Lovecrafter Online – Lovecraft geht in die Bibliothek
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Seanchui -
29. April 2024 um 12:00 -
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„Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern umfasst sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und die oberen Stockwerke sehen: grenzenlos.“
- Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel.[1]
Die Mächte des Wahnsinns (In the Mouth of Madness, 1994) - vielleicht John Carpenters letztes, großes Meisterwerk - gilt als der Abschluss der so genannten apokalyptischen Trilogie. Mehr noch als bei den Vorgängern Das Ding aus einer anderen Welt (The Thing, 1982) und Die Fürsten der Dunkelheit (John Carpenter’s Prince of Darkness, 1987) orientiert sich Carpenter an den unheimlichen Erzählungen von Howard Phillips Lovecraft und lässt das Publikum daran teilhaben. Ein weiterer wichtiger Einfluss findet sich in den Werken von Stephen King, dessen Roman Christine Carpenter bereits im Jahr 1983 verfilmte.[2]
Auf der Suche nach dem spurlos verschwundenen Romanschriftsteller Sutter Cane (Jürgen Prochnow) gerät der Detektiv John Trent (Sam Neill) in das seltsame Dorf Hobb’s End, das auch in den Büchern des Vermissten beschrieben wird. Von entsetzlichen Albträumen gequält, taucht Trent immer stärker in die Horror-Welten Canes ein, dessen Buchtitel deutlich an Lovecraft erinnern: The Whisperer of the Dark, The Thing in the Basement, Haunter out of Time und The Hobbs End Horror. Die Umschläge ähneln den damaligen Veröffentlichungen Stephen Kings.
Der Film beginnt in der Psychiatrie, eine deutliche Anspielung an den Fall Charles Dexter Ward - Lovecrafts Geschichte sollte ursprünglich den Titel The Madness out of Time tragen - und an Das Ding auf der Schwelle. Die Figuren Lovecrafts sind entweder selbst Schriftsteller - Edward Derby schrieb bereits im Alter von sieben Jahre düstere Gedichte - oder eifrige Leser okkulter Bücher wie dem Necronomicon oder Juntzt’ Unaussprechliche Kulte.
Der durch seine Psychiatrie-Kritik bekannte Sozialphilosoph Michel Foucault prägte auch den Begriff des „Bibliotheksphänomens“ mit Bezug auf das literarisch „Imaginäre“, welches nicht mehr im Kontrast zur Realität steht, sondern „sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen“ ausdehnt. „Das Chimärische entsteht jetzt auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, der, geöffnet einen Schwarm vergessener Wörter entlässt; es entfaltet sich säuberlich in der lautlosen Bibliothek mit ihren Buchkolonnen, aufgereihten Titeln und Regalen, die es nach außen ringsum abschließt, sich nach innen aber den unmöglichsten Welten öffnet.“ Gustave Flauberts Versuchung des Heiligen Antonius (1874) ein „Werk, das sich über den ganzen Raum der vorhandenen Bücher erstreckt“ versteht Foucault als den Beginn von Literatur, die ihren „Ort einzig und allein im Umkreis der Bücher hat“.[3] Danach werden Texte wie Jorge Luis Borges’ Die Bibliothek von Babel - das Universum ist gebildet aus der Welt der Bücher[4] - oder auch die unheimlichen, ineinander verwobenen Erzählungen eines Lovecraft, dem Borges seine 1975 erschienene Erzählung These Are More Things widmete, oder eines Stephen King erst möglich.
Trotz der düsteren Atmosphäre ist der Film aber auch ein ironischer Kommentar auf den Erfolg des Horror-Genres. Christian Endres stellt berechtigt fest, dass beide Autoren „mit ihrer weitreichenden Literatur alle möglichen Menschen (erreichen, S. P.) – es gibt in jeder Altersgruppe und Gesellschaftsschicht Anhänger von Stephen King und H. P. Lovecraft, ob junge Schüler oder ältere Akademiker, ob mittelalte Rollenspiel-Cracks oder in Rente gegangene Finanzmanager, ob Großmütter oder deren Teenager-Enkel.“[5]
Lovecraft zählt zu den wichtigsten Einflüssen von Stephen King: In Die Augen des Drachen (The Eyes of the Dragon, 1983) liest Flagg in einem in Menschenhaut gebundenen Buch, das auf der fernen Hochebene von Leng von Alhazred verfasst wurde: unverkennbar das Necronomicon! Besonders negativ beschrieben wird bei King die öffentliche Bücherei von Junction City in Der Bibliothekspolizist (The Library Policeman, 1991), was auch möglicherweise auf den frühen Umgang mit den ersten Buchveröffentlichungen zurückgeführt werden kann: aus den Schulbibliotheken von Las Vegas und Vermont wurde Carrie und aus den Büchereien von Campbell County und Vancouver wurde Shining entfernt.[6] Begegnen wir bei King Monstrositäten wie der Bibliotheksleiterin Ardelia Lortz, die in Wahrheit ein lovecraftsches Monster ist, sind wir in der Realität beim Gang in die Bibliothek - wie Umberto Eco in einem 1981 erschienen Essay festhält - mit inkompetentem Personal, unfreundlichen Bibliothekaren und vergeblichen Suchen in unübersichtlichen und unvollständigen Katalogen konfrontiert.[7] Auch der Bibliothekar Henry Armitage aus Lovecrafts Das Grauen von Dunwich (The Dunwich Horror, 1929), der über die okkulten Bände der Miskatonic Universität wacht - der dortige Buchbestand wird als sehr umfangreich beschrieben - wirkt mit seiner akademischen Arroganz als unsympathische Figur.
Bereits 1936 beschreibt Lovecraft im Schatten aus der Zeit (Shadow out of Time) wie die Yith riesige Bibliotheken mit dem gesammelten Wissen der Erde anlegen. Borges’ Bibliothek von Babel erschien erst 1941. Ein Gedanke Borges’ trägt allerdings deutlich lovecraftsche Züge, nämlich, dass wenn die Menschheit ausstirbt, „die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen, unbeweglich, gewappnet mit mehreren kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim.“[8] Dieses beklemmende Gefühl stellt sich auch am Ende von Die Mächte des Wahnsinns ein. Was, wenn Gedanken, Gefühle, Handlungen nur die Fiktion eines Autors sind? Bei seiner Veröffentlichung wurde die möglicherweise beste Lovecraft-Verfilmung bei Publikum und Kritik verkannt, heute kann sie als gleichrangig mit den Bibliotheks-Thrillern Der Name der Rose (1986) und Sieben (1995) gesehen werden.
[1] Borges, Jorge Luis (1989): 25. August 1983 und andere Erzählungen. München. S. 15.
[2] Siehe hierzu meine Kritik Die Liebe zu einem Auto und das beschädigte Leben. URL: https://blog-fluxkompensator.de/christine-1983-filmkritik.
[3] Foucault, Michel (1966): Nachwort. In: Gustave Flaubert. Die Versuchung des Heiligen Antonius. Frankfurt am Main. S. 221 - 224.
[4] Der frühere Direktor der argentinischen Nationalbibliothek Jorge Luis Borges fungierte auch als Vorbild für eine der Figuren aus Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1980), indem eine riesige, labyrinthartige Bibliothek eine große Rolle spielt.
[5] Endres, Christian (2023): Vorwort. Neuenglischer Schrecken. In: Stephen King: Briefe aus Jerusalem - Erzählungen kosmischen Schreckens. Leipzig. S. 10. Diese im Festa Verlag erschienene Publikation enthält neben der titelgebenden Kurzgeschichte auch die ebenso deutlich Lovecraft-inspirierten Erzählungen Crouch End, N. und Gramma. Das Titelbild und die weiteren Illustrationen des Bandes von Dirk Berger erscheinen deutlich von den Carpenter-Filmen Prince of Darkness und In the Mouth of Darkness beeinflusst.
[6] Feige, Marcel (2001): Das große Lexikon über Stephen King. Das Kompendium des King of Horror - die Romane und Filme, Orte und Figuren. 2. erweiterte Auflage. Berlin. S. 43, 187, 322.
[7] Köhn, Rolf (1988): „Unsere Bibliothek ist nicht wie die anderen…“ Historisches, Anachronistisches und Fiktives in einer imaginären Bücherwelt. In: Max Kerner (Hrsg.): „…eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman >Der Name der Rose<. 3., unveränderte Auflage. Darmstadt.
[8] Borges, a. a. O., S. 27, Köhn, a. a. O., S. 111.
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