Alles anzeigenNicht in allen Rollenspielen spielt man klassische „Held:innen“, die für „das Gute“ kämpfen und deren Sinn und Zweck sich um die Vernichtung des „Bösen“ dreht (was in meinen Augen sowieso eine eher platte Prämisse ist, und aus Sicht der Gegenseite wohl kaum besonders „gut“ wirkt), oder Ermittler:innen, die Verbrechen aufklären.
In manchen Spielen oder Kampagnen werden bewusst andere Figuren gespielt.
Figuren, die für ihre Ziele Verbrechen begehen. Und deren Tun und Handeln in der Runde auch wenig gesetzeskonform ist. Ganze Spiele drehen sich um diesen Aufhänger.
Gerade im Cyberpunkgenre spielt man in aller Regel eher nicht die gesetzestreuen Konzernbürger:innen, sondern Menschen, die Verbrechen begehen, um damit Geld zu verdienen.
Denn nichts anderes tut man beispielsweise bei Shadowrun in aller Regel – auch wenn natürlich auch andere Kampagnen möglich sind, die zB. Geheimdienstarbeit oder ein mobiles Ärzteteam umfassen. Aber der Normalfall sind die Charaktere Leute, die illegale Aktionen durchführen und damit Geld verdienen.
Das heißt nicht, dass sie dadurch automatisch amoralisch handeln – gerade im Cyberpunkgenre sind die Gesetze selten auf das Wohl der Bürger:innen ausgerichtet, Polizei und Staat entweder korrupt oder nichtexistent, und die Konzerne haben dermaßen viel Dreck am Stecken, dass ihnen zu schaden zwar illegal, aber durchaus irgendwo zu rechtfertigen ist. Daher scheint das für die meisten Gruppen wenig problematisch zu sein.
Schwieriger wird es dagegen für Spielende teilweise, wenn eine Kampagne diesbezüglich näher an der Realität ist, und es sich moralisch kaum rechtfertigen lässt, was die Charaktere tun.
Wenn ich daran denke, wie schwierig es ist, Spieler:innen für Cartel zu finden – denn eine Kampagne mit Charakteren, die in irgendeiner Form mit dem Sinaloa-Kartell in Verbindung stehen, das ist ein anderes Kaliber, und nicht unbedingt massentauglich.
Denn es ist weniger abstrahiert in eine ferne Zukunft und andere Gesellschaft. Und naturgemäß mit Verbrechen beschäftigt, die sich eben nicht so schön rechtfertigen lassen wie der Kampf gegen übermächtige Megakonzerne in der dystopischen Zukunft.
Denn diese real existierenden Kartelle bringen jede Menge Unglück über Menschen, solche die mit ihnen in Verbindung stehen, aber mehr noch unschuldige, unbeteiligte Personen. Die Mordrate in Mexiko ist durch den Krieg gegen die Drogen und die brutale Gewalteskalation der verschiedenen, miteinander in Konflikt stehenden Kartelle schrecklich hoch. Von daher sind solche Figuren und Themen im Rollenspiel schwierig. Absolut verständlicherweise.
Dabei lässt sich auch mit einem Spiel wie Cartel das schwierige Geflecht menschlicher Interaktionen beleuchten. Man denke an Serien wie Narcos, wo es um den Kampf um Einfluss und Handelsrouten geht, aber auch den Versuch, sich politisch abzusichern, Spitzel zu enttarnen und dergleichen mehr. Gleichzeitig zerbrechen Familien daran, Beziehungen gehen in die Brüche, Menschen wenden sich voneinander ab, sind entsetzt über die Taten des Gegenübers. Cartel fokussiert sich durchaus stark auf den inneren Stress und Druck, den dieses Leben ausübt – und den man ggf. mit Substanzen versucht zu betäuben, oder sich für ein etwas ruhigeres Gewissen der Beichte zuwendet. Worte und ein Angriff auf den Ruf können genauso verletzen wie Fäuste. Loyalität ist wichtig, aber sie hat Grenzen.
Kommt es zu Gewalt, ist diese nicht comichaft überzeichnet, sondern mehr an der Realität orientiert. Was bedeutet: Sie ist hässlich. Nicht irgendwie cool und stylish, sondern eher schockierend. Werden bei Cartel die Knarren gezückt, dann ist das ein sehr harter Move. Und der kann schnell tödlich enden. Wenn man sich eine Kugel fängt, dann bedeutet ein nicht bestandener Wurf den Tod des SCs.
Brutale, nackte Gewalt ist daher naturgemäß schnell das Ende für eine der beteiligten Seiten, und man überlegt sich zweimal, ob man wirklich eine Pistole zieht und die Konsequenzen in Kauf nimmt.
Cartel ist ein Spiel, wo man sehr unterschiedliche Charaktere spielen kann, die in irgendeiner Form mit dem Sinaloa Kartell in Verbindung stehen. Ob man nun die Ehefrau eines Narcos spielt (die vielleicht mehr vom Business mitbekommt als ihr lieb ist), einen Spitzel, eine Sicaria des Kartells, einen Cop oder jemanden aus der Führungsebene des Kartells – sie alle werden in irgendeiner Form gegen Gesetze verstoßen, sie beugen, und irgendwann wahrscheinlich dafür bezahlen. Eher früher als später.
In meinen Augen sind bei so einer Thematik eine gute Vorbesprechung in Session Zero und Sicherheitstechniken essentiell. Daher werden diese auch im Regelwerk sehr bewusst angesprochen.
Dann lassen sich damit spannende Geschichten aus der kriminellen Unterwelt erzählen, voller Drama, Scheitern, Schuld und Sühne. Ganz im Stile von Serien wie Narcos.
Dabei finde ich es vorteilhaft, dass die SCs aus dem Umfeld des Sinaloa-Kartells stammen. Keine Leute von Los Zetas, deren Gräueltaten die vieler anderer Kartelle in den Schatten stellten, und die Gewalteskalation vorantrieben.
Letztlich hat die Lektüre von Cartel mich sehr zu meinem Biohazard Charakter Chayo inspiriert, die eine Sicaria von Los Zetas war, ehe die Gesellschaft kollabierte. Schuldgefühle und Reue für einige der durch sie begangenen Morde, Traumata, aber auch Probleme mit erlernten, aggressiven Verhaltensweisen und fehlender Impulskontrolle. Extreme Probleme dabei, funktionale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Und eben das verinnerlichte Gefühl, in Gefahr zu sein – zugegeben, der Aspekt war in der Zombieapokalypse für sie kein Nachteil.
Man kann auch im Rahmen einer Kampagne mit Kriminellen im Fokus sehr menschliche, abgründige und emotionale Geschichten gestalten. Es erfordert aber Spieler:innen, die sich darauf einlassen wollen, und Sicherheitstools.
Quelle: https://cthulhuskartenkiste.wordpress.com/2021/08/17/rpg-a-day-verbrechen/