Lovecrafter Online – Kurzgeschichte: Die Kranenbroicher Mühle
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LordJohn -
14. November 2022 um 12:00 -
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„I am the god of hellfire and I bring you…”
“Oh nein, mach das aus!“, stöhnte Nele auf dem Beifahrersitz.
Konrad grinste und tat, worum er gebeten worden war. „Ja, der Anfang ist echt cool, aber dann wird es so… schlagermäßig.“ Nele stellte die Rückenlehne gerade, gähnte und verzog das Gesicht. Sie sah sich um. „Müssten wir nicht bald da sein?“
Konrad nahm einen Schluck von dem Kaffee, den er sich an der letzten Autobahnraststätte gekauft hatte. Eine Fahrt von Hamburg an den Niederrhein war lang. Dann sagte er: „Laut Navi sind wir in fünf Minuten da.“ Er nickte in Fahrtrichtung. „Ich glaube, die Häuser da vorne gehören schon zu Kranenbroich.“ Nele folgte seinem Blick und sah jenseits eines weiten Maisfeldes mit kümmerlichen und größtenteils bräunlich verfärbten Pflanzen einige rote Backsteinhäuser unter Birken stehen.
Nele nahm ihren Kaffeebecher aus der Halterung und trank einen Schluck. Sie verzog das Gesicht. „Scheußlich… und kalt.“ Sie trank gleich noch einmal und behielt den Becher in der Hand. „Weißt du, wie heiß es draußen ist?“„Im Radio haben sie gesagt, dass es in Düsseldorf 38 Grad sind. Die Außenanzeige ist sogar bei 39.“
Bevor Nele auf diese Information reagieren konnte, ertönte eine weibliche Stimme: „In 200 Metern rechts abbiegen.“ Das Navi führte sie auf einen geraden, staubigen Feldweg, der auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt war. Selbst durch die getönte Scheibe des Wagens sah Konrad die vielen braunen und kahlen Stellen in den Baumkronen. Der erneute Hitzesommer hinterließ auch im Rheinland seine Spuren.
„Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Konrad fuhr aus seinen Gedanken auf und bemerkte, dass der Weg auf einem mit Kies bedeckten Parkplatz endete. Zu ihrer Linken sahen sie die Fassade eines zweistöckigen Gebäudes aus rotem Bachstein. Sie waren am Ziel ihrer Reise angekommen, der Kranenbroicher Mühle.
„Hast du die Reservierung?“ Nele sah missmutig zu dem alten Gebäude hinüber. Eine braune Strähne hatte sich gelöst und sie wischte sie genervt zur Seite. Konrad wusste, seine Freundin war nicht begeistert gewesen, als er ihr Düsseldorf als Ziel ihres ersten gemeinsamen Urlaubs vorgeschlagen hatte. Ein Hotel mit Vollpension auf Teneriffa – das wäre eher ihre Vorstellung gewesen. Aber er hatte ihr mit nur schwer zu zügelnder Aufregung berichtet, dass das einzige Deutschlandkonzert der usbekisch-amerikanischen Death Metal Newcomer Tomb Legions Ende August in Düsseldorf stattfinden werde. Außerdem befinde sich in der Stadt am Rhein die größte japanische Gemeinde außerhalb des Mutterlandes – das müsse sie als Manga-Fan doch interessieren. Schließlich hatte Nele sich überzeugen lassen und auch keinen Rückzieher gemacht, als Konrad festgestellt hatte, dass zeitgleich zwei Messen in der NRW Landeshauptstadt stattfanden und sich das einzige online noch buchbare Hotel in einem Nest etwa 20 Kilometer südlich am linken Rheinufer befand.
Konrad angelte nach seiner Umhängetasche. Er grinste Nele aufmunternd zu, beugte sich zu ihr hinüber, um ihr einen Kuss zu geben. Dann öffnete er die Beifahrertür. Die Hitze traf ihn wie ein Schlag. „Oh Mann! Ich hoffe, die haben eine Klimaanlage!“
Der Weg zum Eingang führte durch einen kleinen Vorgarten. Auf gelb verbranntem Rasen standen welkende Büsche. Rechts neben der Tür war an der Wand ein Schaukasten angebracht, der neben der Speisekarte auch das Foto eines über das ganze Gesicht strahlenden, äußerst korpulenten Mannes im weißen Anzug enthielt. Er hielt eine Urkunde in seinen Händen. Ein Text informierte darüber, dass der Inhaber der Kranenbroicher Mühle, Jonas van Laack, stolz die Auszeichnung als Familiengastronom des Jahres 2014 entgegengenommen habe.
Sie betraten das Gebäude und blieben einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Zwei Türen in den mit Holz getäfelten Wänden waren verschlossen. Eine steile, schmale Treppe führte nach oben. Links davon befand sich ein Empfangstisch, hinter dem ein in sich zusammengesunkener, hagerer alter Mann saß. Er starrte die Neuankömmlinge mit weit aufgerissenen Augen an. Konrad brauchte einen Moment, um in dem ausgemergelt aussehenden Mann den beleibten Herrn van Laack vom Bild neben dem Eingang zu erkennen. Er trug ein viel zu weites Hemd, dessen Kragen von einer Fortuna Düsseldorf-Krawatte zusammengehalten wurde.
‚Er muss krank geworden sein,‘ dachte Konrad. Er räusperte sich. „Guten Tag. Mein Name ist Konrad Mork. Ich habe online ein Zimmer für zwei Personen reserviert.“ Der Blick des Angesprochenen wanderte kurz zu Nele. „Ah, Herr Mork“, sagte er mit einer dünnen Stimme. „Es freut mich, dass sie es trotz der Hitze gut zu uns geschafft haben.“ Der Hotelier öffnete ein Laptop, tippte ein paarmal auf der Tastatur herum und stand dann auf. „Ich darf sie bitten, mir zu folgen. Die Formalitäten können wir später noch erledigen.“ Er holte unter dem Tisch zwei Schlüssel hervor und übergab sie an Konrad. Jede Stufe mit Bedacht nehmend, begann van Laack die Treppe hinaufzusteigen. Die beiden Gäste tauschten einen ratlosen Blick aus und folgten dem Hotelier dann in die erste Etage. Sie gelangten in einen langen Flur. Zu beiden Seiten waren in regelmäßigen Abständen Türen zu sehen. Es war stickig und heiß. Konrad spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinablief, hinter seinen Schläfen begann es zu pochen. Anstelle von Nummern waren alle Zimmer in der Kranenbroicher Mühle mit Namen von Orten im Rheinland versehen. Van Laack blieb schließlich vor dem Xantener Zimmer stehen und bedeutete Konrad, die Tür aufzuschließen.
Der Raum dahinter war mit Teppichboden ausgelegt. Neben einem Bett und Nachttischen bestand das Mobiliar aus einem wuchtigen Kleiderschrank aus dunklem Holz und einem Sessel rechts neben der Tür. Helles Sonnenlicht fiel durch zwei geschlossene Fenster. Konrad sah eine weitere Tür zwischen Sessel und Bett und hob eine Augenbraue. Van Laack, der ebenfalls in den Raum eingetreten war, musste sein Erstaunen bemerkt haben, denn er erklärte: „Dies ist eine Verbindungstür zum Nebenraum, unserem Viersener Zimmer.“ Er trat auf die Tür zu und zeigte auf einen Riegel. „Keine Sorge. Die Tür ist auf beiden Seiten abschließbar. Niemand kann sich Zutritt zu ihrem Zimmer verschaffen. Dieses Gebäude ist mehrere hundert Jahre alt und nicht als Hotel erbaut worden.“ Nach einigen weiteren Erklärungen ließ der Hotelier seine Gäste in ihrem Zimmer allein.
„Was für ein Drecksloch, was für ein Mist!“ Nele ließ ihren Rucksack fallen und sah sich um. „Wir können hier nicht bleiben. Ich kann hier nicht atmen!“ Konrad öffnete ein Fenster. Nach der Beschreibung im Internet und den Kommentaren ehemaliger Gäste hatte er sich das Hotel auch ganz anders vorgestellt. Er fühlte sich auf einmal sehr müde und setzte sich auf die Bettkante. Nele zögerte kurz, setzte sich dann aber neben ihn. Sie sahen sich an.
„Wie wäre denn folgender Vorschlag?“ Konrad legte einen Arm um Nele. „Wir bleiben nur eine Nacht und fahren morgen nach dem Konzert nach Hause. Ich trinke nichts und kann dann fahren. Am Vormittag erkunden wir die japanischen Läden. Ich habe auch keine Lust, hier im Hotel zu bleiben. Lass uns in den Ort gehen und etwas essen. Wenn es dann kühler geworden ist, gehen wir zum Rhein. Das müsste von hier aus weniger als ein Kilometer sein.“
Immer noch wenig begeistert rang Nele sichtlich mit sich. „Na gut. Eine Nacht! Aber nur, weil ich auch müde bin und keine Lust habe, mich heute noch mit van Laack über eine Stornierung zu streiten.“ Sie küssten sich.
Konrad holte ihre Reisetaschen aus dem Auto und wenig später gingen sie Hand in Hand im Schatten hoher Bäume einen Weg entlang, der sie ins Zentrum von Kranenbroich führte.
Auf dem Marktplatz, der von Häusern gesäumt wurde, von denen keines jünger als zweihundert Jahre zu sein schien, fanden sie ein italienisches Restaurant Rossi e amici. Das gute Essen und kühles Bier sorgten dafür, dass sich ihre Laune schnell wieder besserte.
Gegen sechs Uhr machten Konrad und Nele sich eng umschlungen in Richtung Rhein auf. Es war immer noch heiß, aber die länger werdenden Schatten und die Wirkung des Peroni machten die Temperaturen erträglich. Laut google maps führte der direkte Fußweg zum Rhein zunächst zurück zur Mühle und dann ein Stück durch einen Wald.
Zurück bei der Mühle gingen sie um das Gebäude herum, um auf den Weg zu gelangen. Konrad schien es, als sei die Hitze hier in unmittelbarer Nähe des Hauses besonders drückend. Ein Trampelpfad führte am Mühlteich vorbei auf den Wald zu. Der Weg war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. „Ladies first“, ließ Konrad Nele den Vortritt und folgte ihr dann. Nach wenigen Schritten kamen sie an einen hölzernen Steg, der auf langen Pfosten vom Weg auf den Teich hinausführte. Erstaunt sah Konrad, dass der Steg über seine gesamte Länge auf trockenem Untergrund stand. Nele zeigte auf ein Holzruderboot, das neben den hohen Stelzen auf dem trocken gefallenen Boden des Mühlweihers lag. „Sieh‘ doch mal! Das ist ja krass!“ „Ja“, stimmte Konrad zu. „Der Wasserspiegel muss mehr als zwei Meter unter normal liegen. Das kann man am Ufer auf der anderen Seite gut sehen.“ Die beiden sahen zum kümmerlichen Rest des Mühlteichs hinüber. Das Wasser war grün vor Algen und schwappte dickflüssig um einige Enten, die sich auf der Oberfläche treiben ließen. Nele wies zur Mühle hinüber „Gut, dass hier niemand mehr sein Korn mahlen lassen muss.“ Konrad sah, dass das Mühlrad frei in der Luft hing. Dahinter waren gräuliches Mauerwerk und einige dunkle, höhlenartige Öffnungen auszumachen. Das Fundament der Mühle, vermutete Konrad. „Da sieht man, was mit Dürre gemeint ist.“ Nele holte ihr Handy hervor und machte ein paar Fotos. „Für Insta“, sagte sie erklärend.
Hinter dem Mühlweiher begann ein lichtes Waldstück. Rechts des Weges, der hier so breit war, dass sie bequem nebeneinander gehen konnten, war nach wenigen Metern ein verrosteter Eisenzaun zu sehen. Das Gelände dahinter sah wie ein verwilderter Garten aus. Brombeeren und Brennnesseln wucherten wild auf dem leicht hügeligen Grundstück. Scharen kleiner Insekten tanzten unter den Bäumen und Konrad und Nele mussten aufpassen, um nicht beim Gehen einige der Tiere zu verschlucken. Nach etwa einer halben Stunde führte der Weg um einen auffällig rund geformten Hügel herum. Die kleine Anhöhe war von Birken und Sträuchern bewachsen. An einigen Stellen am Fuße des Hügels war Mauerwerk aus grob gehauenen Quadern zu erkennen. Nele blieb stehen. „Davon habe ich gelesen. Das muss der Teufelsberg sein.“ Sie holte ihr Handy hervor und rief eine Seite auf. „Da steht, dass das hier die Reste eines römischen Wachturms seien.“ Konrad besah sich die bloßliegenden Steine genauer. „Besonders dämonisch sehen die Steine für mich aber nicht aus.“ Nele zuckte mit den Schultern. „Da steht auch noch, dass um 1540 ein Fürkäl, eine Art Feuerteufel, auf dem Hügel erschienen sein soll. Das ist rheinisch für Feuerkerl.“ Irgendetwas störte Konrad an diesem Ort. Er zog Nele mit sich, fort von dem Hügel im Wald „Ich möchte zum Wasser, solange es noch hell ist. Vielleicht kann man hier auch baden.“
Als sie den Rand des Waldes erreichten, lag vor ihnen eine weite, verdorrte Wiese, die nach etwa hundert Metern in ein Geröllfeld überging. Nur eine schmale Rinne war vom Rhein übrig. Konrad musste an eine Oase in der Wüste denken. Sie beschlossen, bis zum Wasser zu gehen und dann ein wenig am Rhein entlang zu wandern. Vielleicht fänden sie auf dem nun trockenen Flussbett ja auch etwas Interessantes. „Rheingold“, grinste Konrad, was ihm einen Knuff in die Seite einbrachte. Sie gingen los.
Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als sie sich schließlich dazu durchrangen, den Rückweg anzutreten. „Hoffentlich ist es in der Nacht erträglicher“, meinte Nele. Doch ihr Blick ließ erkennen, dass sie sich keine großen Hoffnungen machte.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Weg wiederfanden. Unter den Bäumen war es bereits dunkel. Von Westen her fielen scharf gebündelte Strahlen roter Abendsonne zwischen den hohen Baumstämmen hindurch. ‚Wie dämonische Fingerzeige‘, dachte Konrad. Eine Gänsehaut lief seinen Rücken hinab. Sie umrundeten den im rötlichen Licht daliegenden Hügel des Feuerteufels, gelangten schließlich an den Rand des Waldes und traten ins Freie. Die Sonne war nun endgültig hinter dem Horizont verschwunden und hell leuchtend stand der Abendstern am Himmel über Kranenbroich. Sie blieben einen Moment stehen und sahen über die Dunkelheit des leeren Weihers hinweg zur Mühle. Kein Licht war zu sehen und kein Geräusch drang aus dem schwarz und verlassen daliegenden Bau. Konrad hoffte, dass van Laack daran gedacht hatte, die Tür nicht abzuschließen. Sie begannen dem Uferpfad in Richtung des Hotels zu folgen. Auf halber Strecke blieb Nele stehen. „Was ist?“, fragte Konrad. „Da, siehst du das?“ Nele hatte geflüstert und zeigte in Richtung der Mühle. „Hinter dem Mühlrad.“ Konrad folgte der Aufforderung und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Vor dem schwarzen Hintergrund des trocken gefallenen Fundaments leuchtete ein rötlicher Lichtpunkt in der Finsternis.
„Was meinst du, was das ist?“, fragte Nele. „Ich glaube, durch das Absinken des Wasserspiegels ist das Fundament ausgetrocknet und hat Risse bekommen. Vermutlich ist das ein Raum im Keller und wir können hier die Beleuchtung sehen. Wir sollten van Laack morgen sagen, was wir gesehen haben. Dann kann er noch Reparaturen durchführen lassen. Sonst sieht es im Herbst, wenn das Wasser wieder steigt, echt doof aus für den Warhammer-Bastelkeller.“ Nele stieß ihm in die Seite. „Nicht jeder ist so ein Nerd wie du!“ Sie lachten und küssten sich.
Sie fanden die Tür unverschlossen vor. Allerdings mussten sie zu ihrem Leidwesen feststellen, dass der Einbruch der Nacht an der Hitze im Gebäude nichts geändert hatte. Die Luft stand förmlich im Flur. Sie betraten ihr Zimmer und öffneten die Fenster weit in der Hoffnung auf einen kühlenden, nächtlichen Luftzug. Anschließend fielen sie erschöpft auf das Bett und waren im Handumdrehen eingeschlafen.
Brennender Zorn loderte in seinem Innersten. Er war aus seinem langen Schlaf erwacht, als er spürte, dass sich etwas verändert hatte. Erst hatte er nicht gewusst, was es war, doch dann war es ihm klar geworden: Die Wände seines Gefängnisses waren trocken! Ja, das Wasser, das ihn gefangen gehalten hatte, war fort!
Noch war er zu geschwächt, um sich zu befreien, doch er spürte, wie seine Kraft zunahm. Und SIE wurden schwächer! Bald würde er frei sein. Frei, um wieder auf Strahlen reinen Lichts von Sonne zu Sonne zu reisen. Er bebte, vor Aufregung … und Zorn!
Mit einem Schrei fuhr Konrad aus diesem Traum auf. Sein Mund war trocken, sein T-Shirt klebte ihm am Körper. Er brauchte einen Moment, um zu wissen, wo er war. Er tastete im Bett neben sich nach Nele, aber seine Hand ging ins Leere. Etwas stimmte nicht. Das Beben, das er im Traum gespürt hatte, hielt an und nun hörte er auch, wie uralte Balken und Steine knirschend in Bewegung gerieten. ‚Ein Erdbeben! Wir müssen sofort hier raus!‘ Er knipste die Nachttischlampe an und sprang aus dem Bett.
Im rötlichen Schein sah er Nele an der Tür stehen. Sie drehte sich gerade zu ihm um und Konrad stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Neles Gesicht war blass und eingefallen. Die Augen lagen tief in dunklen Höhlen und die Haut spannte über den Wangenknochen. Ihr Haar klebte in Strähnen an ihrer Stirn. Ein Stoß erschütterte das Gebäude und ließ Putz und Staub von der Decke rieseln. Nele schrie auf. „Konrad, bitte hilf mir! Was passiert hier nur?“ Konrad starrte Nele an. Wieder bebte das Gebäude. „Das ist ein Erdbeben“, schrie er endlich. „Wir müssen hier sofort raus!“ Er machte einen Schritt auf Nele zu und packte sie am Arm, um sie mit sich zu ziehen. Sie ließ es geschehen und murmelte. „Ich habe geträumt… von Blut und Feuer.“
Sie erreichten die Tür und Konrad riss sie auf. Dicker, ätzender Rauch füllte den Flur. Rote Lichtstrahlen stachen durch Ritzen im Boden. ‚Feuer!‘. Durch das Beben musste irgendwo im Haus Feuer ausgebrochen sein. Konrad fühlte Panik in sich aufsteigen. Sie mussten hier raus! Ohne sie anzusehen, zog er Nele mit sich, nur um nach zwei Schritten wie versteinert stehenzubleiben. Trotz der allgegenwärtigen Hitze, durchfuhr Konrad eisige Kälte.
Den Flur hinunter in Richtung Treppe stand eine Kreatur, die direkt der Hölle zu entstammen schien. Schwarz verkohlte Haut spannte über dem Schädel. Die vertrockneten Lippen entblößten skelettartig gefletschte Zähne und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass sie nicht zu erkennen waren. Das Wesen trug ein viel zu weites Hemd und eine rote Fortuna Düsseldorf-Krawatte um den Hals. Wortlos hob es seine zu Klauen verkrümmten Hände und wankte auf sie zu. Diesmal war es Nele, die ihn rettete. Konrad spürte, wie er zurück gerissen wurde. Nele warf die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Das Beben war stärker geworden. Staub rieselte zwischen den Deckenbalken hindurch ins Zimmer. „Was?“, stöhnte Konrad. Nele öffnete den Mund, um zu antworten, da erbebte die Tür unter einem schweren Schlag, gefolgt von einem hässlichen, kratzenden Geräusch, als das Wesen vor der Tür seine Klauen über das Holz fahren ließ.
Gehetzt sah Konrad sich um. Das Fenster! Er stürzte zum Fenster und sah hinaus. Unter ihm führte die glatte Hauswand in die Tiefe. Aber unter dem Fenster des Raumes rechts neben ihnen konnte er in der Dunkelheit den Umriss des Mühlrades erkennen. Ein erneuter Schlag gegen die Tür begleitet vom Geräusch splitternden Holzes ließ ihn herumfahren.
„Er bricht durch!“, schrie Nele mit Panik in der Stimme. ‚Die Verbindungstür!‘ „Schnell, hilf mir mit dem Sessel“, schrie Nele. Sie schoben das Möbelstück vor die Tür. In dem Moment brach eine von brauner Pergamenthaut überzogene Klaue durch das Holz. Das Wesen knirschte mit den Zähnen und stieß einen schrillen Schrei aus.
Sie stürzten zur Verbindungstür. Mit zitternden Händen schob Konrad den Riegel zur Seite, nahm kurz Anlauf und brach die Tür mit der Schulter auf. Im gleichen Moment brach das Monster hinter ihnen durch und wankte mit einem kehligen Knurren auf sie zu.
„Schnell, ins Zimmer!“ Als beide im Nebenzimmer waren, stieß Konrad die Tür zu und stemmte sich dagegen. Ein Schlag gegen die Tür ließ einen heftigen Schmerz in seiner Schulter explodieren.
„Zum Fenster!“, presste er zwischen seinen Lippen hervor. „Das Mühlrad! Kletter‘ runter!“ Nele riss das Fenster auf. Sie zögerte kurz, doch ein Stoß, der das ganze Haus erzittern ließ, sorgte dafür, dass die sich am Fenstersims hochzog und mit den Füßen voran hinauskletterte.
Fieberhaft sah Konrad sich um. Wenn er seinen Widerstand aufgäbe, wäre das Ding über ihm, bevor er es zum Fenster schaffte. Da hörte er im Raum hinter sich ein ohrenbetäubendes Krachen. ‚Das Dach stürzt ein!‘ Ohne weiter nachzudenken, sprang Konrad in Richtung des Fensters. Hinter ihm flog die Tür auf und in einer Wolke aus rotem Staub taumelte die Kreatur ins Zimmer.
Von draußen schrie Nele: „Konrad, das ist zu hoch! Ich brauche Hilfe!“
„Warte, ich...“ Weiter kam er nicht. Die tief im Schädel liegenden, rot unterlaufenen Augen starr auf Konrad gerichtet kam die Kreatur auf ihn zu und holte aus. Er versuchte, dem Schlag auszuweichen, stieß aber im Rückwärtsgehen gegen das Bett. Konrad schrie vor Schmerz auf, als Klauen sein T-Shirt und die Haut auf seiner Brust aufrissen. Er verlor das Gleichgewicht und spürte, wie sich mit eisernem Griff die Klauen des Wesens um seinen Hals schlossen. Panik stieg in ihm auf. ‚Nicht! Ich will nicht sterben!‘
„Konrad! Hilfe!“, schluchzte Nele vor dem Fenster. „Ich kann mich nicht mehr halten!“ Mit letzter Kraft riss Konrad sein Bein hoch. Sein Gegner schrie auf. Der Griff um seinen Hals lockerte sich und es gelang Konrad, seinen Angreifer von sich zu stoßen. Dieser landete zwischen Bett und Wand auf dem Boden. Ohne nachzudenken, stieß Konrad das Bett mit aller Kraft gegen die Wand und warf sich dann herum, um das Fenster zu erreichen. Er strauchelte und musste sich am Fenstersims festhalten. Ein Balken brach krachend durch die Zimmerdecke und begrub das Bett unter sich. Hustend zog Konrad sich durch das Fenster ins Freie.
Im Erdgeschoss brannte es und im roten Feuerschein sah er Nele ans Mühlrad geklammert unter sich. Mit Panik in den Augen sah sie Konrad zu, wie er nun seinerseits am Rad hinabkletterte, bis er auf ihrer Höhe war. „Warte. Ich klettere runter und fang dich dann auf.“ Nele antwortete nicht, nickte aber. Als Konrad am unteren Rand des Mühlrades angekommen war, ließ er sich fallen. Der ausgetrocknete Boden war steinhart und Konrad spürte einen stechenden Schmerz im Knöchel. Fluchend kam er dennoch auf die Beine. Er sah nach oben. Da hing Nele!
„Lass jetzt los! Ich fange dich auf!“
„Ich kann nicht!“ Neles Stimme überschlug sich vor Panik.
„Du musst! Die Mühle stürzt in sich zusammen. Ich zähle bis drei, dann...“
Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte das Fundament hinter dem Mühlrad. Konrad wurde von einer Welle aus Hitze und Geröll ergriffen und mitgerissen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es ihm, als sehe er direkt in ein ausdrucksloses Gesicht aus reinem Feuer. Dann bekam er einen heftigen Schlag auf den Kopf und verlor das Bewusstsein.
Epilog
Aus den Aufzeichnungen von Konrad Mork. Stationärer Patient der Klinik und Poliklinik Psychiatrie und Psychotherapie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf:
„Was war es, dass Herrn van Laack erst auszehrte, dann in einen mörderischen Wahnsinn trieb und schließlich Nele in den Tod riss? Ich werde es nie genau wissen. War es einer jener Fürkäls, von denen es am Niederrhein heißt, sie lauerten bei Nacht auf Wiesen und Feldern, um sich späte Wanderer zu holen? […]
Seit jener Nacht bin ich nachdenklich geworden. Ich kann nicht mehr schlafen. […]
Der Niederrhein ist reich an alten Gemäuern auf einst sumpfigem Grund – Mühlen, Wasserburgen und einsame Weiler umgeben von düsteren Auwäldern. Wer kann sagen, welche uralten Schrecken der austrocknende Boden in den kommenden Jahren noch freigeben wird?
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