Lovecrafter Online – 085 – Rezension: Die Erloschenen
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AndreasGiesbert -
6. September 2021 um 12:00 -
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In unregelmäßigen Abständen muss sich Streetworker Victor Neithardt mit verstörenden Kadenzen herumschlagen. Die Häuserfassaden Wiens (und der Welt?) verschwimmen, Schatten beginnen ein Eigenleben anzunehmen und insbesondere die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft werden von Geistern einer anderen Dimension geritten. Als Sozialarbeiter ist es an Neithardt für ein Mindestmaß an Sicherheit zu sorgen - was gar nicht so einfach ist. Denn die Kadenzen haben es an sich, die Stromversorgung bis auf die zentralen, intensiv geschützten Kernsysteme, lahmzulegen. Das Neithardt in solchen Situationen zum Pager statt zum Diensthandy greift hat auch noch einen zweiten guten Grund: Alle Displays zeigen in diesen Zeiten eine obskure, unwiderstehliche Fernsehsendung, empfangen aus einem Schwarzen Loch, die große Teile der Bevölkerung fest in Ihren Bann zieht. Das sich einer der Erloschenen als Medium für die in einem Autounfall tragisch verstorbene Partnerin Neithardts entpuppt, setzt eine Nachforschungsreihe in Gang, die Neithardt zunehmend näher an das Geheimnis der rätselhaften aber schon als Normalität anerkannten Kadenzen bringt …
Surreales Wien
Dass ich so unvermittelt mit dem zentralen Mysterium der „Erloschenen“ einsetze, hat einen einfachen Grund. Schon aus den ersten Kapiteln, weitgehend sogar aus der Leseprobe geht die Abnormalität der Kadenzen klar hervor. Während die Grundmerkmale des Phänomens also nicht lange Geheimnis bleiben, schwingt immer noch ein Rest Unerklärliches mit, dass sich auch bis zum Ende des Buches nur in Vermutungen klären lässt. So gelingt es Autor Erik R. Andara seine Vision eines von Kadenzen geplagten Wiens durchweg mysteriös und spannend zu halten, ohne sich auf bloße Unerklärlichkeit zurückzuziehen. Am Ende wartet kein Fluch, kein Böser Gott oder eine andere pseudo-mystische Erklärung, sondern eine surreale Stimmung die tief genug in naturwissenschaftliche Phänomene eingebettet ist, um „realistisch“ zu sein.
Überhaupt geben sich Surrealität und Realität in dem Buch die schwere, kunstvoll gefertigte Türklinke in die Hand. Sind die Szenen während einer Kadenz durch eine eigene, verstörende Logik gekennzeichnet, die bis ins Absurde reicht, sind die Szenen außerhalb dieser Kadenzen durch einen greifbaren Realismus gekennzeichnet. Als leidenschaftlicher Wahlwiener präsentiert uns Andara sein Wien auf eine bis in die letzte Fuge ausgestaltete Weise. Straßen, Speisen, Orte und andere Eigenheiten der roten Stadt werden bis in sprachliche Eigenheiten durchdrungen und effektiv eingesetzt. Zusammen mit den wenigen, dafür aber dreidimensional gestalteten Charakteren, wirkt die Geschichte um Neithardt zum Greifen nah. Dass diese Mischung gelingt und der fast unspektakulär langsame Schreibstil Andaras nicht langweilt, sondern das Buch zumindest bei mir zum echten Pageturner gemacht hat, zeugt von dem Talent, dass der ambitionierte Vielleser und studierte Dramaturg Andara einbringt. Sein Stil gehört für mich zur intensivsten und präzisesten Arbeit mit Worten, welche die deutschsprachige Nachwuchsphantastik zu bieten hat.
Konzentrierte Erzählstruktur
Neben der präzisen Arbeit am Wort kann auch die Handlung überzeugen. Völlig auf Neithardt fokussiert und somit mühelos zu folgen, nutzt Andara kaum ein Dutzend Charaktere, um das Mysterium der Erloschenen ein Stück weit zu erhellen. Als zweite Protagonistin im Bunde muss dabei die wechselhafte Polizistin Rosalia Sinibaldi gelten. Ihr temperamentvolles Wesen ist ebenso wie ihr Name gewöhnungsbedürftig und hat mir fast einen Strich durch den Realismus gemacht. Etwas zu laut, bunt, keck tritt die gestandene Kontrollinspektorin in Szene und es dauert einen Großteil des Romans, bis die Struktur hinter der Fassade deutlich wird, die die Figur Sinibaldi plausibel macht. Solche Arbeit am verborgenen Mauerwerk ist es indes, die Andaras Werk auszeichnet. Was sich auf den ersten Lektüreblick leicht und klar liest, wird auf den zweiten und dritten ungleich komplexer. Wer genau hinguckt, kann die über 5 Jahre brodelnde Arbeit am Stoff des Romans durch die Worte scheinen sehen und findet weitere Verzweigungen und Bedeutungen, die sich erstaunlich mühelos ins Gebäude der Geschichte einfügen. Solche Tiefenebenen können zu umfassender Reflexion und auch offenen Fragen oder Einspruch führen, es zeigt sich aber zumindest, dass Andara nichts dem Zufall überlassen hat und er eben diesen Raum zum Weiterdenken anbietet. Umso beeindruckender, dass einem die Geschichte diesen Blick nicht aufdrängt und Die Erloschenen auch einfach als Unterhaltungsliteratur überzeugen können.
Will man Andaras Erloschenen einem Genre zuschlagen, kommt man am ehesten beim Magischen Realismus heraus. Kunstvoll verbindet sich Phantastik mit Realismus, wobei Andaras Hintergrund in der Horrorliteratur immer wieder durchlugt. Auch wenn es weder Lovecraft noch Andara gerecht wäre, Die Erloschenen umstandslos einer cthuloiden Tradition zuzuschlagen, können Kenner des Mythos problemlos solche Motive erkennen. Es ist aber das Weiterdenken des kosmischen Horrors und die von Lovecraft geforderte „gewisse Atmosphäre atemlosen und unerklärlichen Schreckens angesichts äußerer, unbekannter Mächte“ (frei übersetzt von Reckermann) und kein Pantheon, dass diese Verbindung erlaubt. Erik R. Andara nimmt seine mythologische Inspiration aus Tibet und der nordischen Tradition und nicht aus Providence. Und dennoch knüpft sein dichtes Stimmungsgewebe an den genuinen Gehalt modernen Horrors seit Blackwood an.
Fazit
Ich darf Erik R. Andaras Schaffen nun schon seit einigen Jahren verfolgen. Damit geht sicherlich auch eine voreingenommene Begeisterung einher, die ich in einer Besprechung nur mit Mühe ausblenden kann. Es wäre also sicher verfehlt den Erloschenen eine uneingeschränkte Leseempfehlung auszusprechen und es zum Horrorbuch des Jahres zu verklären (was es für mich persönlich ist). Es ist aber sicherlich gerecht, Die Erloschenen als ein Ausnahmewerk zu bezeichnen, dass sich weit ab von Genrekonventionen und ausgetretenen Pfaden bewegt. Man muss sich auf die langsame und teils mit österreichischen Redewendungen garnierte Erzählweise einlassen wollen und der sehr eigenen Spannungsstruktur des Buches Luft zum Atmen geben. Lässt man sich darauf ein, läuft man jedoch Gefahr, dass einem selber die Luft wegbleibt, weil man sich unwiederbringlich im engen Geflecht eines verdunkelten Wiens wiederfinden wird und mit Victor Neithardt um die Wirklichkeit der Welt fürchtet. Und genau darum geht es anspruchsvollem, kosmischen Grauen doch, oder …?
Bezugsmöglichkeit und Homepage des Autors: https://cityofandara.wordpress.com/