Lovecrafter Online – Computerspiel-Rezension: Dreams in the Witch House
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Rahel -
16. Februar 2023 um 12:00 -
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Arkham, Massachusetts: Der Student Walter Gilman ist in das kleine Städtchen gezogen, um sich gänzlich seinen wissenschaftlichen Bestrebungen zu widmen. Dafür zieht er in ein karges, zugiges Dachzimmer. Schon bald plagen ihn verstörende Träume, in denen immer wieder eine alte Frauengestalt und eine seltsame Ratte mit Menschengesicht vorkommen. Gilman muss feststellen, dass so manches Geheimnis hinter der Fassade seines Wohnhauses – auch bekannt als Arkhams „Hexenhaus“ – lauert.
Die Kurzgeschichte nachspielen: Macht das Spaß?
Mit Dreams in the Witch House stellt die Ein-Mann-Firma Atom Brain Games, hinter der der Finne Antti Laakso steckt, eine spielerische Adaption von H. P. Lovecrafts Träume im Hexenhaus vor. In Hinblick auf das Storytelling schlägt das Spiel eine exzellente Richtung ein, die die Gratwanderung zwischen treuer Adaption und frischen Ideen meistert. Inhaltlich erkennt man die Vorlage sofort, ist jedoch nicht auf Vorwissen angewiesen. Somit eignet sich das Spiel auch für diejenigen, die bisher keine Berührungspunkte mit Lovecraft oder dieser spezifischen Erzählung hatten. Zugleich greift Dreams in the Witch House scheinbar nebensächliche Elemente der literarischen Vorlage auf und baut sie zu eigenständigen Spielelementen und Handlungsorten aus, um auch denjenigen, die die Kurzgeschichte allzu gut kennen, neue Pfade zu bieten. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die unbewohnte Insel im Fluss, die in Lovecrafts Erzählung kurz Erwähnung findet; im Videospiel können Spielende dieses Eiland besuchen und auch dort einige Rätsel lösen.
Etwas zu kurz kommen allerdings die NPCs („Non-Player Characters“) des Spiels. Auf seinen Erkundungstouren durch Arkham und die Miskatonic Universität kann Walter zahlreiche Personen treffen und sich teilweise mit ihnen anfreunden. Keiner dieser Charaktere bleibt jedoch nachhaltig im Gedächtnis; sie sind alle recht eindimensional und gleichen sich in ihren Persönlichkeiten stark. Das liegt vor allem daran, dass es recht wenige Interaktionsmöglichkeiten mit den Figuren gibt. Eine Ausnahme hierzu ist bestenfalls Henry Armitage; er tritt in Dreams in the Witch House als der leitende Bibliothekar der Universität auf und unterstützt Walter sowohl in dessen Forschungsbemühungen in den okkulten Wissenschaften als auch bei seinen mysteriösen Träumen im Hexenhaus. Auffällig ist natürlich, dass der abwechslungsreichste Charakter des Videospiels eine Figur ist, die in der literarischen Vorlage nicht auftritt. Lovecrafts Erzählungen sind nicht wirklich für ihre spannenden Charakterisierungen bekannt und so mag es sein, dass die schwachen Figuren des Computerspiels durch die Vorlage bedingt sind. Aber die Darstellung Henry Armitages beweist, dass es auch anders gegangen wäre. Hier hätte das Spiel von etwas mehr Detailarbeit profitiert.
Wünschenswert wären auch einige zusätzliche Handlungsorte gewesen. Recht häufig besucht man immer wieder dieselben Orte, ohne dass sie sich merklich verändern oder weitere Räumlichkeiten erschlossen werden. Die verhältnismäßig geringe Anzahl an Stages wird allerdings mit den begrenzten zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten des Spieleentwicklers begründet sein.
Point-and-Click + Survival + Echtzeit + …: Ein wilder Genremix
Ästhetisch orientiert sich Dreams in the Witch House ganz klar an den pixeligen Point-and-Click-Adventures, die ab Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre der Goldstandard der Computerspielbranche waren. Dieses Genre fokussiert sich in erster Linie auf Rätsel, die gelöst werden müssen: Der Schlüssel zu einer verschlossenen Tür muss gefunden werden, die Zutaten für ein Rezept müssen gesammelt oder durch adäquate Alternativen ersetzt werden usw. Geschicklichkeitselemente, wie man sie aus Jump’n’Runs kennt, gibt es dagegen nicht. Insbesondere Titel wie Monkey Island und Maniac Mansion machten das Genre seinerzeit berühmt. Doch Ende des Jahrhunderts konnten sich Point-and-Click-Adventures nicht mehr gegen technisch anspruchsvollere Genres (bspw. First-Person-Shooter oder Third-Person-Action-Adventures) durchsetzen und verschwanden vom Markt. In den letzten Jahren tauchen im Zuge einer Nostalgiewelle vermehrt wieder Point-and-Click-Adventures auf, die meistens gar der Pixeloptik der „guten alten Zeit“ treu bleiben und in der Regel von kleinen, unabhängigen Studios vorgestellt werden.
Diesem Trend folgt auch Dreams in the Witch House, vermischt die üblichen Mechaniken und Regeln des Point-and-Click-Genres aber mit Elementen von Echtzeit- sowie Survival-Games – eine absolut ungewöhnliche Mischung. Bei Point-and-Clicks ist es in der Regel völlig egal, wie lange man über ein Puzzle nachdenkt, erst durch „Spielzüge“ schreitet die Erzählzeit im Spiel voran. Für das Lovecraft-Spiel setzt Atom Brain Games jedoch auf eine Echtzeitkomponente mit Tag-/Nacht-Zyklus: Charaktere können nur zu bestimmten Zeiten besucht werden, die Universität schließt samt Bibliothek gegen Abend, Veranstaltungen wie Vorlesungen und Verabredungen können verpasst werden.
Ebenfalls in Echtzeit schreiten die Bedürfnisse der Spielfigur voran: Walter wird mit der Zeit müde und hungrig; wenn es regnet oder friert, kann er sogar krank werden, sofern man sich zu lange draußen aufhält. Je müder Walter ist – und aufgrund seiner seltsamen Träume ist der Student bald schon völlig übernächtigt – desto weniger leistungsfähig ist er. Das äußert sich konkret in Charakterwerten, wie man sie auch aus dem Pen-and-Paper-Rollenspiel kennt. Schlafentzug führt ab einem gewissen Punkt zu Verlusten in der geistigen Stabilität und körperlichen Gesundheit. Außerdem ist die Aufnahmefähigkeit für Walters Studium verringert: Er kann sich also schlechter neues Wissen aneignen, das er jedoch teilweise braucht, um seine eigenen Träume zu enträtseln.
Dieser Genremix wird nicht allen Spielenden zusagen. Insbesondere die Echtzeit-Komponente weicht stark von der Gewohnheit des Point-and-Click-Adventures ab, da hier Rätsel unter Zeitdruck gelöst werden müssen. Ob dieses Element wirklich nötig gewesen wäre, ist fragwürdig. Sicherlich, auch in Lovecrafts Erzählung spielt die Zeit eine große Rolle, denn Gilman erfährt, dass im Hexenhaus üblicherweise zur Walpurgisnacht schlimme Dinge passieren – und je näher eben diese Nacht rückt, desto grauenvoller werden seine Erlebnisse im Haus. Um aber diesen Zeitdruck spielmechanisch umzusetzen, hätte es nicht unbedingt einer Echtzeitlösung bedurft. Auch hier hätte man stattdessen mit Spielzügen arbeiten können, indem man beispielsweise festlegt, dass Walter nur eine bestimmte Anzahl von Aktionen pro Tag ausüben kann, bevor er schlafen oder essen muss. Gepaart mit den Survival-Aspekten kann Dreams in the Witch House daher durchaus anstrengend bis nervig werden.
Doch letztlich ist das Geschmacksfrage. Egal, was man von Echtzeit und Survival hält, so lässt sich nicht abstreiten, dass Dreams in the Witch House selbstbewusst neue Wege ausprobiert und damit dem Point-and-Click-Genre neue Anstöße gibt. Dankenswerterweise verlässt sich das Spiel nie auf billige Tricks wie Pixelhunting oder Jump-Scares. Insbesondere letzteres ist begrüßenswert, denn es macht das Spiel auch denjenigen zugänglich, die Horrorgames in der Regel meiden. Zwar ist das Sujet ebenso wie in Lovecrafts Vorlage reichlich düster und erstaunlich grausam; das Videospiel setzt aber immer auf Atmosphäre und impliziten Grusel statt auf Gore, Spektakel und Jump-Scare.
Etwas verwunderlich ist, dass Dreams in the Witch House laut Beschreibung ein Open-World-Game sein möchte – also ein Spiel mit besonders vielen Freiheiten und Möglichkeiten in puncto Welterkundung. Ja, man kann in diesem Spiel entscheiden, was man wann tun möchte. Ein Open-World-Titel ist es deswegen aber noch nicht.
Im Retrolook zum Erfolg: Die technische Umsetzung
Dadurch, dass Atom Brain Games auf Nostalgie setzt, bedarf es für das Spielvergnügen keineswegs eines High-End-Rechners. Das Spiel hat geringe technische Anforderungen und frisst kaum Speicherplatz. Auch in Hinblick auf die Bedienung ist Dreams in the Witchhouse niedrigschwellig, denn es gibt keinerlei Geschicklichkeitselemente.
Der Titel eignet sich also auch für Menschen, die wenig bis keine Spielerfahrung haben; lediglich Interesse an den teils skurrilen Rätseln, wie sie für das Point-and-Click-Genre typisch sind, sollte man mitbringen. Eine Sprachausgabe hat das Spiel nicht. Dialoge und Beschreibungstexte werden ausschließlich über Text ausgegeben, der zudem ausschließlich auf Englisch verfügbar ist. Dennoch verfügt das Spiel über eine atmosphärische Geräuschkulisse und einen kleinen Soundtrack. Das ein oder andere Rätsel ist sogar soundbasiert. Auf Lautsprecher oder Kopfhörer sollte man daher also trotz fehlender Sprachausgabe nicht verzichten.
Zu Beginn kann man aus vier Schwierigkeitsgraden wählen, die sich in erster Linie auf die Puzzles und Walters finanzielle Mittel auswirken. Je nach gewähltem Grad dauert ein Spieldurchlauf 8-10 Stunden. Dadurch, dass das Spiel viele verschiedene Rätsel bietet, die nicht unbedingt für das Weiterkommen gelöst werden müssen, und man generell nicht jedes Ende in einem Durchlauf freischalten kann, lockt Dreams in the Witch House mit weiteren Spieldurchläufen.
Fazit
Wer Lovecraft mag und Retrogames liebt, kann mit Atom Brain Games’ Dreams in the Witch House nichts falsch machen. Als liebevoll gestalteter Indie-Titel zieht das Spiel schnell in seinen Bann. Der Genremix aus Point-and-Click, Survival und Echtzeit ist eigentümlich und wird nicht allen zusagen. Den Versprechungen von Open-World-Features wird das Spiel nicht gerecht. Empfehlenswert ist Dreams in the Witch House unterm Strich dennoch zweifelsfrei und weiß insbesondere mit den abwechslungsreichen Rätseln und der dichten Atmosphäre zu punkten.
Weitere Info zum Spiel findet ihr bei Steam.
Hinweis
Vor offiziellem Release am 16.02.2023 gab es noch kleinere Bugs, von denen in Vorbereitung dieser Rezension lediglich einer zum Spielabsturz führte. Beim ersten Durchlauf hat die Rezensentin es erfolgreich geschafft, das schlechtmöglichste Ende zu erreichen – dafür gab’s bei Steam extra eine entsprechende Medaille.
Gewinnspiel
Atom Brain Games hat uns einen Steam-Key für eine Verlosung gegeben – und ihr könnt ihn gewinnen! Beantwortet uns dafür einfach bis zum 19.02.23 um 20.00 Uhr die folgende Frage: Wer leitet die Bibliothek der Miskatonic Universität?
Schickt eure Antwort per E-Mail an thorsten.panknin@deutschelovecraftgesellschaft.de mit dem Betreff „Gewinnspiel zu Dreams in the Witchhouse“, er meldet sich dann, falls euch das Glück hold war.
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