Lovecrafter Online – 102 – Rezension: Rigor Mortis Band 1 – Goldrausch
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AndreasGiesbert -
3. Januar 2022 um 12:00 -
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Faye Hell ist bekannt für eine Mischung aus Tiefgang und Obszönität. So beschreibt sie ihren Stil jedenfalls treffenderweise selber als die Vermengung von “subtile[m] Grauen mit expliziter Gewalt und Obszönität.” Und genau das finden wir auch in Goldrausch, dem ersten Band der Neuauflage von Rigor Mortis: Kunstvolle, poetisch gezeichnete Stimmung, kombiniert mit Gewalt, Pornographie und noch etwas mehr. Insofern kann man quasi als Triggerwarnung voranstellen, dass es hier mitunter heftig wird. Vergewaltigungen, absolute Demütigung, blutige Zerstörung. Wer das nicht ertragen kann oder will, sollte um das Buch einen kleinen Bogen machen, verpasst dann jedoch auch ein mitunter einfühlsames und in jeder Hinsicht einzigartiges Buch. Obwohl ich mich eigentlich lieber von Blackwood, Andara, Elbracht und anderen, eher harmlosen Autor*innen verschaudern lasse, habe ich mich auf die Herausforderung Hell eingelassen und bin nicht enttäuscht worden. Aber der Reihe nach …
Alaska: Goldrausch, Reisegruppen, Perversionen
Rigor Mortis führt uns mit allen Sinnen in die Eiseskälte von Alaska. Wie die Autorin im kurzen Bonus-Reisebericht schildert, ist sie zur Recherche selber in das ebenso bezaubernde wie lebensfeindliche Gebiet um den Yukon-River gereist, um sich von der eisigen Welt blenden zu lassen. Das merkt man den Beschreibungen der Region auch an. Faye beschreibt die Region mit liebevollen Blicken fürs Detail, die uns fast wie Touristen in die zauberhafte Eiswelt führen. Nicht zufällig ist einer der drei (bzw. vier) Fäden auch genau um eine solche Reisegruppe gewebt. Die Grazer Doktorandin Rosa Martin hat sich auf den Goldrausch am Yukon River spezialisiert und finanziert ihren Forschungsaufenthalt als Reisegruppenleiterin. Sie ist eine greifbare Identifikationsfigur, die uns mit der fremden Welt verbindet und die vielleicht schönsten Szenen produziert. Durch ihre Augen – und die der Touristengruppe – führt sie uns in die Natur Alaskas und Dawson City: die zweitgrößte Stadt am Yukon River. Und das mit unter 1.500 Einwohner*innen. Sagen wir es mal so: das Yukon Territorium ist nicht gerade das menschenfreundlichste Gebiet.
Darüber hinaus ist Rosa aber eben auch eine Verbindung zur Geschichte um den Goldrausch. Und die beginnt in Rigor Mortis um 1896 mit zwei Goldgräbern, die von einem ominösen Mann in Schwarz heimgesucht werden, der sich zum Kaiser von Dawson entwickeln wird. In diesem zweiten Faden verfolgen wir das Schicksal der Stadt Dawson, das von diesen drei Charakteren auf finstere Weise beeinflusst wird. Durch die Augen von armen Trunkenbolden, einem Sheriff und einem Priester beobachten wir, wie die vom Goldrausch heimgesuchte Stadt in finstere Abgründe gezogen wird. Eine Geschichte von der Rose uns wohl mehr erzählen könnte als die meisten anderen.
Aber dann wäre da noch der dritte Faden. Gesponnen um den Showmaster Richard Darius der seine Gäste mit Blut und widerwärtigsten moralischen Dilemmata in den Wahnsinn treibt. Seine Late Night Horror Show zieht das Publikum durch permanente Grenzüberschreitung in den Bann und lässt einen Personenkult um einen Menschen entstehen, der abstoßender kaum sein könnte.
Wird es beim Strang um Rosa mal blutig, mal explizit sexuell und im Alaska des ausgehenden 19. Jahrhunderts brutal, so ist es die Erzählung um den Showmaster, wo es wirklich heftig wird. Wir werden in die Hirnwindungen eines Narzissten gezogen, der seine Opfer physisch und psychisch bis zum Letzten entmenschlicht und quält. Hier wird es teilweise schwer genau hinzulesen und es wird ein Ton gesetzt, der mich immer wieder an meine Grenzen geführt hat.
Horror mit Hirnflüssigkeit
Und da sind wir wieder bei der Mischung vom Anfang dieser Besprechung. Auch wenn die Geschichte um den Showmoderator in Band 1 noch nicht befriedigend eingewoben wird, so wird doch klar, dass hier kein bloßer Voyeurismus bedient wird. Vielmehr zeigt uns Faye die dunklen Seite der kapitalistischen, mediengeilen Welt und nutzt Schock und Egomanismus als Vehikel für Gesellschaftskritik. Das hat mir den Lesegenuss der fraglichen Stellen nicht viel erträglicher gemacht, gibt den Passagen aber einen Sinn. Faye Hell nutzt die Abstiege in die Hölle nicht als bloße Spannungstreiber, sondern als Teil eines literarisch anspruchsvollen Programms. Und das kann überzeugen. Auch wenn es vereinzelte Stellen gibt, an denen ihr die poetische Sprache noch etwas aus der Feder gleitet, erweist sie sich als Meisterin beider Welten. Sie stellt uns ihr Alaska bildhaft vor Augen und hat mich förmlich an die Buchseiten geklebt. Rigor Mortis hat Pageturner-Qualitäten und weist weit über Pulp und Hardcore-Horror hinaus, obwohl es sich beiden Genres als Stilmittel bedient. Faye Hell ist – soviel als Zwischenfazit – eine Autorin, die man kennen sollte, wenn man sich für anspruchsvollen Horror interessiert. Hier verbindet sich Liebe zur Sprache mit Horrorexpertise, makabrer Kreativität und Leidenschaft.
Kosmischer Horror?
Für Lovecraftfans dürfte sich aber auch die Frage stellen, ob das Buch mit kosmischem Horror aufwarten kann. Knapp vorweggenommen: Rigor Mortis lässt sich nicht in ein Genre quetschen und ist wohl eher einem visuellen härteren Horror verbunden als dem subtil atmosphärischen Horror, für den Lovecraft steht. Dennoch ist Lovecraft einer der ersten Einflüsse, den Hell benennt und es zeichnet sich im Laufe des Bandes ein Motiv urzeitlichen Grauens ab. Dieses wird in der neu verfassten Bonuserzählung Neetseekhaadaatl'oo weiter ausgebaut. Der unaufschreibliche Name steht dabei nicht für einen großen Alten, sondern ist einer nativen Sprache entnommen. In der Bonusgeschichte erzählt Faye Hell einen nativen Mythos, der sich um eine Flusslauscherin dreht, die sich mit Kräften der Urzeit konfrontiert sieht, die im Hintergrund des Buches stehen. Hier schlägt die Autorin einen ganz anderen Ton an und erweist sich als flexible Stilistin. Auch die Zusatzgeschichte kann allerdings über den vielleicht einzigen echten Mangel des Buches nicht hinwegtäuschen. Auch wenn Band 1 auf eine natürliche Klimax hinausläuft, sind die einzelnen Fäden noch nicht befriedigend verwoben. Es werden Anker ausgeworfen, welche die einzelnen Charaktere und Handlungsfäden miteinander vertäuen, das große Ganze bleibt aber noch weitgehend im Dunkel. Es wird Zeit, dass Band 2 das Licht der Welt erblickt …
Link zum Buch: https://www.fayehell.com/books