-Seite, aber diese scheint leider seit letztem Jahr komplett vom Internet-Orkus verschluckt worden zu sein, ohne auch nur in der Wayback-Machine ein Abbild hinterlassen zu haben. Ich konnte mir damals noch eine Kopie aus dem Google-Cache sichern, die ich bei Interesse gerne hier teile…

    (Ach ja, und falls dieses Posting in der Rubrik „Literatur“ besser aufgehoben ist, kann es natürlich gerne dorthin verschoben werden!)

    [font=Trebuchet MS,Helvetica,sans-serif]ET LAUDAVI MAGIS MORTUOS, QUAM VIVENTES.
    COHELETH 4:2[/font]

    2 Mal editiert, zuletzt von jolly.oddfellow (24. Oktober 2024 um 11:49) aus folgendem Grund: P.S. ergänzt

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!