Sorben hat geschrieben: ↑15.08.2017, 16:57
Hm. Also für mich gelten eher historische Fakten, da muss ich nicht in einer Epoche gelebt haben. Allerdings wird mir vielleicht klar, warum wir hier auseinander gehen. Du hast sicher recht damit, dass es andere Strömungen gab. Ich bezeichne Südafrika vor 1989 auch als rassistisches Land und dort gab es auch andere Strömungen. Für mich gilt die Norm in Form von Gesetzen, gesellschaftlichen Verhaltensweisen und staatliches Handeln.
Man muss sicher nicht in der Epoche gelebt haben, um nachzuweisen, dass auch für Lovecraft Rassismus keine unumstößliche, von der Gesellschaft zwingend vorgegebene Sichtweise gewesen sein kann.
Man müsste aber vermutlich doch dort gelebt haben, um wirklich verstehen zu können, welchen Einfluss öffentliche Meinungsbilder tatsächlich auf ihn (zumal ein Sonderling und vielfach Einzelgänger) gehabt haben.
Aber wofür ist die Frage, ob die USA zur Zeit von Lovecraft "rassistisch war", hier im Moment eigentlich relevant?
1) Soll sie zur Aufklärung dienen, worin die Wurzeln Lovecraft's rassistischer Äußerungen lagen? Geht es um die
Ursachenforschung im Sinne einer Kausalität, nach dem Motto: Die Menschen um Lovecraft herum waren (vereinzelt / teilweise / mehrheitlich) rassistisch und Lovecraft hat es so "gelernt".
Da würde es sicher schwer, die Relevanz solcher Aspekte für Lovecraft als einem extrem belesenen Intellektuellen aus unserer heutigen Sicht noch abschließend zu bewerten und zu gewichten (s.o.). Es sind so viele andere Gründe denkbar, die den Anstoß für Lovecraft gegeben haben könnten.
Zunehmend glaube ich, dass man zu schnell nach dieser Erklärung greift. (Ich habe früher schon einmal neben anderen Beispielen auf Martin Luther verwiesen. Mein erster Gedanke war auch dort, er sei ein Kind seiner Zeit gewesen. Diese Vorstellung habe ich inzwischen beiseite gelegt. Auch dort scheinen wohl andere persönliche Gründe, wie die Enttäuschung, die Juden nicht zu dem neuen, reformierten Glauben bekehrt zu haben, ausschlaggebend gewesen zu sein.)
Bei jedem normalen Menschen wird das Umfeld jedenfalls immer AUCH MITursächlich gewesen sein. Gegebenenfalls ist es ein Nährboden. Mehr aber zumeist wohl nicht. Es ist doch eher ein automatischer Reflex eines gebildeten oder auch nur mittelmäßig erzogenen Menschen, zunächst einmal selbst nachzudenken, bevor man einen anderen Menschen oder eine ethnische/religiöse/sonstige Gruppe von Menschen wüst und öffentlich verunglimpft.
2) Oder geht es bei dem Aspekt der Verbreitung rassistischen Gedankengutes in der Gesellschaft um Lovecraft herum in dieser Diskussion nicht eher eigentlich um eine
Bewertung der individuellen Schuld, um eine ethische Bewertung? Geht es also um die Frage, ob Lovecrafts rassistischen Texte hierdurch entschuldbar werden? (Das wäre schön, könnte man sich doch viel unbefangener mit Lovecraft befassen und dieses Thema abhaken.)
Bei der Schuldfrage helfen meiner Ansicht nach historische Fakten in Form von gesellschaftlichen Verhaltensweisen oder gar Gesetzen und staatlichem Handeln gerade nicht weiter. Denn ethische Verantwortung eines jeden Menschen liegt letztendlich darin, sich selbst dann, wenn die o.g. "Norm" gegen Menschenrechte und Humanismus verstößt (was hinsichtlich Lovecraft aufzuklären bliebe), dem nicht unterzuordnen. Ganz selbstverständlich und zutreffend verurteilen wir die Mitläufer des Nationalsozialismus, obwohl die Verunglimpfung, Verfolgung, Plünderung und Deportation von Juden seinerzeit Gegenstand von "Gesetzen, gesellschaftlichen Verhaltensweisen und staatlichen Handeln" war. Rassismus bleibt immer gemessen an elementarsten Menschenrechten ein Unrecht, gleichgültig wo er auftritt. Selbst wenn es "um Lovecraft herum" eine solche "Norm" gegeben hätte, könnte dies seine Texte nicht entschuldigen. Denn jedenfalls hätte auch zu Lebzeiten wohl niemand Lovecraft daraus auch nur einen Vorwurf gemacht, hätte er sich dieser Schmähungen enthalten.
Mit dem Verweis auf "historische Fakten" kann ich mich anfreunden. Die Formulierung "Norm in Form von Gesetzen, gesellschaftlichen Verhaltensweisen und staatliches Handeln" erscheint mir problematisch, denn dies vermittelt ein wenig den Eindruck, die "Norm" im Sinne des "Normalen" sei Rassismus gewesen und hieraus habe sich ein Druck oder eine irgendwie geartete Zwangsläufigkeit ergeben, sich in Wort oder Schrift rassistisch zu äußern. Und hieran habe ich erhebliche Zweifel. Selbst an eine "Gedankenlosigkeit" bzw. "Unbedarftheit" angesichts einer "Norm" mag ich eigentlich nicht glauben.
Was ist überhaupt die "Norm"? Ein Beispiel: Im beginnenden Nationalsozialismus hatte mein Großvater ein Tuchgeschäft. In der Nachbarschaft unterhielt eine Jüdin einen Laden. Als die Nazis ihr den schlossen und die Frau zunehmend isoliert war, kam sie zu meinem Großvater ins Hinterzimmer des Ladens, um so zumindest die Gespräche ihrer Nachbarn und früheren Kunden mitanhören zu können. Offenes gesellschaftliches Leben war damals - vielfach der Angst geschuldet - die Isolation, wo es nicht gesehen wurde, lebten die Menschen oft anders. Wie viele Menschen haben sich an der Reichskristallnacht beteiligt und wie viele sie - aus Angst stumm - verurteilt? Was war das "gesellschaftliche Leben", das aktive Mitwirken, das Schweigen in der Öffentlichkeit oder der Flüsterwitz im Dritten Reich? Ich denke alles zusammen. (Allerdings habe ich selbst weiter oben einmal den nicht minder undifferenzierten Begriff "Zeitgeist" verwendet.)
Die Menschen im Dritten Reich hatten nicht immer, aber im täglichen Leben doch meistens eine Wahl: Wer sich an den Angriffen auf Juden beteiligt hat, dessen Schuld kann nicht dadurch gemildert werden, dies sei die "gesellschaftliche Verhaltensweise" gewesen sei. Wer Hetzschriften gegen die Juden verfasste, kann nicht damit verteidigt werden, dass es damals "en voge" gewesen sei.
Nicht anders ist es meines Erachtens bei Lovecrafts rassistischen Äußerungen. Moralisch zu entschuldigen sind diese Texte m.E. durch nichts, auch nicht durch irgendwelche Mehrheitsverhältnisse in Meinungsbildern seiner Zeit.
Wie schon vielfach ausgeführt wurde, darf man Lovecraft ungeachtet dessen nicht auf diese Aussagen und (zumal nicht einmal konsistenten) Ansichten reduzieren und man kann ihn auch nicht allgemein als Rassisten brandmarken.
Schlussbemerkung:
Interessant finde ich persönlich, wie ähnlich oft die Diskussionen um historischen Personen verlaufen, die einerseits großes geleistet haben und andererseits mit solchen "Makeln" behaftet sind. Man schaue sich nur den
hier verlinkten Beitrag über Luther an, aus dem ich mal folgendes Zitat beispielhaft anfüge:
Ein Großteil der Gedanken Luthers widerspricht unserem heutigen, an den Menschenrechten orientierten normativen Konzept. Der "gute" Luther lässt sich nicht von dem »bösen« trennen. Luther muss als Gesamtpersönlichkeit gesehen werden.